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Alte Nester: Zwei Bücher Lebensgeschichten - 16

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  verschlungenen Gezweig. Nicht alle Pfade liefen noch wie in unserer
  Jugendzeit durch den Forst, aber der Fluß -- der Fluß ging noch seinen
  alten Weg; ich aber ging diesmal über die Brücke bei Bodenwerder und
  verließ mich nicht mehr auf den Kahn, welchen vordem der Vater Klaus
  stets so mürrisch-wohlgefällig zu unserem Dienst aus dem Uferschilf und
  Röhricht hervorzog. Auch das war sehr fraglich, ob ich den guten Alten,
  seine Fischerhütte, sein lustig romantisch Herdfeuerchen und sein
  morsches Fahrzeug noch am Rande der Weser finden würde. Über sechzig
  Jahre war er schon zu unserer Zeit alt gewesen, aber unterwegs tat es
  mir doch leid, daß ich mich nicht nach ihm erkundigt hatte, und fast
  wäre ich noch umgekehrt.
  Wie andere gelassene Leute gelangte ich über die Brücke bei Bodenwerder
  von einem Ufer auf das andere und auf den Weg nach dem Steinhofe.
  Der zog sich noch durch die Felder wie sonst. Mir war es, als müsse ich
  jeden Dornbusch an seinem Rande wiedererkennen und dürfe ruhig auf seine
  Identität schwören; doch dies war wohl ein Irrtum. Ich habe es
  beschrieben, wie wir als Kinder auf diesem Pfade an heißen Sommertagen
  müde wurden und uns nach dem Baumschatten, dem kühlen Grase im
  Grasgarten und nach der guten Verpflegung des Hofes sehnten; ich habe es
  geschildert, wie wir den Vetter auf einem Steine am Wege auf
  Menschenschicksale wartend fanden, und -- auf _den_ Stein durfte ich
  dreist schwören: es saß wiederum jemand darauf, in seine Träume
  verloren, auf Menschenschicksale wartend und die Schritte, die sich auf
  dem heißen, sonnigen, steinigen Wege näherten, überhörend.
  Auf dem Feldquarz, unter den Disteln und Nesseln, zwischen die einst der
  Vetter Just Everstein verlegen greinend seine lateinische Grammatik
  versteckt hatte, als wir ihn nach unserer Art jubelnd anschrien, saß
  unter dem wolkenlosen blauen Sommerhimmel, ihr schönes müdes Haupt mit
  der Hand stützend, der Gast des Vetters Just, Irene von Everstein.
  Ich sah sie niedergleiten am frühen frischen Morgen aus unseren
  schwankenden Märchennestern im Grün, hinab auf die tauige, blitzende
  Wiese; ich sah sie elfenhaft uns vorangleiten durch das Waldesdunkel;
  ich hörte sie lachen auf dem Fluß und sah sie ihre Hand in die rinnenden
  Wellen tauchen: erzählte uns nicht einmal vor langen Jahren der Vater
  Klaus auf der Überfahrt von einer, die wohl weit von oben her zugereist
  sein mußte, weil sie, nachdem er sie aus dem Schilf ans Land geholt
  hatte, niemand kannte im Lande?
  »Lassen Sie das Schaukeln lieber auf dem Wasser, junge Herrschaften! Die
  alten Bretter unter uns sind doch wohl allgemach 'n bißchen brüchig
  geworden, und das dreht sich gerade hier in Wirbeln, und der Untiefe ist
  nicht gut zu trauen. Ich möchte um alles nicht, daß die Herrschaft zu
  Hause es mir zuschieben könnte, wenn ich die jungen Herrschaften nicht
  heil ans Land brächte.«
  Ich sprach sie leise an:
  »Guten Tag, liebe Irene.«
  Sie fuhr zusammen und empor; doch als sie mich erkannt hatte, stand sie
  nicht auf, sondern blieb sitzen auf dem Stein am Wege und reichte mir
  mit einem traurigen Lächeln die Hand in die Höhe.
