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Alte Nester: Zwei Bücher Lebensgeschichten - 14

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  ich blickte nur durch die Türspalte. Sie standen Arm in Arm an dem alten
  väterlichen Herde, und die Schwester hatte dem Bruder wieder den Kopf
  auf die Schulter gelehnt, und sie sahen stumm in die hüpfenden Funken
  des Heimatherdes. Als ich in die Stube zurückkam, sagte der Vater
  Sixtus:
  »Recht hat das Kind, Fritze. Wir werden wohl eine ziemliche Zeit
  brauchen, um mit allen unseren Erlebnissen ins klare zu kommen. Da frage
  nur den Vetter Just, der ist jetzt doch schon über ein Jahr aus seinem
  Amerika zurück; aber wir sind immer noch nicht mit ihm fertig. Manchmal
  ist es mein Wunder, wie viel das Mädchen aufs Tapet zu bringen hat,
  sobald er die Nase in die Tür steckt. Die Zwei kann man schon einen
  ganzen Sommertag beieinander sitzen lassen, ohne daß ihnen der
  Unterhaltungsfaden abbricht. Na, ihr seid recht gute Freunde geworden,
  nicht wahr, Just Everstein?«
  Ich aber, der ich hier sitze und schreibe, dachte wunders, wieviel ich
  von jenem inhaltreichen Abend zu Papier zu bringen haben würde, und
  wundere mich doch nun gar nicht, daß ein so kurzes Kapitel daraus
  geworden ist.
  
  
  Achtes Kapitel.
  
  »Wie süß das Mondlicht auf den Hügeln schläft!«
  Gegen elf Uhr abends ging er auf, der Mond, und in der längst
  aufgegangenen Sommersonne am Morgen unter. Um elf Uhr hatte uns der Alte
  gute Nacht gewünscht und sich von seinem heimgekehrten Sohne in seine
  Kammer führen lassen. Erst nach einer geraumen Weile hörten wir Ewalds
  Schritt wieder auf der Treppe. Sehr schweigsam und nachdenklich nahm der
  Herr von Schloß Werden wieder an unserem Tische Platz und sprach wenig
  mehr. Auch Eva wurde schweigsamer, rückte aber näher zu dem Bruder und
  hielt von neuem fortwährend seine Hand zwischen der ihrigen. Es war, als
  ob für diesen Abend nunmehr jedes Wort zwischen uns vier ausgesprochen
  worden sei. Nur die Uhr im Winkel redete weiter; als sie aber
  Mitternacht schlug und der weiße Schein des Mondes plötzlich voll in die
  Fenster fiel, da erschraken wir alle, und der Vetter Just stand auf und
  sagte:
  »Nun wird's doch wohl Zeit, daß ich reite! Was werden sie auf dem Hofe
  sagen, wenn ich ihnen fast das Morgenrot heimbringe?«
  »Sie liegen wohl alle in einem guten Schlafe und kümmern sich wenig
  darum, wieweit es an der Zeit ist,« meinte Eva.
  »Frau Irene nicht,« sagte der Vetter; Ewald Sixtus aber sah rasch aus
  seinem trüben Sinnen empor, tat jedoch keine Frage.
