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Alte Nester: Zwei Bücher Lebensgeschichten - 11

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  davon versprochen hatte, als mir der Zufall den Titel in dem
  Leihbibliothekskatalog in die Augen spielte.
  Gottlob!
  Dieser Ausruf bezog sich auf den Riegel an der Tür, den ich vorgeschoben
  hatte, nachdem ich den Schlüssel im Schlosse umgedreht hatte gegen einen
  wieder einmal für mich nicht ganz geheuren Tag, der nunmehr in die
  sommerliche Abenddämmerung überging. Und es war durchaus kein in
  ärgerlicher oder geistig-beschwerlicher und überhasteter Arbeit
  hingebrachter Tag, sondern einer von den faulen, trägen, apathischen,
  die, wenn sie einer hinter dem anderen hinschleichen, auf die Länge noch
  unerträglicher werden als die erste Art. O über diese langen,
  schleppenden Stunden, die bei dem Regsten, Lebendigsten nach
  zurückgelegtem dreißigsten Lebensjahre sich einzuschleichen beginnen und
  sogar durch den Kampf mit ihnen dann und wann nur vervielfältigt werden!
  Das sind die Tage, in denen man sich selber wie ein Charakter in einem
  schlechten Romane vorkommen kann, ein unmögliches Geschöpf, mit dem der
  Autor eben auch nichts anzufangen wußte. Öde Makulaturstimmung! das ist
  das richtige Wort; und -- ein Lachen oder Weinen über und um einen
  scheint es nie in der Welt gegeben zu haben in dieser Stimmung!
  Und nun, wie kam es, daß ich mich plötzlich über die Verfasserin von
  Godwie Castle weg auf einer stillen Berglehne, unter der fußhohen
  Tannenanpflanzung und im Thymiansduft und der brütenden Abendsonne der
  Jugendzeit wiederfand?
  Es ist schwierig zu sagen, wie gerade in diesen Fällen seelischer
  Bedrücktheit aus Dunkelheit Licht wird; und ich hüte mich auch wohl, die
  Lösung mit zu großer Anstrengung zu suchen. Der vorgeschobene Riegel
  aber tut unbedingt viel dazu, und um so mehr, je hastiger und
  verworrener das Leben jenseits der Tür sich bewegt und vor dem Fenster
  rauscht......
  »Ich bin's, Herr Doktor!«
  »Wer? in aller Plagegeister Namen!«
  »Ich, Herr Doktor. Die Witwe Maier. Und dann der fremde Herr wieder, der
  heute morgen schon einmal da war und seinen Namen nur Ihnen selber sagen
  wollte.«
  Ich hatte die Stimme meiner Frau Hauswirtin bereits erkannt.
  »I, so wollt' ich doch!« Und der sonnige Bergrücken mit seiner
  Tannenanpflanzung und seinem Thymiansduft, die Hügel mit ihren Wäldern,
  Wiesen und Ackerstreifen nah und fern, der ferne Fluß und die Kirchtürme
  der Heimatsdörfer waren versunken: der fremde Herr, der am Morgen
  während meiner Abwesenheit bereits einmal dagewesen war und seinen Namen
  nicht hatte kundgeben wollen, stand vor mir -- stattlich, braunbärtig,
  breitschulterig und in einem wohlsitzenden kleidsamen Sommerkostüm. Und
  anstatt jetzt zuerst mir seinen Namen zu nennen, reichte er mir die Hand
  entgegen und sagte mit dem Ausdruck verzwicktest gelassener Bonhommie:
  »Guten Abend, Langreuter.«
  Ich aber stand dem langen, festen Menschen gegenüber auf ziemlich
  unsicheren Füßen:
  »Das ist -- ich bin -- aber ist denn das?... Ewald?!... mein Gott, Ewald
  Sixtus!... Ist es denn möglich?... Ewald Sixtus! Bei allem, was lebt,
  das bist du?«
  »Und _du_ bist das auch!« sprach der Freund. »Ich habe dich sofort
  wiedererkannt, und jetzt sei so gut und nimm meine Hand; ihr braven,
  übersinnlichen Zweifler habt gewöhnlich am innigsten das Bedürfnis, euch
  durch Befühlen von der Wirklichkeit der Dinge zu überzeugen. Alter
  Freund Thomas, ich freue mich unendlich, dich endlich mal
  wiederzusehen!«
  Ich setzte mich, rede aber von den Lauten und Gesten der Überraschung
  nicht weiter, sie wiederholen sich wie alles übrige auf Erden. Aber
  alles, was mir der Vetter Just neulich von seinem Besuche in Belfast und
  von diesem Manne erzählt hatte, glitt jetzt blitzschnell durch mein
  Gehirn. Der irische Ingenieur aus Belfast, Herr Ewald Sixtus aus Werden,
  nahm auch einen Stuhl und setzte sich gleichfalls und -- sah mich von
  der Seite an.