  »Du bist es, Fritz? Wie kann man die Leute so erschrecken!... Aber es
  ist wohl nicht deine Schuld, sondern meine und meine Torheit. Wie kann
  man sich so ins freie Feld setzen und sich die blendende Sommersonne auf
  den Scheitel und in die Augen scheinen lassen, ohne für seine besten
  Freunde blind und taub zu werden? Das ist aber gut von dir, daß du
  gekommen bist, der Vetter wird sich sehr freuen; -- er kam gleich in der
  Nacht mit glänzenden Augen, um es zu verkünden, daß -- du wieder im
  Lande seist.«
  Sie sprach die letzten Worte nur zögernd; ich hielt ihre Hand noch fest
  und sagte:
  »Ich bin aber nicht allein in die alte Heimat zurückgekommen, Irene.«
  Da zog sie mir die Hand weg, erhob sich nun und erwiderte erst nach
  einer geraumen Weile:
  »Ich weiß durch den Vetter Just Bescheid über alles.«
  »Über alles?... Über alles doch wohl nicht!«
  »Doch!« sagte sie, und das Wort kam kurz und hart heraus. »Wir stehen
  hier jetzt in der hellen heißen Sonne des Mittags, und es ist mir lieb
  so und ganz recht. Wir wollen nicht den Schatten und das freundliche
  Dach des Freundes suchen, um uns behaglicher und langatmiger über
  Schicksal und Schuld auszulassen --«
  »Irene?!«
  »Ich höre gern einmal wieder meinen Namen mit so freundlicher besorgter
  Stimme auch von dir rufen, Friedrich; -- o, ich weiß es wohl, ihr alle
  meint es sehr gut mit mir und habt so viel Geduld; ich aber habe nichts
  für euch, als daß ich euch sage, wie es mir zumute ist; und -- um das
  Herz ist's mir, als hätte ich weiter nichts in der Welt, als daß ich
  mich gegen euch wehre, ... gegen euch alle!« ...
  Wie verstohlen hatte der Vetter Just den alten Broeder, die Grammatik,
  in der er alle Weisheit der Welt vermutete, einst unter dem Stein da und
  zwischen den Disteln und dem Wegelattich versteckt; -- wie hatten Ewald
  und Irene gelacht, als sie das zerlesene Buch doch hervorzogen: nun
  hielt mir heute Irene Everstein das Blatt für Blatt mit Tränen getränkte
  Buch, über welchem ich sie jetzt überrascht hatte, offen hin.
  Ganz nahe beugte sie sich zu mir und flüsterte mehr, als daß sie sprach:
  »Sage ihm, daß ich alles weiß, was er für mich getan hat, um mich getan
  hat! Er hat sein Leben daran gesetzt, und er hat nicht nach rechts und
  nach links gesehen, sondern nur rückwärts nach der Stunde, in der wir,
  ich und er, Abschied voneinander nahmen. Ich bin das Weib eines anderen
  Mannes geworden, und er hat seinen Willen durchgesetzt, um mich zu
  demütigen und zu dem Geständnis meiner Schuld gegen ihn zu bringen ...«
  »Nein, nein! Das ist nicht so! Irene Everstein, das ist wahrhaftig nicht
  so!« rief ich.
  »Das ist doch so!« antwortete sie kopfschüttelnd, aber ganz sanft.
  »_Sieh_, Freund, er und ich haben uns immer zu gut gekannt, um nicht
  besser als all ihr übrigen zu wissen, wie es um uns steht. Es ist auch
  ganz das Richtige, was er getan hat, und ich gönne ihm seinen Sieg und
  seinen Triumph; -- ich freue mich, daß er so stark und so tapfer gewesen
  ist und im Stillschweigen! wäre ich seine Schwester, wie unsere liebe
  Eva, so wäre mein Glück vollkommen! Aber ich bin nicht seine Schwester
  -- ich bin nicht sein Weib geworden -- sieh, Fritz Langreuter, die Sonne
  steht uns klar und hell über den Köpfen, und in ihrem Scheine spreche
  ich zu dir klar und hell, und eine alberne frauenzimmerliche Närrin bin
  ich nie gewesen: ich gehörte ihm zu, und er gehörte zu mir von Gottes
  und Rechts wegen, seit wir unseren Kinderhaushalt im Spiel in den grünen
  Büschen von Schloß Werden aufschlugen! Er aber weiß das, und jetzt, da
  meine Jugend dahin ist, und da ich als Bettlerin bei dem guten,
  barmherzigen, weisen Mann, dem Vetter Just, hier auf dem Steinhofe
  sitze, da ich bin, was ich bin, kommt er -- der Unbarmherzige, und ich
  fühle seine tapfere treue Hand wie mit einem bösen zornigen Griff und
  Schütteln an meiner Schulter! Mir gehört heute deines Vaters Haus,
  deinetwegen gehört es mir; ich habe in der Fremde, im Stillschweigen, in
  der Arbeit, die lange, lange Zeit durch, dich keinen Augenblick aus
  meinen Sinnen und Gedanken freigelassen, nun nimm deine Kraft zusammen
  und vergiß und sei glücklich; wir wollen uns von neuem einrichten in den
  Ruinen, mit keinem Wort und keinem Blick will ich dich je daran
  erinnern, daß wir in Ruinen wohnen! Und nun -- rede du mir dagegen,
  Fritz, und sage, es hat keinen Sinn, was du sprichst, Irene, du sprichst
  nur aus deinem kranken, verwirrten Gemüte in den hellen, gesunden,
  lichten, stillen Tag hinein, weil du in deiner Unruhe und Angst eine
  Stimme -- deine Stimme hören möchtest.«
  Sie hatte recht; es war recht schwer, ihr etwas zu erwidern. Während ich
  nach Formeln, Phrasen suchte und für hundertfältiges Ja und Nein ein
  erlösendes Wort suchte, schritt ich wieder mit Ewald Sixtus durch die
  Gänge, Stuben und Kammern von Schloß Werden, rüttelte an verrosteten
  Türgriffen, drückte mit dem Knie die verquollenen, widerspenstigen Türen
  auf und sah scheu auf die Fußtapfen, die wir hinter uns zurückließen in
  dem Staube, der den Boden bedeckte.