  »Ich habe alles versucht, sie darin zur Vernunft zu bringen,« fuhr der
  Bauer vom Steinhofe fort, »aber was hat es mir geholfen? Nichts!... Und
  wenn ich es um sie verdient hätte, so wäre dies zu gut, zu lieb, zu
  sorglich und zu dankbar. Was habe ich ihr denn viel helfen können in
  ihrer schlimmen Lebensnot und Angst? Du, Fritz, bist ja auch dabei
  gewesen und kannst bezeugen, daß ich nichts als den guten Willen gehabt
  habe. Und das Kind haben wir ja doch auch begraben müssen, und hätte ich
  auch mein Herzblut hergegeben, -- sage selbst, Fritze, daß keine Hülfe
  dafür war! Jetzt aber sitzt sie gottlob auf dem Steinhofe in Ruhe und
  Sicherheit, soweit beides hienieden möglich ist; aber nun ist es fast,
  als sei ich ein krankes Kind und müsse gepflegt werden und süß behandelt
  werden wie ein solches. Die alte Jule war darin schon arg genug, nachdem
  wir von neuem auf dem Hofe beisammen waren; aber Frau Irene gibt ihr
  nicht das geringste nach. Geraten sich die beiden Guten einmal in die
  Haare, so könnt ihr sicher sein, daß es über mich geschieht. Sie sehen
  aus nach mir, sie erwarten mich bei dem schlechtesten Wetter draußen vor
  der Tür. Sie rücken mir den Stuhl zurecht, und ihr einziger Jammer ist,
  daß ich keinen Schlafrock trage und sie mir also mit dem nicht
  entgegenkommen können. Die Alte ist wohl zu alt, um bis nach Mitternacht
  auf mich warten zu können; aber die beiden anderen lieben Augen wachen,
  und in Irenes Stube brennt in dieser Nacht die Lampe bis in den Morgen
  hinein. Ich habe es natürlich versucht, böse darüber zu werden, aber
  geholfen hat es gar nichts! O, und es geht doch auch nichts über solch
  ein liebes Licht aus dem Fenster des alten Heimatnestes. Wie wird sich
  die Frau Irene wundern und von ihrem Buche aufsehen, wenn ich diesmal
  heimkomme und ihr zur Entschuldigung die Nachricht mitbringe, wer heute
  hier in der Försterei das alte Nest wiedererreicht hat. Jetzt aber im
  Galopp und im Mondschein gen Bodenwerder! Nur selten hat mir der Mond so
  ganz zur rechten Zeit am Himmel gestanden wie in dieser Nacht.«
  Ewald Sixtus stützte den Kopf mit der Hand und beschattete die Augen mit
  der Hand.
  »Durch das Dorf führst du doch noch deinen Gaul am Zaum, Just,« sagte
  ich. »Durch das Dorf Werden begleite ich dich bis auf die Straße nach
  Bodenwerder. Es ist freilich eine helle Nacht, und ein segensreicher
  Zauber liegt hoffentlich über uns allen. Ich begleite dich noch ein
  Stück Weges, Vetter Just. Es ist lange her, seit ich zum letzten Mal die
  Heimat im Mondenschein liegen sah.«
  Im Mondenschein sattelte der Vetter auf dem Hofe der Försterei seinen
  Fuchs. An den hohen Ulmen des Hofes, denen es so viel besser geworden
  war als den stolzen Bäumen um Schloß Werden, regt sich kein Blatt.
  Schatten und Licht lagen still auf dem Boden. An dem Hoftor gaben Ewald
  und Eva noch einmal dem Bauer vom Steinhofe die Hand, -- die des lieben
  Mädchens hielt er eine geraume Weile fest und sagte dann nur zögernd:
  »Nun, so komm, Fritz Langreuter. Nach einer Reise wie die deinige
  solltest du freilich schon längst im Bett liegen --«
  »Und recht angenehm von euch hier und euren Zuständen träumen! O, du
  Egoist, und du willst wachend hoch zu Roß währenddem durch die Mondnacht
  jagen und mit kitzelndem Behagen deinen Spaß über den Berliner Doktor
  haben?«
  »Ganz gewiß nicht, Fritze« meinte der Vetter ehrlichst. »Solange du
  willst, führe ich den Gaul am Zügel hier an deiner Seite. Vielleicht
  wäre es sogar recht gut, du gingest den ganzen Weg mit mir und
  erzähltest an meiner statt der Frau Irene, wen du heute nach Schloß
  Werden begleitet hast. Ach, Fritz, du weißt zu sprechen und deine Worte
  zu stellen, ich aber nicht! Mir muß alles abgefragt werden, und mir ist
  dann stets, als wäre alles, was dann herauskommt, als sei es durch
  Zufall gekommen. Sieh, alter Kerl, das Gegenteil hiervon ist's eben, was
  ihr Gelehrten alle Zeit vor uns voraus habt, die wir zum Nachdenken
  kommen so wie ich, heute bei Regen, morgen bei Sonnenschein, heute
  hinter dem Pfluge und morgen auf dem Stoppelfelde bei den letzten
  Erntegarben. Es ist gar keine Logik darin, und dann am wenigsten, wenn
  man sie am nötigsten braucht. Und daß man fast zehn Jahre lang in den
  Vereinigten Staaten den Schulmeister gespielt hat, hilft gar nichts
  dazu. Und Fritz, Fritz, lieber Fritz, da wir jetzt wieder zwischen uns
  beiden allein sind -- ich habe das Schwabenalter längst hinter mir und
  -- und Eva Sixtus will meine Frau werden! Du hast es wohl schon lange
  gemerkt, aber -- gottlob -- jetzt habe auch ich es dir gesagt!« ...