  Eines hatte ich in meiner Einsamkeit zu einer gewissen Vollkommenheit
  gebracht: die große Kunst, auf Blicke zu achten, und _dieser_ hob mir
  nur den Vorhang von einer uralten Lehre weg:
  »Nun, dies ist aber großartig! _Er ist ganz der Alte geblieben_, und er
  hat den Vetter Just und uns alle jetzt nur gerade so zum Narren gehalten
  wie vor zehn, fünfzehn oder zwanzig Jahren!« ......
  Wie ein Schleier sank es abermals nieder vor der Zeit, die vor zehn,
  zwanzig und noch mehr Jahren war. Schloß und Dorf Werden, die Weser und
  der Steinhof lagen abermals im Sonnenlichte; aber durch das Sonnenlicht
  lief's wie ein sonniges, mutwilliges Grinsen, und -- Ewald Sixtus hieß
  einer der Hauptzüge der schönen Gegend!
  »O Ewald!... Willkommen! sei mir herzlich willkommen zu Hause!... Der
  Vetter Just -- unser Just Everstein hat mich neulich schon von dir
  gegrüßt!«
  »Unmöglich!« sprach dieser vollkommen irländische Land- und
  Wasserbaukünstler trocken. »^Och honey^, ich erinnere mich nicht, irgend
  jemand einen Gruß an Euch mitgegeben zu haben.«
  Eine solche Mischung von grünem Erin und den grünsten Wald- und
  Wiesengehegen rund um Schloß und Dorf Werden war seit Anfang der Dinge
  noch nicht dagewesen und kam vielleicht auch bis zum Ende derselbigen
  nicht wieder! Bei allem, was je die Schule schwänzte, den biedersten
  Nachbar zum besten hatte und je in die weite Welt auf Abenteuer
  durchging, was war denn dies?
  Und der Vetter Just war doch ein Mann, der auch allmählich allerlei
  Menschen gesehen hatte, und auf dessen Beobachtungsgabe und Urteilskraft
  man sich jetzt doch so ziemlich verlassen konnte! Sollte der Vetter
  Just, der sich so lange unter den schlauen Amerikanern aufgehalten
  hatte, dieser Vetter, der es durch mehr als eine Tat bewiesen hatte, daß
  man seinen Erfahrungen so ziemlich trauen durfte -- sich so sehr geirrt
  haben? Sollte er wirklich von dem lustigen Werdener Vogel aus den alten
  Nestern im Baum an der Gartenhecke so ganz in der alten Weise an der
  Nase herumgezogen worden sein?
  »Der?!« fragte der deutsch-irländische ^Engineer^, jetzt um so
  verschmitzter grinsend, als er im Moment vorher trocken getan hatte.
  »Alter Junge, dich hätte ich doch wenigstens für um ein Atom klüger
  gehalten. Menschen, ihr seid doch zu göttlich!... Oh, oh, ah, der Vetter
  Just! der Vetter Just vom Steinhofe? -- Da lasse ich ihn, als ich, aus
  der süßen Heimat halb weggejagt, durchgehe, mir vorangehen, um in der
  öden Fremde wenigstens einen süßen Trost an etwas aus dem alten Neste zu
  haben -- und was passiert? Habe ich ihn darum auf seinem Steinhofe in
  seiner ganzen absonderlichen Glorie gelten lassen und mich meine ganzen
  heimatlichen Flegeljahre hindurch himmlisch über ihn amüsiert, daß er
  auf einmal in Belfast wie ein Pastor, der die Tischglocke überhört hat,
  vor mir steht und mir Moral, Tugend, heimatliche Gefühle und wer weiß
  was sonst noch predigt -- durch sein Beispiel? -- Kommt man Paddy so?...
  Ganz gewiß nicht! Der Vagabondenkönig von Ithaka -- wie heißt er doch,
  Langreuter? -- ist gar nichts gegen ihn, den Vetter Just, sowohl was
  seine Abenteuer, wie seine unmenschliche Weisheit, Klugheit und
  Philosophie anbetrifft. O, und so herzensgut ist der Kerl -- geblieben!