  Er hatte recht, der Freund: es war nicht dasselbe, wenn er Schloß Werden
  gewann und Just Everstein den Steinhof wiedergewann! Schlafendes Leben
  läßt sich wieder aufwecken, aber Totes läßt sich nicht lebendig machen;
  und _Schloß Werden war tot_, war tot auch für das Kind des Hauses und
  für den, der sein Herzblut darum gegeben hätte und seinen ganzen Willen
  gegeben hatte, das Rad zurückzudrehen und der Frau auf dem Steinhofe zu
  sagen:
  »Komm und sieh, was ich für dich und mich habe tun können« ...
  Das war nichts; aber in dieser heißen, blendenden Mittagsstunde, nach
  dem letzten Worte Irenes zuckte es mir eben durch Hirn und Herz: »Aber
  das ist ja auch nichts, und die Hauptsache ist es ja einzig und allein,
  daß sie es wissen und es deutlich sagen können, wie es ihnen zumute ist.
  Alles andere bedeutet nichts, und die Nester, die sie in die Zweige der
  Nußbüsche an der Hecke bauten, gelten ebensoviel wie die Mauern von
  Schloß Werden. Auf schwankendem Gezweige, zwischen Himmel und Erde
  schaukeln wir alle; aber am meisten dann, wenn wir am tiefsten in die
  Erde graben, um einen festen Grundstein für die Burg zu legen, in der
  wir mit unserem Glück zu wohnen wünschen.« Irene kämpfte mühsam mit
  ihren Tränen; mich aber überkam allgemach immer mehr die Gewißheit, daß
  hier doch noch nicht alles aus und zu Ende sei; wie es aber sich zuletzt
  schicken mochte zwischen diesen zwei stolzen, widerspenstigen Seelen,
  wer konnte das sagen?!
  Wie aber schickte es sich, daß die Jugendfreundin gerade in diesem
  Augenblick meine Hand fester nahm und mir zuflüsterte:
  »Nicht wahr, Fritz, es ist doch auch gut so, wie sich das Verhältnis
  zwischen dem Vetter Just und unserer Eva gestaltet hat?«
  »Ja!« sagte ich, und ich sprach keine Unwahrheit, wenn ich hinzufügte,
  daß ich meinesteils vollkommen damit einverstanden sei. Habe ich es
  nicht schon gesagt, daß ich der größte Egoist von allen diesen
  Menschenkindern geworden war und mir am meisten die Fähigkeit gewonnen
  hatte, allein zu bleiben und -- dann und wann auf Verlangen ruhig den
  anderen ihre Ansicht zu bestätigen oder gar sogenannten guten Rat zu
  geben?...
  Vielleicht hätte ich aber doch nicht so klar und gelassen bejahend auf
  diese zwischen Tränen hervorspringende Frage geantwortet, wenn es nicht
  die Hauptperson in diesen Lebensgeschichten gewesen wäre, welcher
  gegenüber ich mein Recht, nein zu sagen, aufgegeben hatte.
