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Alte Nester: Zwei Bücher Lebensgeschichten - 17

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  Ich lag lange in dieser Nacht im offenen Fenster auf dem Steinhofe, und
  die Kühle war sehr erfrischend, und die Monddämmerung sehr wohltätig
  nach dem heißen, blendenden Heumondstage. Sie hatten ihr Heu wohl
  meistens glücklich unter Dach gebracht, aber der Duft davon durchzog
  noch immer angenehm, wenngleich etwas betäubend die Nacht; ich aber
  konnte zu keiner besseren und günstigeren Zeit als zur Zeit der Heuernte
  auf dem Steinhofe wieder zu Gaste sein. Es ist immer ein anderes, wenn
  die Wiesen in voller Pracht und Blüte stehen, mit seinen Illusionen und
  Herzensneigungen abzuschließen, und ein anderes ist's, zur Zeit des
  Heumachens anderer seine Lebensruhe sicher und trocken unter Dach zu
  bringen. Was dabei meine Gemütsstimmung nicht verschlechterte, war die
  im Verlauf des Tages gewonnene feste Überzeugung, daß auch zwei anderen
  Leuten und lieben Freunden sich der Pfad sanft abwärts führend viel
  leichter glätten werde, als sie augenblicklich noch beide für möglich
  hielten.
  Ich hatte dem jetzigen Herrn von Schloß Werden mein Wort gegeben, ihm in
  dieser Nacht sofort zu schreiben; ich wußte, daß der Mann und wilde
  Irländer in der Försterei zu Werden ebenfalls wenig schlief in dieser
  Nacht, hatte mir auch gewissenhaft einen Briefbogen zurechtgelegt und
  dem Vetter Just sein Tintenfaß mir aus seiner Giebelstube geholt; aber
  -- wozu eigentlich immer selber stets Wort halten in einer Welt, in der
  es einem selber so häufig nicht gehalten wird, sowohl vom Wetter wie vom
  Schicksal?... Ihrem Schicksal entgingen sie -- Ewald und Irene -- darum
  doch nicht; was ich aber brieflich mitteilen konnte an den Freund, war
  wenig und hatte in der Tat vollkommen Zeit bis morgen. Wie sich das
  stolze Herz der Frau noch sperrte und flatterte und mit den Flügeln
  schlug, das ließ sich doch nur schwer mit des Vetters schlechter Tinte
  und noch schlechterer Feder hinschreiben, und dazu hatte der Vetter
  selbst mich vom Schreiben abgehalten. Er war ganz meiner Meinung
  gewesen; aber bis über die Mitternacht hinaus hatte er bei mir gesessen
  und die Sache immer wieder von einer anderen Seite her beleuchtet und
  geredet wie der außerordentlichste Professor der Psychologie.
  Der irländische Baumeister Ewald Sixtus hatte manche Nacht durchwacht,
  um Schloß Werden sich zu gewinnen, weshalb sollte er nicht die eine und
  die andere Nacht durchwachen, um zu dem Entschluß zu kommen, es wieder
  aufzugeben?
  »Gute Nacht, Just. Dein Schreibzeug läßt du mir wohl bis morgen früh?«
  »Ist denn noch Tinte drin? Wohl mehr tote Fliegen und dergleichen?«
  fragte der Vetter, lächelnd sich hinter dem Ohre kratzend. »Lieber
  Bruder, die Zeiten haben sich ganz besonders in dieser Hinsicht sehr
  geändert. Ich habe schon mehrmals einen reitenden Boten nach Bodenwerder
  schicken müssen, um mir den notwendigen Tropfen zu einer
  Namensunterschrift holen zu lassen.«
  Ich stieß den Federstumpf durch den Schimmelüberzug und fand noch
  genügendes schwarzes Naß, um aller Welt Glück und Leid dreintauchen zu
  können, und meine Ansicht, Meinung, Weisheit und guten Ratschläge dazu;
  der Vetter war gegangen, und ich hatte -- die Feder neben den Briefbogen
  gelegt und mich in das Fenster.
  Was konnte ich eigentlich dem Freunde in Werden schreiben?