  »Und ich wünsche dir von ganzem Herzen Glück dazu,« sagte ich, des
  Mannes brave, starke Hand nehmend und drückend. Er aber sah mich im
  Mondlicht noch einmal einen kürzesten Augenblick so an, als ob er ganz
  und gar das Gegenteil von diesem meinem Wunsche zu hören erwartet habe,
  und dann tat er einen Seufzer wie aus befreiter Brust und rief:
  »Und das ist mir das Liebste, was mir nach ihrem Jawort begegnen konnte,
  daß auch du mir Glück wünschest. Ich bin nun leider schon so ein
  zerzauster alter Kerl, und sie ist immer noch jung, und du bist auch
  noch jung, Fritzchen -- wenigstens -- wenigstens recht viel jünger als
  ich; und wenn ich in meiner jetzigen Ruhe und meinem Glück und Behagen
  an die alten Tage denke, wo ihr junges Volk zum Besuch nach dem
  Steinhofe kamt, so -- -- ach, Fritz, Fritz Langreuter, du mußt es doch
  wohl dir selber sagen, was ich in diesem Moment dir sagen möchte! Aber
  die Frau Irene weiß es auch und hat Eva geküßt und -- mich auch,
  wirklich und wahrhaftig! Wenn du sie gleichfalls fragen willst: sie
  billigt auch unser Vorhaben, unsere alten Tage in Friede und Glück und
  in der alten Freundschaft mit der ganzen alten Heimat zu verleben. Sie
  hat nicht gemeint, daß es zu spät sei; -- sie, die soviel mehr als wir
  alle übrigen zusammen in der boshaften, stürmischen Welt erlebt hat, und
  es also auch wohl am besten verstehen muß.«
  »Sie hat vollständig recht, Just! Aber von uns allen bist auch du nur
  der einzige, der nie etwas zur unrichtigen Zeit erleben kann, dem alles
  recht und richtig gekommen ist im Leben, Segen wie Ungemach. Ja, so
  gnädig waren dir, und dir von uns allen allein, die Götter, als sie dir
  deine Wiege auf den Steinhof stellten und dich nachher an den Weg
  setzten --«
  »Mit offenem Munde und um Maulaffen feil zu halten! Ei ja, es wundert
  mich freilich heute noch, wieviel Abenteuer der Mensch erleben kann,
  ohne daß er etwas dazu tut. Manchmal ist das gar mein Kummer und
  Gewissensbiß sozusagen; dann fühle ich es, wie als ob ich eine Stelle in
  mir hätte, wo ich im größten Tumult wie ein Stück Holz werde, während
  die anderen sich weiter abängsten.«
  Das stille Licht des Mondes lag über uns und um uns, und der Vetter Just
  sprach, ohne es zu wissen, von dem Unterschied zwischen den vornehmen
  Naturen innerhalb der Menschheit und den gewöhnlichen. Er drückte sich
  eben nur schlecht aus, wenn er da von einem ton- und klanglosen Stück
  Holz sprach, wo er von der Stelle in seiner Seele hätte erzählen sollen,
  wohin keine Welle des vorbeifließenden Tages schlagen konnte.
  »Ihr werdet ein schönes Leben haben, und mich laßt ihr -- alle dann und
  wann an eurem Herde als euren Historiographen niedersitzen,« sagte ich
  leise und tief gerührt. »Für Kinder, wie wir waren, als wir zu dir auf
  den Steinhof zu Besuche kamen, werdet ihr freilich nicht erzählen und
  werde ich nicht wieder _erzählen_.«
  In und an dem Dorfe Werden hatte sich in den Jahren, während ich es
  nicht sah, nichts verändert. Es dehnte sich genügend weit in die Länge
  aus, daß wir vollkommen Zeit hatten, während wir es durchwanderten, uns
  alles das mitzuteilen, was ich eben hier niedergeschrieben habe. Von den
  Bewohnern störte uns auch niemand dabei; sie lagen sämtlich im tiefen
  Schlafe. Es saß keiner bei der Lampe wach, -- selbst der Pastor und der
  Kantor nicht. Der Mondenschein hatte das Reich für sich allein, und das
  war gut; für mich sowohl wie auch für den Vetter Just Everstein. Wären
  wir bei hellem Tage und unter dem Zudrängen alter Bekanntschaft durch
  das alte Nest im Grünen gewandelt, so würden wir sicherlich mehr Mühe
  und Plage gehabt haben, mit unseren Gefühlen und Stimmungen ins Reine
  gegeneinander zu kommen. Sonderbarerweise aber dachte ich in dieser
  hellen, schönen Nacht, auf dieser Wanderung durch das friedliche
  vergessene Heimatdorf, nicht ohne ein Gefühl stiller Sicherheit an die
  große Stadt Berlin, meine kleine Stube und meine Tätigkeit, kurz an das
  Dasein, das mir dort zuteil geworden war. Es lag ein Gefühl von Wehmut
  darin, aber doch zugleich eine innerlichste Beruhigung: _sie, die
  anderen alle_ konnten und durften heimkehren in das alte Leben, wann sie
  wollten, sie waren da zu Hause; _ich aber nicht_ oder doch nie mehr so,
  wie sie noch zu jeder Zeit sein konnten. Resignation nennt man das mit
  einem Fremdwort, das wir wohl nicht so leicht aus dem deutschen
  Sprachgebrauch loswerden. Die deutsche Welt darf manchmal noch so süß in
  Mondenlicht und in weiche Redensarten gebettet liegen: wir wollen das
  scharfe, aber gesunde Wort festhalten und es uns durch kein anderes zu
  ersetzen suchen.