  Und den Steinhof hat er auch wieder! ^By Jingo^, lassen muß man es ihm,
  ein Prachtbursche ist er, und seinen Ruhm für alle seine famosen
  Leistungen soll er bedingungslos behalten, wenn er nur -- für mich immer
  der Vetter -- der Vetter Just bleibt. Für mich, der der einzige war,
  welcher von Kindesbeinen an euch übrige alle nach allen euren
  Verdiensten unparteiisch zu würdigen wußte. Im Ernst, Fritze, es hat mir
  Mühe genug gekostet, ihm nicht um den Hals zu fallen und eine spaßhafte
  Träne ihm auf die Schulter hin zu weinen. Aber ich sagte dreimal leise:
  Komtesse Irene von Everstein! und blieb kühl wie eine saure Gurke. ^Cool
  as a cucumber^, sagt drüben auf der Smaragdinsel Blarney O'Shaughnessy,
  wenn er Tim O'Connor mit dem Knüppel zu Leibe gehen will, weil der ihn
  an Großartigkeit und Heroentum übertroffen hat. ^Och, faix, it's a long
  story^, und es wäre viel davon zu sagen, weshalb ich diesen dummen
  Mädchennamen dreimal hersagte, um mir meinen Gleichmut wenigstens
  äußerlich gegen diesen heillos gemütlichen Neu-Mindener aufrecht zu
  erhalten; -- nicht wahr, Fritzchen Langreuter?«
  »Das wäre es wohl!« murmelte ich unwillkürlich, und in demselben
  Augenblick packte mein Gast meinen Arm mit einem Griff wie aus Stahl und
  Eisen und rief:
  »Und was ist es denn, was er mehr ausgerichtet hat als ich? Er sitzt von
  neuem auf seinem Steinhofe; ich aber -- _habe Schloß Werden wieder_!«
  ...
  Ich sagte nichts, denn ich hatte nichts zu sagen. Die Wunder, die mich
  der Herr sehen ließ, ohne daß ich über das Wasser gefahren war,
  betäubten mich zu sehr.
  »Und hier sitze ich,« fuhr Ewald Sixtus fort, »um dich aufzufordern,
  übermorgen mit mir hinüberzufahren, um ^that old sheebeen^, die alte
  Herberge von neuem für -- uns in Besitz zu nehmen. Dringende Abhaltung
  hast du ja wohl nicht?«
  Es war mir zwischen meinem mühseligen Sich-wieder-auf-sich-besinnen
  durch dunkel so, als ob auch der Vetter Just neulich einige Male eine
  ganz ähnliche Aufforderung zur Reise mit ganz den nämlichen Worten
  beschlossen habe, wie der irische Ingenieur.
  Mr. Sixtus legte mir zutraulich schmeichelnd die Hand auf die Schulter:
  »Es bleibt dabei, du begleitest mich nach Schloß Werden?!«
  Ich aber kam in diesem Augenblick nicht einmal dazu, ihn zu fragen,
  weshalb er denn, wenn sich alles übrige so verhalte, die Korrespondenz
  auch mit seinen nächsten Angehörigen so schmählich vernachlässigt habe?
  
  
  Drittes Kapitel.
  
  Davon sprachen wir auf der Reise; denn wir reisten wirklich. Wie ein
  Kind im Sack wurde ich von diesem wilden Irländer aus dem Försterhause
  zu Dorf Werden mitgenommen. Er kam und half mir beim Packen, er packte
  für mich, und er packte mich selber und ließ nicht los. Hals über Kopf
  wurde auch ich wie in einen Reisesack hineingestopft und in eine
  Droschke geworfen; wie ich es dann und wann bereute, daß ich mich nicht
  schon von dem Vetter Just Everstein hatte mitnehmen lassen, kann ich gar
  nicht sagen.
  »Nach dem Potsdamer Bahnhofe, Kutscher, und rasch! Viele Zeit haben wir
  nicht übrig.«
  Mit dem Gefühle, meine Türen, meine sämtlichen Schubladen, Kisten und
  Kasten unverschlossen und jeglicher Durchstöberung offen hinter mir
  zurückgelassen zu haben, kam ich auf dem Bahnhofe an. Wir hatten in der
  Tat nur noch fünf Minuten vor dem Abgang des Zuges übrig, und das
  Schicksal benutzte dieselben, um mir einen rettenden Finger in den
  Wirbeln des aufregungsvollen Tages hinzuhalten.