  Daß ich _sie_ in der heißen Sonne am Wege sitzend fand, daß _sie_ in der
  Abenddämmerung an meinem Arm durch die Felder wandelte, daß _sie_ viel
  und hastig aufgeregt und verworren sprach, und ganz und gar nicht wie
  ein Professor der Psychologie? Daß wir bis spät in die Nacht hinein in
  der Gesellschaft des Vetters Just im Baumgarten saßen und zwar sehr
  still? Daß ich noch eine Viertelstunde zwischen Jule Grote und Mamsell
  Martin auf der Bank vor dem Hause hockte, und daß ich die beiden guten
  Alten reden ließ, ohne sie nur ein einziges Mal zu unterbrechen? Daß
  alles in der Welt von den verschiedensten Seiten angesehen werden kann?
  Daß aber, gerade weil dem so ist, alles auf Erden viel offener und
  sozusagen wehrloser daliegt, als der Mensch in seiner täglichen
  Verwirrung sich einzubilden pflegt? Daß der Mensch viel zu häufig Furcht
  hat? Daß es im Grunde keine Gespenster gibt -- auch in und um Schloß
  Werden nicht? Daß die Nacht wundervoll klar und lieblich war, und daß
  die Nachtkühle außerordentlich beruhigend auf den Menschen wirkte, und
  daß es trotz alle, alle dem sehr leicht sei, über mittelalterliche
  Geschichten, und sehr schwer, über das lebendige Leben der Gegenwart zu
  schreiben?
  Mit der letzteren Bemerkung begann ich selbstverständlich am folgenden
  Morgen meinen Brief und schloß ihn mit einer ganz ähnlichen.
  »Ich reite wie gewöhnlich erst diesen Abend hinüber,« sagte der Vetter
  Just, dem ich die Lektüre gern gestattet hatte. »Offen gestanden, Fritz,
  ich glaube, einen expressen Boten brauchen wir nicht damit
  hinzuschicken. Recht hübsch, Fritze!... und daß euch euer
  Abendspaziergang, ganz ohne daß ihr es merktet, dem Flusse zuführte, und
  daß ihr erst auf den letzten Hügeln umdrehtet, nachdem ihr längere Zeit
  nach den Bergen gegenüber ausgeguckt hattet -- ist auch -- recht hübsch,
  Doktor. Wenn du meinst, daß die Sendung Zeit hat bis zum Abend, so
  kannst du dich darauf verlassen, daß ich deine Schilderungen dem armen
  Teufel drüben getreulich überliefern werde. Übrigens -- wenn ein Mensch
  auf eine prompte Korrespondenz gar keinen Anspruch hat, so ist das unser
  braver Freund Ewald auf Schloß Werden. Jetzt entschuldige mich
  freundlichst bis Mittag. Wir haben gerade heute einen ziemlich scharfen
  Arbeitstag vor uns. Bekümmere du dich um nichts als die Frau Irene und
  laß dir soviel als möglich von ihr Gesellschaft leisten. Über
  mittelalterliche Geschichten läßt sich wohl besser und leichter
  schreiben; aber in dem lebendigen Leben der Gegenwart stecken wir eben
  drin und haben uns durchzufühlen. Ich drücke mich wohl schlecht aus?...
  Aber -- nimm es mir nicht übel, ich spreche nur nach, was du geschrieben
  hast, und in deinem Briefe an Ewald steht wirklich wenig von dem, was
  wir augenblicklich an uns und in uns und in der allmächtigen
  Schicksalswelt um uns erfahren. Dein Brief ist sehr nett und sehr
  freundschaftlich und sehr ausführlich -- du hast den gestrigen Tag gut
  geschildert, und daß er zwischen den Zeilen wird lesen können, das ist
  noch besser; aber das beste und einfachste wäre meiner Meinung nach, --
  sie ginge einfach zu ihm.«
  Das Wort kam wie etwas so Selbstverständliches heraus, so ruhig und
  sozusagen gemütlich, daß ich im Anfange glaubte, mich verhört zu haben:
  »Was sagtest du, Vetter?«
  »Ich bin bei eurer ersten Unterhaltung gestern auf dem Feldwege nicht
  gegenwärtig gewesen; aber das war auch gar nicht notwendig. Wenn einer
  weiß, wie dem anderen in seiner Verwirrung zumute ist, dann weiß er
  auch, welche Worte er gebraucht, um sich Luft zu machen; vorzüglich wenn
  er ihm ein jedes an den rotgeweinten Augen absieht. Bei einem lachenden
  Gesicht ist es freilich schon schwieriger, und daß ein Menschenelend
  wahr ist, erkennst du viel leichter, als wie ob ein Glück und Jubel dir
  nur als Komödie aufgeführt werde. Lache nicht über den Bauer vom
  Steinhofe, der ein Gelehrter werden wollte und es wirklich einmal für
  eine Zeit zum Schulmeister gebracht hat. An sich selber muß der Mensch
  in Erfahrung bringen, wie es dem anderen zumute ist, und in dieser
  Hinsicht glaube ich das Meinige gelernt zu haben.«
  Es war nicht das erste Mal, daß der Mann es sich ausbat, daß man nicht
  über ihn lache. Es lohnte sich also nicht der Mühe, ihm noch einmal
  hierauf die gehörige Antwort zu geben. Wir saßen in seiner Giebelstube
  am Tisch; die Wände und die schräge Decke waren dieselbe geblieben. Ich
  war wieder ein Knabe, ein Kind; im Grasgarten unter den Kirschbäumen
  trieben die anderen als Kinder ihr Spiel, und ihr helles Lachen und
  Jauchzen drang zu uns her; und -- es war geblieben, wie es schon damals
  war: nur der Vetter Just achtete darauf in sich selber nach der
  richtigen Weise, wie ihm und der Welt ums Herz war.