  Ihre Augen hastig trocknend, rief Irene:
  »Da kommt der Vetter!« und wir wendeten beide uns ihm rasch zu, beide
  froh, daß er dieser kurzen, bitteren, schmerzensreichen Unterhaltung auf
  dem schattenlosen Feldwege ein Ende machte.
  Er kam von seinem Gehöft, von seinem in so ganz anderer Weise als Schloß
  Werden wiedergewonnenen Erbsitz auf dieser Erde. Auch ihn sah ich jetzt
  zum ersten Mal in der hellen Mittagssonne der Heimat, und sie änderte
  nichts daran, sie stellte es nur in ein helleres, freudigeres und
  sozusagen verständigeres Licht: in seinen gemütsruhigen, gesunden Jahren
  paßte und gehörte er ganz und gar zu Eva Sixtus, und ich änderte nichts
  an dem Faktum!
  Es lag in jedem seiner Schritte etwas wie eine Bürgschaft für den
  ferneren guten, stillen, hülfswilligen Lebensweg der beiden Leute. Mit
  den buntfarbigen Phantasmagorien, mit den Schmerzen und Tränen der
  Jugend hatte die lächelnde Sonne, die auf seiner Stirn und seinem
  Hausdache lag, freilich schon längst nichts mehr zu schaffen; aber
  nichtsdestoweniger ist und bleibt sie etwas sehr Gutes und
  Wünschenswertes in dieser Welt der Verwirrung, des Nebels und des
  Landregens.
  »Das ist gut, daß du wenigstens da bist,« sagte der Vetter Just
  Everstein.
  
  
  Dreizehntes Kapitel.
  
  »Und das Quadrat der Hypotenuse ist immer noch so groß wie die Summe der
  Quadrate der beiden Katheten,« rief ich; es ging nicht anders. Wie einer
  der grünen Zweige, auf denen sich unsere Kindheitsnester wiegten, hing
  der ^Magister matheseos^ aus der Vergangenheit in die Gegenwart hinein;
  ich mußte danach greifen und nicht bloß nach ihm, sondern nach allem,
  was an Blüten und Früchten sonst dran hing.
  Und es war wohlgetan. Zum ersten Male glitt etwas gleich einem Lächeln
  über Irenes Gesicht.
  »Wie wunderlich,« sagte sie, »daß wir einst kamen, um dich auszulachen,
  Just, und uns heute noch daran als an unsere glücklichsten Minuten
  erinnern. Auch an Eva haben wir mit unserer Kinderlustigkeit wohl arg
  gesündigt; aber das war wohl vor hundert Jahren --«
  »Nicht ganz so lange ist es her!« meinte der Vetter Just; doch Irene
  Everstein, seinen Arm nehmend, rief:
  »Für dich und -- deine Braut wahrhaftig nicht, aber für uns andere. Sieh
  nur den Fritz Langreuter an, wie er mir recht gibt und was für ein
  verrunzelt ernsthaft urväterlich Gesicht er zu seinem Seufzer macht.
  Gewiß und wahrhaftig, ihr allein seid jung geblieben, Just und Eva; --
  kreischend lachen und jauchzen wie wir konntet ihr nie; nun dürft ihr
  heute lächeln, und wir dürfen das jetzt so wenig für eine Beleidigung
  nehmen als ihr damals unser Lachen. Nun komm aber, Just, wir wollen dem
  Berliner Doktor hier endlich einmal wieder den Steinhof zeigen; es ist
  doch hundert Jahre her -- mehr als hundert Jahre, seit er durch sein
  gastfreundlich-freudiges Tor einging. Wie oft er das freilich im
  Schlafen und Wachen im Traum tat, kann ich nicht wissen.«
  Ja, da lag der alte Hof, der echte, rechte Bauernsitz, die deutsche
  Heimstätte des gelehrten Bauern Just Everstein vom Steinhofe im vollsten
  Glanze der Sommersonne, das heißt, soviel augenblicklich, nachdem wir
  den altbekannten Weg bis zu dem altbekannten Zaune zurückgelegt hatten,
  von ihm zu sehen war. Es war die Zeit der Heuernte, und bis ans Dach,
  schier bis hinauf an das Fenster der Giebelstube des Vetters lagen die
  duftenden Haufen aufgetürmt, und der Zufuhr von allen Seiten schien kein
  Ende zu sein.