  Am Ausgange des Dorfes nahmen der Vetter und ich für diesmal von neuem
  Abschied voneinander und trennten uns gottlob im besten Einvernehmen. Er
  schwang sich ein wenig schwerfällig auf seinen Fuchs und ritt gen
  Bodenwerder; ich wandelte langsamen Schrittes und unter einigem
  Selbstgespräch nach der Försterei zurück.
  Hier saßen Ewald und Eva wieder bei der Lampe am Tische und hatten wohl
  das Ihrige gesprochen während meiner Abwesenheit. Das gute Mädchen
  mochte auch wohl wieder einige Tränen vergossen haben, doch schmerzhafte
  waren es nicht gewesen. Ein wenig befangen lächelnd sah sie aus ihren
  lieben Augen zu mir auf; doch ich reichte ihr schnell die Hand und
  sagte:
  »Ich habe dem Vetter Just schon Glück gewünscht, Eva, nun laß du es auch
  dir von mir wünschen. Du weißt es auch schon, Freund Ewald, was für eine
  neue Freude dem Steinhofe von unserem Geschick zugedacht ist?«
  »Ja, sie hat es mir so ruhig gesagt, wie sie uns immer alles ruhig
  sagte. Darin hat sich an ihr nicht das mindeste geändert. Aber sie
  passen nur desto besser zueinander, und die Jahre, die sie gebraucht
  haben, sich zu finden, sind ihnen ja ebenfalls nur etwas ganz
  Selbstverständliches gewesen. Nicht wahr, mein Herz, mein
  Herzensmädchen, um ein Glück, das aus den Wolken fiele, würdet ihr eine
  geraume Zeit herumgehen, ehe ihr es vom Boden aufhöbet. Doch ob ihr
  nicht darum gerade die Glücklichen seid, gewesen seid und sein werdet,
  das ist an dem heutigen Abend für mich eine Frage, die einen sein
  wüstes, wirres Lebenswerk noch einmal wie im Fluge von neuem tun läßt.
  ^Och arrah, arrah^, komme ich noch einmal auf die Welt, so tue ich
  vielleicht auch meine Arbeit, ohne auf das Glück zu zählen, das aus den
  Wolken fällt! Selbst auf die Gefahr hin, daß man in Bodenwerder und Dorf
  Werden samt Umgegend selbstverständlich sagen wird: Auf das Glück, das
  aus den Wolken fällt, hat der Schlingel immer einzig und allein
  gerechnet, -- ja, da sieht man's nun!«
  »Mir ist das Herz so voll, daß ich gar nichts zu sagen weiß,« flüsterte
  Eva. »Lieber Friedrich, -- lieber Bruder Ewald, wir müssen alle, alle
  glücklich und zufrieden sein. Das Schicksal kann es ja nicht böse mit
  uns meinen, es hätte uns sonst wohl nicht diesen Abend geschenkt. Wir
  sind wieder alle zu Hause, und das ist doch die Hauptsache! Morgen
  wollen wir von dem Schloß Werden und von Irene sprechen -- wir haben ja
  eigentlich noch von nichts vernünftig geredet. Nimm es nur nicht übel,
  Fritz: im Grunde bist du doch der einzige von uns gewesen, der alle
  seine fünf Sinne ordentlich beieinander halten konnte!«
  »Und da kräht wirklich und wahrhaftig der erste Werdener Hahn den Morgen
  an,« sagte ich, um doch etwas zu erwidern. »Glück auf in der Heimat,
  Freund Ewald!«
  Ich hatte ihn durch einen Schlag auf die Schulter von neuem aus seinem
  nachdenklichen Hinbrüten zu wecken.