  »Verlaß dich drauf, Fritz, sie will zu ihm, und weil sie Angst hat, daß
  es zu spät sei, schiebt sie die Schuld auf die Ruinen, die zwischen ihm
  und ihr liegen. Auf das alte brave Nest, Schloß Werden, gebe ich dabei
  gar nichts; aber _ihr_ kommt es zupaß. _Sie_ möchte es in ihrer heutigen
  Ratlosigkeit um alles in der Welt nicht anders haben, als wie es jetzt
  da liegt. _Das_ kommt ihr gerade recht! Das ist der Nagel, an dem sie
  ihren Weiberstolz am bequemsten aufhängen kann, um ihn zu -- schonen!
  Und Kinder sind sie alle beide, soweit sie in den Jahren vorangekommen
  sein mögen. Wie sie heute in sich hineingraben, ist ihnen keines der
  goldenen Schlösser, die sie (und du auch, Fritz Langreuter!) in die
  berühmten italienischen Nußbüsche in Werden hingen, so lieb wie der Zorn
  und die verhaltene Reue von heute. Du willst wissen, was sie dir gestern
  gesagt hat?... Hat sie dir nicht in einem Atem von ihrem Alter, ihrer
  Armut und ihrem Stolze gesprochen? Sie, welche die Jüngste von uns allen
  ist, und soviel zu verschenken hat, und alles so gern hergäbe, wenn nur
  das Schicksal sie wie ein verweintes Kind an der Hand nehmen und führen
  wollte. -- Hat sie nicht gesagt, daß sie alles begreift und würdigt, was
  ihr Freund nur in dem Gedanken an sie erarbeitet und getan hat? Daß sie
  mit klopfendem Herzen ihm dafür dankbar ist, hat sie wohl nicht
  gestanden, -- das umschreiben die Weiber immer am liebsten oder drücken
  es anders aus, zum Exempel durchs Gegenteil, und das letztere hat auch
  sie getan. Nämlich, daß sie um keinen Preis der Welt sich durch ihn
  demütigen lassen könne, hat sie gesagt. -- Wenn es nicht schade wäre um
  jeden Tag, den sie unnützerweise dadurch verlieren, so könnte man
  wirklich einfach darüber lachen ... und sich ärgern! Sag mal, Fritz,
  glaubst du nicht auch, daß der Ärger die einzige wirklich konservierende
  Zutat in unserem irdischen Zustand ist? Ich habe darüber nachgedacht; im
  höchsten Schmerz, im edelsten Zorn und Kummer schmeckt man ihn durch. Er
  ist wie das Salz das Gemeine oder Allgemeine, aber doch das, was unter
  allen Umständen dazu gehört. Schicksal kann man nicht spielen; ohne
  Ärger kommt man nicht aus, -- in seinen Einbildungen lebt man, --
  warten, warten muß man -- heute wie morgen -- auf das, was mit einem
  geschieht: in das Glück kann sich kein Mensch unterwegs retten; so
  fallen die Besten und Edelsten in die Entsagung, um nicht dem Verdruß zu
  verfallen, und das ist der Fall heute mit Ewald und Irene. Wenn aber
  einer von uns zweien hier am Tisch sagt: Es schmerzt mich! so könnte er
  dreist ebenso gut sagen: Ärgert mich nicht! -- Und jetzt siegele ruhig
  deinen Brief zu, du hast es wirklich sehr hübsch ausgedrückt, wie _dir_
  zumute war, als du nach längerer Abwesenheit zum ersten Mal wieder den
  Steinhof besuchtest.«
  »Just!« klang es vom Hofe her in unser offenes Fenster.