  »Auf unserem steinigen Ackerlande bauen wir wie sonst, was darauf passen
  will,« seufzte der gelehrte Bauer, um sodann behaglich hinzuzufügen:
  »Ja, da ist der Steinhof wieder, Fritz Langreuter, und ich glaube, ich
  habe nunmehr wirklich daraus gemacht, was zu machen war. Man will sich
  eben immer von seinen liebsten Freunden am liebsten loben lassen, sei es
  wegen seines Lateins, seiner Mathematik oder seiner Landwirtschaft. Also
  lobe mich nur dreist heraus! Mit meiner Vorfahren Ackerboden habe ich
  auch mit allen meinen amerikanischen Erfahrungen wenig anzufangen
  gewußt; aber an eine rationelle Ausnutzung unseres Wiesenlandes hatte
  vor mir keiner gedacht; ich aber habe manchen guten Morgen zugekauft,
  und es trägt sich aus.«
  Lächelnd stieß er mich in die Seite:
  »Du weißt es ja wohl, daß ich immer eine Vorliebe für das grüne Gras und
  das weiche Heu gehabt habe, nämlich für das Langhin-drein-sich-legen. So
  kommt man denn stets zu seinen Lieblingsneigungen zurück; -- lache nur,
  Horaz hat's: ^Naturam expellas furca^ und so weiter, soviel Latein weiß
  ich noch! Das war ein Satz bei Römern und Griechen und ist es auch bei
  uns neuen geblieben. Klettre über, wühle dich durch; -- die Haustür
  findest du hinter dem Haufen an der alten Stelle, und -- hör nur -- da
  sind sie in gewohnter Weise scharf in der Unterhaltung -- gegeneinander.
  Taub sind sie alle beide ein bißchen, und zu sagen haben sie sich
  natürlich immer was, -- Jule Grote und Mamsell Martin meine ich! Na, auf
  das Gesicht freue ich mich, was meine Alte über dich machen wird. Weißt
  du noch, für das liebe Fritzchen drüben von Werden hielt sie immer eine
  Extrapartie von Pfeffer, Salz und Essig in ihrer Natur bereit; denn
  darauf ließ sie sich jeden Tag totschlagen: wenn ein Mensch und
  nichtsnutziger studierter Taugenichts von Jungen den dummen Jungen,
  ihren Just, auf dem Gewissen hatte, so warst -- du das.«
  »Ist das wahr, Irene?« fragte ich, mich zurückwendend, doch die Freundin
  war uns im Rücken abhanden gekommen, ohne daß ich es gemerkt hatte.
  »Das ist jetzt ihre Art so,« sagte der Vetter Just, »sie wird sich schon
  wiederfinden lassen. Hättest du es wohl für möglich gehalten, daß die
  Gute, Wilde so lärm- und menschenscheu hätte werden können? Aber sie
  hatte verweinte Augen! Ihr habt wohl schon die paar Augenblicke der
  Unterhaltung am Wege nach Möglichkeit ausgenutzt? Das ist recht, denn im
  Grunde habe ich dich dazu hergerufen; aber nun komm fürs erste ins Haus
  und sieh zu, ob du die alte Herberge am Wege noch wiedererkennst. Glaube
  nicht, daß mir das etwas Natürliches und Selbstverständliches ist. Einen
  um den anderen Morgen wache ich auf und wundere mich, mich _so_ wieder
  zu Hause zu finden. Naturgeschichtlich besteht es ganz und gar nicht zu
  recht, daß jeder Vogel wieder in dasselbe Nest fällt, in welchem er
  flügge geworden ist, sondern ganz im Gegenteil.«
  »O Vetter, da sprichst du ein trostreiches Wort aus!« rief ich. »Und das
  beste für uns andere ist, daß du, du das sagst! Was kümmert uns denn da
  noch Schloß Werden? Wie sehr es da spukt, das glaubte ich gestern
  erfahren zu haben, als man mich bat, als Gelehrter mit dem Gespenst zu
  reden; aber in Wahrheit erfahre ich es erst jetzt. Mit Geistern soll
  sich der Mensch herumschlagen, aber die Gespenster mag er sich selber
  überlassen. Was geht uns Schloß Werden an; denn wie würden wir an
  jeglichem Morgen erwachen und uns wundern, uns daselbst wieder zu Hause
  zu finden?!«
  »Irene auch, und das ist das allerbeste!« sprach der Vetter Just, und
  wir stiegen durch das Heu, die durch die Sommersonne in Wohlduft und
  Nutzen verwandelte Wiesenschönheit des Jahres. Noch einmal dachte ich an
  den gestrigen Weg über den verwilderten, verwüsteten Schloßhof zu der
  Tür von Schloß Werden, dann aber nicht mehr; der Steinhof nahm mich ganz
  gefangen.