  »Was hast du gesagt?« fragte er zerstreut.
  »Wir wollen doch noch den Versuch machen, vor Sonnenaufgang unter dem
  alten Heimatsdache einen glücklichen Traum zu träumen.«
  »Ich habe alles oben in Ordnung für euch gebracht; aber geht leise auf
  der Treppe, daß ihr den Vater nicht stört,« bat Eva Sixtus.
  
  
  Neuntes Kapitel.
  
  Als ich am anderen Morgen erwachte, fand es sich, daß ich länger in den
  Tag hinein geschlafen hatte als irgendein anderer im Hause; und sie
  hatten mich ruhig schlafen lassen, und zwar mit vollem Recht, denn auf
  meine tätige Teilnahme an dem, was jetzt die Zeit in der alten Heimat
  brachte, kam leider am wenigsten an. Ich durfte ausschlafen und brachte
  dadurch höchstens die Hausordnung ein wenig in Unordnung; aber dafür war
  ich ja jetzt der Historiograph von Schloß und Dorf Werden sowie vom
  Steinhofe und hatte, wie der Vater Sixtus sich ausdrückte, »von allen
  immer am meisten Tinte an den Fingern gehabt«.
  Und seltsam und -- wie schon gesagt! es ging darob eine gewisse
  Umwandlung meiner Stimmungen ins Heitere und Zufriedene in mir vor. Ich
  merkte es, daß meine einsamen Lehrjahre doch ihre Frucht getragen
  hatten: es verstand keiner von ihnen es so gut wie ich, sich seine
  Stimmungen »zurecht zu machen«. Zurecht machen! ich finde kein besseres
  Wort dafür, und sämtliche philosophische Systeme sind gleichfalls darauf
  erbaut.
  So sah ich, hörte und schreibe ich jetzt nieder, und allesamt meinten
  sie ganz verwundert:
  »Nein, dieser Fritz! Nein, dieser Langreuter! Nein, dieser Herr Doktor!
  Dieser Herr Doktor Langreuter! Wacht er jetzt erst so auf, oder ist er
  immer so gewesen? Im Grunde ist das ja der Gemütlichste, Heiterste und
  Gleichmütigste von uns allen! Wie sich doch der Mensch verändern kann!«
  Lassen wir auch dieses und vorzüglich das letztere mit Gelassenheit auf
  sich beruhen. Es hat noch kein Mensch wirklich ausfindig gemacht, wie
  weit und wie sehr sein Nachbar im Raum und in der Zeit sich verändert
  habe, während man selbst glaubte, ganz derselbe geblieben zu sein.
  »Wo steckt Ewald?« fragte ich, als ich endlich zum Kaffee herniederstieg
  und nur die Sonne, die Hunde, den Förster und seine Tochter in der
  Wohnstube fand.
  »Er ist zum Vorsteher und holt sich die Schlüssel zu seinem Schloß,«
  sagte Eva.
  »Sage nur dreist: zu seinem bezauberten Schloß, Kind,« meinte der alte
  Herr, ein wenig schadenfroh lachend. »Nun laß ihn die Nuß knacken, die
  er sich vom Busch heruntergeholt hat! Mein Junge Herr von Schloß Werden?
  's ist die Möglichkeit! Kein Mensch begreift, was das heißen soll, und
  ich am allerwenigsten. >Sind Sie ganz fest überzeugt, daß er nicht
  verrückt ist, Herr Förster?< hat mich der Doktor Spindler, der Advokat
  aus Bodenwerder, erst vor acht Tagen noch gefragt.«
  »Und was haben Sie dem Doktor geantwortet, Herr Oberförster?«
  »Du, was habe ich ihm denn eigentlich geantwortet?« wendete sich der
  Alte an seine Tochter.
  »Darf ich dir noch eine Tasse Kaffee einschenken, lieber Fritz?« fragte
  Eva. »Ach, es war ja noch vor eurer Heimkehr, daß der Herr Notar
  Spindler neulich bei uns vorsprach.«
  »Wie die Gräfin sich zu der Geschichte stellen wird, soll mich am
  meisten wundern,« brummte der Alte, eine gewaltige Rauchwolke in die
  wundervolle Sommermorgenluft hineinblasend und einen Kohlweißling, der
  sich eben in das Fenster verirrte, halb dadurch erstickend. In demselben
  Augenblick trat der Sohn des Hauses, hochrot vom raschen Gange und
  sonstiger Aufregung und sich bereits so früh bei seinem Tagewerk den
  Schweiß von der Stirn trocknend, wieder ein.