  »Hier sitzt er, Jule! Was soll er?«
  Neben dem Brunnen stand die Alte in der Sonne, blinzte unter
  übergehaltener Hand vor und zu uns empor und brummte:
  »Jawohl sitzt er da! Als ob ich das nicht wüßte? Sowie der -- andere
  wieder im Lande ist, geht richtig das alte Elend augenblicks wieder von
  frischem an; -- na, ich weiß schon, Herr Langreuter, und will auch
  nichts Despektierliches gesagt haben. Aber Just, im Lämmerkampe weiß
  kein Mensch mehr, wo er mit sich hin soll, und so haben sie sich lieber
  allesamt unter die Bäume gelegt und warten, daß der Meister kommt und
  nach ihnen sieht. Und mit der Steinfuhre für den neuen Schweinekoben
  sind sie am Tillenbrinke vermalhört. Da liegt die ganze Prostemahlzeit,
  Schiff und Geschirr im Graben, wie der Junge sagt, und bis jetzt haben
  sie nur die Pferde ausgespannt und sitzen und besehen sich die
  Angelegenheit, sagt der Junge. Nach dem Herrn Doktor aus Berlin aber
  sucht sich Mamsell Martin schon stundenlang die Augen aus dem Kopfe; mir
  flackert das Feuer in der Küche unter den Händen weg und brennt mir auf
  den Nägeln; und so geht denn alles wie gewöhnlich ja recht hübsch
  kopfunter kopfüber.«
  »Da hast du es, Fritz!« meinte der Vetter ein wenig kläglich lächelnd.
  »Der Mensch mag sich noch so sehr abarbeiten, um ein anderer zu werden,
  das Durcheinander um ihn her bleibt immer dasselbe, und alle Erfahrung
  und der beste Wille richtet wenig dabei aus. Wieviel Zeit von seinem
  eigenen Tage behält man übrig für die Bedrängnisse der anderen? Jetzt
  geh du nur hin und erhalte der treuen Seele, der Mamsell Martin, ihre
  guten ängstlichen Augen, mich ruft das Schicksal zuerst nach dem
  Tillenbrink und dann nach dem Lämmerkamp. Das ist ganz richtig, weg
  läuft mir niemand dort. Sie liegen allesamt ganz behaglich und warten,
  bis ich komme.«
  »Und durch die Abendkühle reitest du nach Werden. Das ist dein Trost,
  und zwar ein recht behaglicher.«
  »Ja!« sagte der Vetter Just leise und innig und faßte meine Hand. »Es
  ist so. Und wenn mir manchmal in allem Behagen etwas melancholisch
  zumute wird, daß ich in meinem und meiner Eva Glück doch eigentlich nur
  auf die beginnende Dämmerung und Kühle des Abends angewiesen worden bin,
  so tröste ich mich: Wir bleiben eben länger jünger als die anderen!...
  Und nun, alter Freund, hänge doch ein Postskript und guten Rat über das
  Jung-Bleiben an deinen Brief. Ich trage ihn dann noch einmal so gern
  hinüber heute am Abend. Wenn nachher wieder die Rede auf Schloß Werden
  kommt, weiß man dann doch etwas genauer, was man sagen kann. Daß es mir
  immer lieb gewesen ist, wenn ein Wort das andere gab, das weißt du ja.«
  Ich sah ihm von dem Fenster der Giebelstube aus nach, wie er über den
  Hof stieg. Vom Tor aus winkte er mir noch einmal zu, und ich sah ihm
  nach auf dem Wege nach dem Tillenbrink und seufzte:
  »Der hat wohl gut reden von seiner Jugend! Sind es bloß die großen
  Künstler mit Stift, Feder und Meißel, die die Welt festhalten, während
  sie allen übrigen entgleitet? Ich meine, solch ein Lebenskünstler, solch
  ein Mann des Lebens wie der da, hat auch einen guten Griff. Was er faßt,
  läßt er so leicht nicht los, und was er weiter gibt, das reicht er weit
  in die Zeiten hinein. Welch ein Kunstwerk hat dieser Mann aus seinem
  Leben gemacht -- treuherzig! Und ist nicht Treuherzigkeit das erste und
  letzte Zeichen eines wahren Kunstwerks? Was haben wir ihm alles
  aufgebunden, wenn wir aus unseren Nestern im Grün zu ihm kamen. Und er
  glaubte alles! o, welch ein weiser Mensch steckte in jenem Jungen, der
  da am Wege über dem alten Broeder saß und Glauben hatte, und sich wie
  von Schloß Werden so von Bodenwerder zum besten halten ließ und gelassen
  auf menschliche Schicksale wartete. Aber Glück hat er auch gehabt, und
  -- das ist und bleibt gleichfalls in alle Zeit hinein der Trost und die
  Entschuldigung derer, die wie die Fliegen und der gegenwärtige Doktor
  der Philosophie Friedrich Langreuter aus Berlin an der geschlossenen
  Fensterscheibe kriechen.«
  Es fand sich in dem mit Fliegen, Staub und Schimmel mehr als gebührlich
  gefüllten Tintenfasse des Vetters Just auch der schwarze Tropfen noch,
  mit dem ich das angeratene Postskriptum an meinen Brief an den Freund in
  Werden hängen konnte. Ich tat's, faltete das Blatt und ließ es
  ungesiegelt; -- Geheimnisse meinerseits standen nicht drin, und der gute
  Rat, den der Vetter gab, lag wie alles Echte und Rechte auf der Hand.