  »Mit Fräulein Martin bist du ja erst neulich zusammengetroffen und ihr
  kennt euch also noch; aber mit dir ist es etwas anderes, Jule. Komm her,
  Alte, und betrachte dir den Gast genauer. Wer ist das? Wer kann es
  sein?«
  Die Greisin hielt die Hand über die blöden Augen; doch schon platzte der
  Vetter heraus:
  »Das Fritzchen ist's! Der kleine Fritz Langreuter von Werden! Wer könnte
  es denn sonst anders sein?«
  »I du meine Güte!« schrillte der verrunzelte, graugelbe, weißhaarige
  Schutzgeist des Steinhofes, und mit dem Ton wachte auch der Rest von dem
  auf, was an Jugenderinnerungen auf dieser Erdstelle bis jetzt für mich
  noch im Schlafe gelegen hatte. Was waren alle Heimchen an dem sonnigen
  Feldwege von Bodenwerder herauf gegen diese aus der Vergangenheit
  hervorzirpende Alt-Weiber-Stimme? Aus allen Winkeln und Ecken nicht nur
  des Hausflurs, sondern des ganzen Hauses hallte es wieder bis auf das
  Klatschen der Ohrfeige, wie sie Freund Ewald Sixtus in Empfang nahm,
  wenn er mit dem gesamten Eiersegen aus den Hühnerställen des Steinhofes
  in den Taschen sich harmlos, aber dreist auf den Heimweg machte und noch
  unter der Pforte von der Hüterin des umfriedeten Bezirkes ertappt wurde.
  Wer je einen erhitzten Gemütes abgezogenen Holzpantoffel gegen eine
  verriegelte Tür pochen hörte, dem lebt der Hall auch wieder auf, wenn er
  die Klopferin nach Jahren wiedererblickt, und die nämliche Fußbekleidung
  griffgerecht an ihren Füßen. »Es hilft uns nichts, Fritze, sie trommelt
  uns heraus,« pflegte der Vetter Just in der Giebelstube zu sagen. -- Ja,
  da stand sie, Gott sei Dank, noch in ihren Schuhen, und nun schlug sie
  die Hände vor dem Leibe zusammen, daß es gleichfalls den alten
  trockenen, knöchernen Hall gab, und seufzte herzzerbrechend, aber doch,
  wie es mir schien, mit einem gewissen Behagen:
  »Ach, du liebster Gott, also das ist er wirklich? Ach, und ist wirklich
  aus einem so überstudierten Jungen ein so gelehrter Herr und Herr Doktor
  geworden? Ach, und du liebste Barmherzigkeit, Herr Fritz, und -- so
  dünn! -- Nehmen Sie es nur nicht übel, Herr Doktor Fritz; je ja -- je
  ja, es ist mir ja wirklich eine rechte Herzensfreude, aber recht
  schlecht und kümmerlich muß es Ihnen doch wohl da draußen in der Welt
  ergangen sein? Je ja, das ist so, wenn der Mensche dem lieben Herrgott
  zu genau in die Karten gucken will; da vernachlässigt er denn seine
  Leibesnahrung, zumal wenn ihn auch keiner daran erinnert, daß es Klokke
  Zwölfe am Mittage ist, wie ich meinen Just da, der sonst auch wohl als
  Faden sich durch'n Stopfnadelöhr ziehen lassen könnte. Das habe ich ja
  immer gesagt, wenn Sie sonst hier auf den Steinhof kamen, und mein Just
  jedesmal das Fieber nach Ihnen kriegte. Just, habe ich gesagt, wie kann
  so 'nem Jungen was anschlagen? Den setze du in'n Fettpott, und er
  bleibt, was er ist; an den kommt nie in seinem ganzen Leben was Rechtes.