  »Sieh da bist du ja auch, Langreuter! Guten Morgen, ^old boy^.
  Hoffentlich hast du gut geschlafen und angenehm geträumt in der ersten
  Nacht zu Hause.«
  »Ich habe erst ziemlich gegen Morgen zu den Versuch gemacht, lieber
  Freund,« erwiderte ich lächelnd. »Zum wenigsten freue ich mich
  gegenwärtig unendlich, endlich einmal wieder hier zu sein und solche
  Versuche, wie du sagst, zu Hause anstellen zu können.«
  Der Freund setzte sich zu uns; er versuchte es, gleichmütig auszusehen
  und heiter in das Gespräch mit dreinzureden, doch es gelang ihm
  schlecht. Man sah wohl, daß der erste schöne Morgen in der Heimat nicht
  leicht auf ihm lag. Von Zeit zu Zeit schüttelte er leise den Kopf, kaute
  an dem Schnurrbart und summte eine seiner lustig-melancholischen
  irischen Weisen vor sich hin. Es arbeitete etwas in ihm, dem er noch auf
  keine Weise eine rechte Handhabe abzugewinnen vermochte. Jetzt sprang
  er, von innerlicher Unruhe getrieben, von neuem auf, schritt einige Male
  durch das Gemach, kam zu uns zurück, stützte beide Hände auf den Tisch,
  sah uns der Reihe nach an, als wolle er für ein schwer abgehendes
  Geständnis vor allen Dingen sich unserer gutmütigen Teilnahme
  versichern, klopfte sodann mit dem Zeigefinger der Rechten scharf auf,
  um unsere ganze Aufmerksamkeit noch mehr wachzurufen, und ächzte:
  »So dumm -- so verloren, verraten und verkauft wie in diesem Moment bin
  ich mir in meinem ganzen Leben noch nicht vorgekommen! Hätte ich in
  meiner Jugend mehr Prügel bekommen, so wär's mir jetzt vielleicht
  wohler, Herr Vater. Ob der Katzenjammer vorübergehend oder von Dauer
  ist, beste Schwester, kann ich gegenwärtig natürlich noch nicht wissen;
  aber für den Augenblick bin ich fest überzeugt, daß ich mich --
  gründlich verspekuliert und all meine Trümpfe vergeblich ausgespielt
  habe. Herrgott, da kommt das Dorf, um uns zu begrüßen zu unserer
  Heimkehr, Fritze! Evchen, ich bitte dich um alles in der Welt, geh hin
  und sag ihnen, wir wären schon wieder abgereist und ließen sämtliche
  gute Nachbarn und liebe Freunde herzlichst grüßen.«
  »Was sich wohl schwer tun lassen möchte,« meinte der Vater Sixtus
  aufstehend und seinem Sohne jetzt ganz zärtlich auf die Schulter
  klopfend. »Ja, ja, mein Söhnchen, es ist mancher Papst geworden, dem der
  heilige Stuhl nachher ziemlich heiß geworden ist. Kommt nur 'rein,
  Gevatter Timme! ja, 's ist richtig, hier sind die jungen Leute aus der
  Fremde zurück, und mein Junge da ist Herr von Schloß Werden, ... soviel
  noch davon übrig ist. Und da ist ja auch der Vorsteher! Alle herein,
  herein! Wir haben eben noch nach allen vier Wänden hin nach gutem Rat
  gewittert. Räume die Kaffeekanne ab und die Tassen, Mädchen; der Doktor
  ist item fertig. Jetzt nehmen wir einen Jägerschluck auf die vergnügte
  Gelegenheit, nicht wahr, Kantor Dröneberg? Dem Pastor warten die Insel
  Irland und die allmächtige gelehrte Stadt Berlin nachher freundlich und
  persönlich auf. Kannst auch auf die Rauchkammer steigen, Evchen, wenn du
  aus dem Keller glücklich wieder herauf bist. Wir hatten eben allesamt
  doch eine kleine Stärkung der Seele und des Leibes notwendig; nicht
  wahr, Ewald? nicht wahr, Fritze Langreuter? Vivat Dorf Werden und das
  Schloß dazu! Nur schade, daß wir den Vetter Just aus Neu-Minden jetzo
  nicht bei uns in unserer angenehmen Mitte haben. Setzt euch, Nachbarn
  und liebe Freunde, wenn ihr mit dem Händeschütteln endlich zu Rande seid
  und euch die zwei -- Herren da genug und andächtig beguckt habt. Ei ja
  freilich, liebe Freunde, so was kommt wahrhaftig nicht alle Tage nach
  Hause, und es verlohnt sich wohl, daß man darum ausnahmsweise mal seine
  eigene Arbeit hinlegt, um das bei einem guten Stück Schinken und einem
  echten alten Korn sich genauer zu betrachten. Verwechselt sie nur nicht!