  Im Gemüsegarten fand ich dann Mamsell Martin, Raupen vom Kohl suchend.
  Sie stellte diese Beschäftigung natürlich sofort ein, um sich einer ganz
  ähnlichen an mir zu widmen:
  »^Oh monsieur^, wenn ich es nicht tagtäglich mir vorsagte, daß auch ihr
  Männer durch die sehr böse Welt kommen müßt, und daß ihr es dann und
  wann ^a peu près^ drin ebenso schlimm habt als wir anderen armen Frauen,
  so wäre es wohl manchmal nicht auszuhalten mit euch. Sind Sie nur
  deshalb nach diesem Steinhof gekommen, um meinem armen Kinde das Herz
  noch schwerer zu machen, ^monsieur Frédéric^?«
  »O, bestes Fräulein --«
  »Ich bin keines Menschen bestes Fräulein! Wir leben hier nicht auf
  diesem Steinhofe ^aux bains^. Wir sind hier nicht in Baden-Baden,
  Homburg oder ^Aix-la-Chapelle^! Wir wohnen hier nicht, um uns zu erholen
  ^de nos études^, und um hineinzuschlafen in den Tag und um Ökonomie zu
  treiben mit dem Cousin Just. Wir sind hier in großer Angst des Lebens,
  mein armes Kind mit mir, wie auf einem Steinfelsen im Meer, und um uns
  her ist nur, wie Mr. Victor Hugo sagt in den ^Orientales^: das Meer und
  stets das Meer, die Welle, stets die Welle! Und wo Länderei -- nein,
  Land ist, da sind für uns nur Ruinen, und es kann kein Mensch und auch
  nicht Mademoiselle Julie verlangen, daß ich soll haben ein Interesse für
  die Ökonomie auf diesem Steinhof. ^Eh!^«
  Sie hatte sich nochmal gebückt und aus einem ganzen Nest ein fett, grün,
  sich ringelnd Geziefer von einem westfälischen Kohlblatt abgenommen.
  »^V'là une du paquet!^« rief sie mit ihrem unnachahmlichsten Nanziger
  Klosterakzent; nämlich wenn die jungen Schulschwestern sich vollkommen
  unter sich allein wußten. Mit spitzigen, dürren Fingern hielt sie das
  unselige Insekt, und wenn sie einen Basilisken gefangen hätte, so hätte
  sie mir denselbigen nicht mit stärkerem Grimm, Ekel und Widerwillen,
  aber auch nicht mit größerer Energie unter die Nase halten können.
  »Nur der ganz gewöhnliche, sehr gemeine Kohlweißling ^Pieris brassicae^,
  Mademoiselle.«
  »Ja, ^monsieur^, nichts weiter als das!«
  Das Gewürm flog zu Boden, und wurde, fast ehe es daselbst anlangte,
  vermittelst der Schuhsohle aus der Reihe der Lebendigen weggewischt. Die
  ^soeur ignorantine^ trat mit böse aufgerafften Röcken über die nächsten
  Kohlköpfe hinweg und hinein in den Gartenweg. Wie eben die Raupe hielt
  sie jetzt mich, doch glücklicherweise nur am Arm.