  Wenn ich dem seine Mutter wäre, so schliefe ich keine Nacht aus Angst um
  ihn. Also, wenn du denn gar nicht von ihm lassen kannst, Just, so nimm
  dir zum wenigsten ein Exempel an ihm! Ja, je ja, so habe ich dunnemalen
  in den Wind gesprochen, und daß ich jetzo wiederum darauf komme, das tue
  ich nur, weil dem Menschen in seinem Vergnügen manches hingeht, was man
  sonst wohl krumm nimmt, wenn einer kein Blatt vor den Mund nimmt. Und
  das ist meine Rede, Herr Fritze, Herr Doktor Fritze, ich freue mich
  gewiß und sehr, daß ich Sie endlich doch noch mal erblicke; und wie es
  Ihnen auch draußen in der Fremde ergangen sein mag, auf dem Steinhofe
  sind Sie immer willkommen, und nun kommen Sie nur wie sonst recht oft
  nach dem Steinhofe; meinen Jungen, den Just da, verführen Sie mir jetzt
  nicht mehr; wir aber wollen es mit Pläsier versuchen, ob sich denn gar
  nichts an Sie heranfuttern läßt! Ihre Frau Mutter habe ich doch auch gut
  genug gekannt und gern gehabt, nach Ehren strebe ich nicht, aber das
  wäre mir doch was wert, wenn sie mir dermaleinst da oben die Hand gäbe
  und sagte: Jule Grote, Sie hat an allem, was mit Ihrem Just gut Freund
  gewesen ist, getan, was sie konnte, selbst wenn sie es nicht verdient
  haben wie viele aus Bodenwerder und sonst hier aus der Umgegend, die ich
  jetzt hier nicht in den Mund nehmen mag; aber an meinem Jungen, dem
  Fritz, da hat Sie Ihr Allermöglichstes getan, und jetzt komme Sie nur
  her, dafür will ich Sie jetzt hier bekannt machen; denn die Besten, die
  von unten heraufkommen, sind zuerst immer ein bißchen fremd -- das ist
  überall so.«
  Nicht das kleinste Wörtchen, kaum ein zustimmender Gestus war in diese
  Begrüßungsrede einzuschieben gewesen. Wie der gelbe Heimatsfluß beim
  Eisgange rollte her, was Jule Grote zu meiner Bewillkommnung auf dem
  Steinhofe vorzutragen hatte.
  Der Vetter Just stieß mir nur bei jedem Komma und Atemholen den
  Ellenbogen in die Seite, was nichts weiter hieß als: Siehst du wohl?
  Ganz die Alte! -- Was wäre das alte Nest, der Steinhof, ohne die Alte!
  -- Ich aber hätte die Alte bei jeder neuen Wendung und vorzüglich da, wo
  sich die Schollen aufeinander zu schieben drohten, beim Kopf und Kragen
  nehmen mögen, um sie abzuküssen, wie keine Jüngere im Lande.
  Und dazu brotzelte es vom Küchenherde her, und alles war voll Heuduft;
  und Frau Irene und ich waren die einzigen, die nicht in Hemdärmeln auf
  dem Steinhofe herumwirtschafteten. Es war ein heißer Sonnentag mitten im
  Sommer und in unserem Leben; aber die Sonne war doch das Beste in der
  Welt, und wer sie nicht ertragen mag, der mag sich einfach vor der Zeit
  begraben lassen. Es sind aber auch nur diejenigen, welche auch hier
  unten »fremd« bleiben, wie Jule Grote sich ausdrückt, die die Sonne
  nicht vertragen können.
  Aber ein drittes Wesen, das gleichfalls nicht in Hemdärmeln einherging,
  hatte ich eben doch vergessen aufzuzählen. Zugeknöpft bis an den Hals,
  sowohl was das Kostüm als was die Gemütsstimmung anbetraf, setzte mir
  jetzt Mademoiselle Martin aus Nanzig einen Knix hin -- vor der Welt, um
  mich sodann mit zupackendstem, nicht den geringsten Aufschub zulassendem
  Interesse in den Winkel zwischen Stubentür und Wand zu ziehen und zu
  flüstern:
  »^Et l'autre?!^ Der andere?! Wo ist der andere? was denkt sich der
  andere? was tut der andere?«
  »Der andere? Ewald? Ewald Sixtus?«
  Die alte Dame hielt meinen Arm und schüttelte mich, wie sie mich nie in
  meiner Jugend auf Schloß Werden geschüttelt hatte:
  »Ah -- ^oui^ -- ich werde wie gebraten hier auf heißen Kohlen, und da
  kommt dieser, und ich halte ihn, und er sieht mich ^dans mon angoisse^,
  und ich schüttele ihn und er -- fragt!« ...
  »Ach Mademoiselle,« seufzte ich, »der andere fragt ebenfalls. Vor allen
  übrigen fragt er auch Sie, was er mit Schloß Werden anfangen soll? Wir
  haben gestern um diese Tagesstunde alle Türen dort aufgeschlossen; aber
  einen Eingang haben wir darum doch nicht gefunden. Am hellen Mittage
  haben wir große Furcht gehabt --«
  »Und ich weiß schon, was ich ihm sagen werde; aber der ^vaurien^, der
  Taugenichts, muß selber zu mir kommen. Was schickt er einen anderen
  hierher, wenn der gute Gott ihm auch zwei Beine hat anwachsen lassen!