  Dies hier ist der Berliner Doktor, und das da -- na, das ist denn
  wirklich mein Junge, der Ewald Sixtus, der sich als ausländischer
  Baumeister kurioserweise wirklich ein Vermögen gemacht hat und sich
  nachher doch noch kuriosererweise an seinen alten Vater erinnert hat und
  gestern abend angekommen ist, um hier bei uns, wie er eben sagt, seinen
  höchsten Trumpf auszuspielen. So dumm von wegen dessen, was die nächste
  Zeit hier bei uns passieren wird, bin ich auch noch niemals in meinem
  Leben gewesen. Da sitzt der Junge, und ich denke immer, ich sehe noch
  unseren seligen Herrn Grafen da sitzen und nach seiner Gewohnheit seine
  Schnupftabaksdose auf dem Tische hin und her drehen.«
  »No, so'n alter Spuk!« meinte der Vorsteher, der auch noch ein Junge
  gewesen war, als den Herrn Grafen der Schlag rührte und mit ihm das alte
  adelige Haus Everstein so tief zu Falle kam. »Da vermeine ich doch, daß
  wir jetzo einen neuen Hahn auf den alten Mist gekriegt haben. Zeit ist
  Zeit, und was paßt, paßt, und was nicht paßt, paßt nicht; wenn das Dorf
  den alten Kasten hätte brauchen können, so hätte ihn einer von uns
  längst um ein Butterbrot; aber wir haben dem Herrn -- Ewald, dem Herrn
  Ingenieur Sixtus, am Ende gern die Vorhand gelassen. Was er
  herausschlägt, soll gerne ihm gehören; es wird keiner in der Gemeinde
  sein, der es ihm mißgönnt. Als er heute morgen die Schlüssel bei mir
  abholte, habe ich sie ruhig hergegeben; denn ich weiß ja, daß das
  Schriftliche darüber ebenso ruhig in Bodenwerder beim Notar Spindler
  liegt. Da brauchte ich keine weitere Sicherheit. Herrje, nun guck aber
  einer, jetzt haben wir bald das halbe Dorf, als ob es der Hirte
  zusammengetutet hätte, hier auf dem Försterhofe zur Gratulation
  versammelt.«
  Dem war in der Tat so. Was in der Stube keinen Platz mehr fand, das
  drängte sich wenigstens vor der Haustür und versuchte in die Fenster zu
  sehen. Alte und Ältere erneuerten frühere gute Bekanntschaft. Was wir
  als hübsche junge Werdener Schulmädchen gekannt hatten, das wurde uns
  als mehr oder weniger wohlgediehene Hausfrauen zugeschoben.
  »Na, ziere dich nur nicht, Hanne; bist ja früher ganz vertraulich mit
  den Herren gewesen!«
  Kinder, die während unserer Abwesenheit das Licht der Welt erblickt
  hatten, wurden uns zu Dutzenden vorgeführt, oder auf den Armen
  hingehalten. Wir vernahmen von ortseingeborenen Taugenichtsen beiderlei
  Geschlechts, die gleich wie wir in die Fremde gegangen waren, aber sich
  »Gott sei Dank bis anjetzt noch nicht wieder im Dorfe hatten blicken
  lassen«. Zutunlich, -- verschämt-zutraulich waren sie allesamt; das
  Reichlichste aber, was wir von ihnen bekamen, das war guter Rat; --
  freilich, wenn ich hier sage _wir_, so ist das wohl nicht ganz richtig.
  Da lief ich nur so beiläufig mit, und die Hauptperson war
  selbstverständlich Freund Ewald Sixtus, und der hatte bald alle seine
  Geduld und Liebenswürdigkeit zusammenzusuchen, um nicht mit den
  Ellenbogen sich Raum zu machen durch die Freundschaft und Bekanntschaft
  der Mannen von Dorf Werden.