  »Da war auch die ^Altesse^, -- die Durchlaucht, -- o diese Durchlaucht,
  die auch unser Cousin war und uns besuchte und sehr gut zu uns sprach
  und auch mit für uns sorgen wollte, und -- ^sous cape^ -- unser armes,
  liebes Kind mit in sein armes, kleines, kleines Grab brachte, welches
  sehr leicht war und sehr wenig kostete, weil schon der gute Vetter Just,
  ^monsieur^ Just Everstein, das kleine Kind in seinen kleinen Sarg gelegt
  hatte. Was hat ^monsieur le prince^ weiter von sich hören lassen? Nichts
  hat er von sich hören lassen. Was hat er für uns getan? Nichts hat er
  für uns getan!«
  »Was sollte er auch für uns tun?« fragte eine ruhig traurige Stimme
  hinter uns. Irene hatte sich uns unbemerkt genähert; es kam nichts
  weiter von dem, was Mademoiselle Martin auf der guten, gequälten Seele
  hatte, zum Vorschein, sie ließ auch meinen Arm frei und seufzte nur
  noch:
  »^Oh, mon dieu!^ Nun hab' ich mir wieder einmal die Zunge angebrannt!«
  Aber Irene hielt nur meine Hand fest; sie stand mit gesenktem Haupt,
  ohne weiter etwas zu bemerken. Sie hatte keine Heimat, aber sie wußte,
  wo sie zu Hause war; und (der Vetter Just hatte vollständig recht!) das
  einfachste war, daß sie hinging, wohin sie gehörte oder -- geführt
  wurde. Sonderbar ist es und bleibt es, daß wir Menschen immer nur im
  höchsten Notfall auf unser Schicksal zurückgreifen, d. h. davon reden.
  Wir schämen uns unseres Schicksals, und in _das_ große Geheimnis hinein
  hängen alle Wurzeln unseres Daseins.
  
  
  Fünfzehntes Kapitel.
  
  Ich sitze da am Fenster in meiner Stube in der großen Stadt Berlin. Über
  meine Gasse hinweg habe ich die Aussicht in eine andere. Hunderten, ja
  Tausenden von Menschen, welche die letztere passieren, kann ich ins
  Gesicht sehen, wenn ihr Weg so führt, und wenn es mir Vergnügen macht.
  Ein Vergnügen macht es mir jedoch selten. Aber eine gewisse
  Regelmäßigkeit des Verkehrs macht sich auch hier geltend. Es kommt immer
  zur gegebenen Stunde alles wieder, wie es von seinem Geschick geleitet
  wird, einerlei ob es sich der Abhängigkeit von demselben schämt oder
  nicht. So sind mir denn allgemach viele Gestalten und Gesichter vertraut
  und sozusagen zu unbekannten guten Bekannten geworden; aber nur ein
  einziges immer heiteres, lachendes, glückliches Gesicht kenne ich
  darunter, und das ist das eines blinden Knaben, der am Arme seiner
  Mutter täglich gegen zehn Uhr morgens die Straße hinunterkommt oder
  geführt wird, um bei einem Musiklehrer in meiner Nachbarschaft eine
  Unterrichtsstunde im Geigenspiel zu nehmen. An diesen Knaben mußte ich
  an diesem sehr unruhevollen Tage auf dem Steinhofe fortwährend denken,
  und ich sprach auch zu Irene von ihm im Schatten der Obstbäume des
  Grasgartens.
  »Das Kind ist allmählich ein alter Bekannter von mir geworden. Ich sehe
  es wachsen und allgemach zum Mann werden. Es wächst jedes Jahr einmal
  aus seinem Rock und seinen Hosen heraus, aber es schämt sich keines
  Zustandes. Es läßt sich wachsen.«
  »Und bleibt auch als Mann und Greis ein blindes Kind. Das einzige
  glückliche Gesicht unter Hunderttausenden! Armer Freund, weshalb redest
  du mir davon? Zum guten Exempel ist solche Heiterkeit doch wohl nicht in
  die Welt gesetzt! willst du mir gar zu allen anderen übeln Eigenschaften
  auch noch den Neid rege machen? Worüber lachst du nun?«
  »Nie über dich, arme Freundin; höchstens über dich und meinen braven
  tapferen Freund und Gespensterseher, den Herrn Ingenieur Sixtus auf
  Schloß Werden. Übrigens kommt ihr beiden Helden schon einmal vor, und
  zwar in der Geschichte vom hörnernen Siegfried in den deutschen
  Volksbüchern. Man kennt auch eure Namen und gibt sie seit tausend Jahren
  von Jahrmarkt zu Jahrmarkt weiter. Jorcus und Zivilles heißt ihr da.