  Aber es war immer so! nur wo er einen Unsinn konnte ausüben, kam er
  selber; -- wo es galt, nach der ^raison^ zu handeln, mußte man ihn immer
  suchen.«
  Selten war mir zwischen Tür und Angel ein nur annähernd gleich
  trostreiches Wort gesprochen worden wie dieses letzte der atemlosen, vor
  Hast und Erregung zuckenden ^soeur ignorantine^, die gottlob so genau
  Bescheid wußte. Aber unsere Privatunterhaltung war jetzt zu Ende für den
  Augenblick; -- es war wieder einmal Essenszeit auf dem Steinhofe, und
  alles Hofvolk stieg durch das Heu und kam, seinen Platz an dem Tische
  einzunehmen, den der Vetter Just Everstein durch die alte Stube auf
  feste Eichenfüße von neuem hingestellt hatte: zwei Bänke von Tannenholz
  die Langseiten entlang, ein Schemel für den Hofjungen und ein Holzstuhl
  mit einer Lehne für den Herrn. Es konnte in ganz Germanien keine
  vornehmere Hoftafel abgehalten werden!
  
  
  Vierzehntes Kapitel.
  
  Die Nacht war still, und ich überdachte den ersten Tag, den ich wieder
  auf dem Steinhofe zugebracht hatte. Die Nacht war ungemein still, und,
  Gott sei Dank, auch in mir ging's nicht außergewöhnlich lebhaft und
  lärmhaft zu. Was übrigens in dem gewohnten Laufe der Dinge und
  Stimmungen in der Welt durchaus nicht so hätte sein dürfen, denn ich
  befand mich in dem Hause meines außerordentlich glücklichen Freundes,
  und der Vetter Just hatte mir wiederum viel von der Vortrefflichkeit des
  Preises, der mir entgangen ist, gesprochen. Ich aber kann darüber nur
  sagen, was ich schon gesagt habe, und da es eine Nacht der
  Wiederholungen war, so will ich es auch an dieser Stelle noch einmal zu
  Papiere bringen: Ich gönnte dem Vetter aus vollstem Herzen alles Gute,
  Liebe und Schöne, das er, weil er's verdient hatte, sich gewonnen hatte
  -- so kurz noch vor Torschluß! Von _alten_ Nestern handeln diese
  Lebenshistorien: die Zeiten, wo wir sie jung ins Grüne bauten, die waren
  für uns alle lange, lange vorüber; aber Just Everstein und Eva Sixtus
  wurden ein stilles, solides Paar, auch ein stattlich Paar und eine Krone
  der Gegend. Eine Herrin gehörte noch an die fürstliche Tafel, die der
  Bauer vom Steinhofe Punkt zwölf Uhr mittags öffentlich, d. h. bei
  offenen Türen hielt, und wer hätte den Platz währschafter und
  freundlicher auszufüllen vermocht als die jetzt so stattliche Jungfrau
  vom Försterhofe zu Werden -- meine rehhafte, leichtfüßige, liebliche
  Jugendliebe?!...
  Ich war aber auch dem Stadtrat Bösenberg aus Finkenrode nicht umsonst
  unterwegs begegnet; ich hatte nicht umsonst mit ihm gefrühstückt in
  Finkenrode: Stadtrat zu Bodenwerder wurde ich mein Lebtage nicht und
  noch viel weniger Bürgermeister daselbst. Die den Ort sonst betreffenden
  historischen Studien hatten mir der Justizamtmann Bürger zu Göttingen
  und der Obergerichtsrat Immermann in Düsseldorf schon längst vor der
  Nase weggefischt. Um es mit ein paar kurzen Worten auszudrücken: mein
  Name war Dr. Langreuter, der irische Baukünstler Ewald Sixtus hatte mich
  nur für einige Wochen aus einem mir völlig angemessenen Lebensberuf
  weggeholt, und ich gehörte einfach nach Berlin und nicht nach Dorf
  Werden; letzteres ebensowenig wie der internationale Ingenieur Ewald
  Sixtus nach dem dort noch befindlichen, aber sehr zur Ruine gewordenen
  Herrensitz der Grafen von Everstein.
  
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