  Ich muß ihn aber loben, den Herrn von Schloß Werden. Er hielt all dieser
  Weisheit, Klugheit und Schlauheit gegenüber so sanft und sanftmütig
  still, daß er jedweder anderen kochenden Ungeduld als ein wahres Muster
  von Selbstbeherrschung und Ergebung hingestellt werden durfte. Jedwedem
  einzelnen, der ihn mehr oder weniger vertraut am Knopf nahm und ihm
  verblümt auseinandersetzte, wie dumm er gewesen sei, und was er
  eigentlich an Schloß Werden erhandelt habe, versprach er aufs
  glaubwürdigste, ihn sobald als möglich auf seinem Kothofe in der
  Abenddämmerung zu besuchen, um das Genauere über die Sache zu vernehmen.
  Der Vater Sixtus schenkte mit immer unverhohlenerem Wohlbehagen
  fortwährend im Kreise am Tische ein und sah immer mehr aus, als kitzele
  ihn jemand. Der Tabaksqualm wurde ungeachtet der offenen Fenster und Tür
  immer dichter, und Eva Sixtus -- zog mich auf einmal in den Winkel dicht
  an die alte Wanduhr, die der Vetter Just so vortrefflich wieder in Gang
  gebracht hatte, und flüsterte:
  »Fritz, es ist auch aus meinem Bruder -- aus Ewald ein guter und
  vornehmer Mann geworden. O, wie es auch kommen wird, lieber Fritz; wir
  kommen alle noch zurecht im Dorfe und auf dem Steinhofe und mit dem
  verzauberten Schloß da drüben. Ich muß gleich wieder die Treppe hinauf,
  um noch ein paar Würste aus dem Rauche zu holen; aber es ist doch wie
  ein Märchen, und ich sehe klar wie in einem Spiegel mich und uns alle!
  O, es ist schön, daß ihr nach Hause gekommen seid, und vor allem, daß
  mein Bruder seinen Herzenswillen durchgesetzt hat (wenn er sich derweile
  auch nicht um uns kümmern konnte!), und daß Irenes Heimatshaus keinem
  Fremden mehr gehört. Sie kann nun darüber entscheiden, und ich könnte
  wohl sagen, wie ich es mir denke, wie es kommen wird; aber du siehst
  selber, ich habe wirklich in diesem Tumult keine Zeit dazu, und was ich
  dir da eben gesagt habe, weiß ich selber kaum; aber du kannst dir wohl
  denken, daß ich den Bruder seit gestern abend keinen Augenblick aus den
  Gedanken frei gegeben habe, und ich bin so sehr glücklich über ihn, und
  ich bin fest überzeugt, der Vater freut sich auch!«
  Nach und nach verlief sich der freundschaftliche Schwarm der Dörfler
  wieder, und nur ein paar gänzlich beschäftigungslose Leibzüchter blieben
  fest sitzen, da sie einmal saßen; aber die Unterhaltung zwischen ihnen
  und dem Förster geriet doch wieder in das gewohnte Geleise. Der
  Tabaksqualm verzog sich ein wenig, Eva räumte den Tisch ab, und Ewald
  seufzte, reckte und dehnte sich, packte mich plötzlich stumm am Arme,
  führte mich vor die Haustür, wo ich auch seufzte und mehr als einen
  befreienden Atemzug tat, und wo er sagte:
  »Komm mit, ^honey^! Was haben wir denn heute eigentlich für ein Wetter?«
  Ich sah den wunderlichen Freund ziemlich erstaunt ob dieser Frage an; er
  aber meinte:
  »Mir tanzen alle Farben vor den Augen. Rot, grün und gelb schwimmt es
  mir vor dem Gesichte; und ich habe eine bittere Ahnung, daß ein recht
  trübseliges Grau aus alle dem bunten Wirrwarr werden wird. O Doktor, wie
  einfach blau sah ich einmal das alles -- nämlich dieses alles hier um
  uns herum! Ach, Fritz, ich fürchte, ich fürchte, es war eine Täuschung,
  es war eine Dummheit von mir! Sie wird sich nicht hinsetzen wollen an
  dem Herde, den ich ihr in ihres Vaters Hause wieder aufbauen wollte!
  ^Dammy^, Langreuter, wie ganz anders sieht sich so was aus der Ferne an
  als in nächster Nähe! Komm mit nach dem alten Neste! Den Schlüssel habe
  ich im Schlosse stecken lassen.«
  
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