  Mich nennt man einen Gelehrten, und hier nehme ich den Titel an, denn
  dies ist etwas, was ich in der Tat allgemach aus den Quellen studiert
  haben muß, und (es ist keine Tautologie, liebe Irene!) was ich wirklich
  weiß. Willst du wissen, wie der Vetter Just, der kein Gelehrter, aber
  dafür ein weiser Mann ist, sich ausdrückt?«
  »Was sagt der?«
  »Hasen sind sie alle beide; aber der feigste von beiden ist doch unser
  guter Freund Ewald Sixtus -- auf Schloß Werden.«
  »Das ist nicht wahr!« rief die Frau Irene, und aus ihren Augen funkelten
  alle die alten Blitze, die uns in den Mauern und Gärten zu Werden so oft
  heimgeleuchtet hatten, wenn wir zwei Jungen es den beiden Mädchen wieder
  einmal zu toll gemacht hatten. Da sprangen die Neigung, die Liebe, ja
  die Zärtlichkeit wie gewappnet hervor, und zornig flüsterte Irene
  Everstein: »Es weiß kein anderer als ich, wie stark Ewald Sixtus ist,
  und welch eine Tapferkeit dazu gehört und welch ein Edelmut, daß er
  nicht kommt und sein Recht verlangt und sagt: du mußt, armes Weib! Du
  bist in meiner Schuld, Irene, und du gehörst mir, wie -- Schloß Werden
  mir gehört. -- Ich habe dir das aber schon gestern auf dem Stein am Wege
  gesagt, und du -- du handelst wahrlich nicht edelmütig an mir, Fritz
  Langreuter!«
  Die Frau weinte und ließ mich stehen. Als sie rasch von mir fortlief,
  war auch das ganz wie in unserer Kinderzeit, als unsere Nester noch im
  Grün, im Sonnenschein und Himmelsblau hingen; aber damals weinte sie
  nie, sie drohte lieber über die Schulter zurück, und es war immer Ewald
  Sixtus, dem die erhobene Kinderfaust galt. Ich aber wußte jetzt, daß es
  nicht nur das beste war, daß sie zu dem Freunde ging, sondern daß sie
  sich schon auf dem Wege zu ihm befand. Aber es war mir dazu auch von
  neuem bestätigt worden, daß der irländische Ingenieur nicht nur ein sehr
  tapferer und starker Mann, sondern auch ein sehr schlauer Mensch war,
  und alles dies in der rechten Weise, nämlich ohne daß er selber von
  seinen Vorzügen im gegebenen Moment irgendwie genau Rechenschaft ablegen
  konnte. Er war klug, ohne es zu wissen, und so ging er um Schloß Werden
  herum; er war fest überzeugt, sich zu fürchten, und auf dem Steinhofe
  wurde man sofort sehr böse und fing an zu weinen, wenn irgend jemand nur
  im mindesten an seine Herzhaftigkeit rührte und den leisesten Zweifel
  darob kundgab.
  Lose hängen alle Kränze und Gewinnste in dieser Welt über den Häuptern
  der Menschen; auf wohlbedächtig gezimmerten Leitern aber steigt man
  nicht zu ihnen empor, und die, welche die schönsten Kränze tragen,
  rühmen nie ihre eigene Kunstfertigkeit und Ausdauer deswegen. Im Gewinn
  erkennen sie erst recht, welcher linde Hauch, welche ^aura coelestis^
  ihnen das Glück oder die Erfüllung ihres Wunsches oder das große
  wirkliche Kunstwerk zuwarf.
  Etwas spät fielen die goldenen Äpfel in diesem Falle, aber sie fielen
  doch noch; und abermals erwies es sich, daß wir in einer Welt unser
  Dasein führen, in der es ebensowohl der Hauch des Todes wie des Lebens
  sein kann, der die Zweige bewegt und schüttelt.
  Erst am Mittage, nachdem der Vetter seine Steinfuhre am Tillenbrink
  wieder aufgerichtet und im Lämmerkampe unter seinem Arbeitsvolk Ordnung
  gestiftet hatte, bekam ich Irene von neuem zu Gesichte. Dies wird noch
  einmal ein Kapitel der Wiederholung; ich aber kann wahrhaftig auch
  diesmal nichts dafür.
  Wieder die alte gute Bauernstube des Steinhofes! wieder der lange
  nahrhafte Tisch von dem einen Ende derselben bis zum anderen; und wir
  allesamt daran vor den Tellern und Schüsseln: der Meister, die Knechte,
  die Mägde und die Gäste!
  Und wieder wurde der Vetter herausgerufen, ging mit dem guten
  behaglichen Lächeln auf dem schweißglänzenden Gesicht und kam nach einer
  ziemlichen Weile sehr erregt wieder herein. Still setzte er sich von
  neuem hin, nahm auch den Löffel wieder zur Hand, aber legte ihn doch
  abermals nieder.
  Da jedermann ihn darauf ansah, sagte er zu den Leuten:
  »Eßt weiter, Kinder!«
  »Was ist das denn, Just?« fragte Jungfer Jule Grote angsthaft. »Es war
  ein Bote von drüben. Um Gott und Jesu willen: es geht doch wohl nicht
  wiederum den Steinhof an?«
  »Nachher, liebe Alte!... Den Steinhof geht es freilich wohl an; aber es
  läßt ihn diesmal doch aufrecht stehen.«
  Da dem Vetter Just der Hunger gänzlich vergangen zu sein schien, so
  verging er auch seinen Gästen so ziemlich. Doch erst, nachdem das
  Hofgesinde in Ruhe abgegessen und die Stube verlassen hatte, teilte uns
  Just Everstein mit, was ihm und uns das Schicksal durch den eiligen
  Boten von »drüben« hatte wissen lassen.
  »Hattest recht, Jule; es war ein Bote aus Werden, und er hatte es sehr
  eilig. Die Leute ging es aber nichts an, sondern nur mich und -- euch.
  Sie haben heute noch einen heißen Arbeitstag vor sich, und so schickte
  es sich nicht, sogleich damit herauszufahren. Für mich -- für uns ist es
  wieder einmal ein schwerer Tag geworden. O, es ist schade, schade! ich
  hatte noch für so lange, lange auf ihn mitgerechnet zu meinem -- zu
  unserem Glück!«
  Bleich und bebend hatte Irene sich erhoben.
  »Welch Unglück ist wieder geschehen?... Ewald! Ewald!« rief sie; und der
  Vetter nahm sanft ihre Hand von seiner Schulter.
  »Nein, Liebe!... es denkt jeder nur immer an das Seinige!... Ewald und
  Eva haben geschickt; -- es ist nur der alte Herr, der Abschied nehmen
  will. Ach, ich denke auch nur an mich! es ist schade, schade; -- zu
  seinem und Evas und zu meinem Glück und Behagen hatte ich noch so lange,
  lange auf ihn mitgezählt! Da ist der Zettel, welchen der Bote gebracht
  hat.«
  Das von Ewald flüchtig gekritzelte, von dem Vetter im ersten Schreck und
  der zusammengehaltenen Aufregung arg zusammengeknitterte Blatt ging von
  Hand zu Hand. Es lautete:
  »Den Vater hat heute morgen, während er seine Holzfäller beaufsichtigte,
  ein Unfall betroffen. Ein Ast eines stürzenden Baumes hat ihn im Rücken
  beschädigt und von den Hüften abwärts gelähmt. Er ist bei voller
  Besinnung und nur zornig auf sich selber. Von mir kann leider nicht die
  Rede sein. Der Alte sagt nur: >Daß ich so dumm auch gerade während
  Deines _Besuchs_ sein mußte, das ärgert mich noch am meisten!< -- Jetzt
  erst weiß ich es, wie fremd ich zu Hause geworden bin. Eva hat Dich
  nötig, Just; also komm zu ihr. Dem alten Herrn wirst du gleichfalls zum
  besten Trost gereichen.«
  Irene hielt jetzt den zerknitterten Zettel; Jule Grote wiegte den
  Oberkörper hin und her und stöhnte: »O Je! o du mein Je; nun geht auch
  der weg!« Mademoiselle sah, über den Tisch vorgebeugt, mit angehaltenem
  Atem auf ihre Herrin, Schülerin und Schutzbefohlene; der Vetter blickte
  zu mir herüber, seufzte nochmals tief und schwer, strich sich mit der
  Hand über Stirn und Augen und fragte:
  »Was ist deine Meinung, Fritz? So rasch als möglich müssen wir hinüber;
  aber du weißt, die Pferde sind augenblicklich alle vom Hofe. Das eine
  
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