  »Siehe da! Reisen wir in der Tat zusammen, Herr Doktor?« fragt eine
  Stimme mir gegenüber in dem Coupé, in das ich von dem raschen Freunde
  mehr gehoben als geschoben worden war, und ein einige fünfzig Jahre
  alter korpulenter Herr hob mit wohlwollendem Lächeln den Strohhut von
  einer ungemein glänzenden Stirn, grüßte auch meinen Irländer und meinte
  mit etwas asthmatischem Keuchen, das auf eine vielleicht etwas zu gute
  Ernährung und zu wenig körperliche Bewegung hindeutete:
  »Ja? Dies freut mich wirklich. So bleiben wir so ziemlich bis zum Ende
  der Fahrt beisammen und hoffentlich möglichst unter uns. Bitte, mein
  Herr, lassen Sie mich bis zum Abgang des Zuges aus dem Fenster blicken.
  Ich bin der Dickste und schrecke am meisten ab.«
  Mr. Sixtus sah sich den Fremden an, aber -- bereits von hinten. Breit,
  schwitzend und blasend lag derselbige schon im Wagenfenster, sich ganz
  und gar für jetzt -- dem Publikum unter der Bahnhofshalle widmend, und
  Ewald ließ von den weit auseinanderklaffenden Rockschößen des
  Reisegenossen den Blick fragend zu mir hinübergleiten.
  »Kennst du ihn nicht mehr?... Bösenberg! -- Stadtrat Bösenberg aus
  Finkenrode,« flüsterte ich.
  »Ich werde mich sofort selber Ihnen wieder vorstellen, Sixtus,« sprach
  der Stadtrat, halb über die Schulter zurück sich wendend, ins Coupé
  hinein. »Da gehen wir ab und bleiben fürs erste wenigstens als
  Provinzgenossen unter uns. So.«
  Er setzte sich, nachdem sich der Zug in Bewegung gesetzt hatte, breit
  und behaglich, wischte nochmals die Stirn mit dem ziemlich provinzhaft
  aussehenden Sacktuch und sagte:
  »Lieber Herr, ich bin in der Tat der Stadtrat Bösenberg aus Finkenrode.
  Habe hier in dem ungemütlichen Großnest die letzten Wochen hindurch
  meine alljährliche, von verschiedenen Leuten sogenannte Auffrischungskur
  glücklich abgemacht; -- Sie kennen das ja, Langreuter; -- sehne mich
  unendlich nach meinem Schlafrock und meinen Pantoffeln und -- Sie habe
  ich auf der Stelle wiedererkannt, Sixtus, obgleich ich seit einer
  erklecklichen Reihe von Jahren nicht das Vergnügen hatte, Sie zu sehen.
  Wo haben Sie denn eigentlich gesteckt, junger Mann?«
  Der »junge Mann« gab willig in der Kürze die gewünschte Auskunft, und
  der Finkenrodener Stadtrat sagte:
  »Sieh, sieh.«
  Mir, der ich ihn, abgesehen von allem übrigen, auch aus der
  Literaturgeschichte kannte, war das Zusammentreffen mit ihm und seine
  Reisegenossenschaft keineswegs zuwider. Und da wir von dem gewöhnlichen
  Reisetumult und Gedränge in unserem Wagen ziemlich ungestört blieben,
  hinderte uns nichts oder doch nur wenig, so vertrauensvoll und
  mitteilsam gegeneinander zu sein, als das unter verständigen oder
  verständig gewordenen Leuten nur irgend der Fall sein kann. Was den
  Freund Ewald anbetraf, den der Vetter Just als einen vollständig
  ausgewechselten Werdener, als einen stocktauben und stockstummen
  Engländer in Belfast wiedergefunden zu haben glaubte, so war der auch
  jetzt derjenige, welcher das kleinste oder vielmehr gar kein Blatt in
  irgendeiner Beziehung vor den Mund nahm, so daß dies mir, wenigstens im
  Anfang, dem uns doch ziemlich fremden Stadtrat gegenüber ein wenig
  peinlich war. Alle seine und unsere Geschichten kramte er mit einer
  Unbefangenheit aus, die ganz und gar Schloß und Dorf Werden, Bodenwerder
  und der Steinhof war. Wie der Poet aus dem Sumpfe der Alltäglichkeit die
  Perle des Interesses für seine Zuhörer herausfischt, so ging dieser
  irländische Ingenieur, wenigstens zu Anfang unserer Reise, auf den Fang
  aus im Bereiche der größten Trivialität unserer Jugenderlebnisse, und
  die Fragen: Weißt du noch, Fritz? Erinnerst du dich noch, Langreuter?
  Alter Kerl, das kannst du doch unmöglich vergessen haben? -- schienen
  nimmer ein Ende nehmen zu wollen. Poetisch aber gebärdete er sich
  durchaus nicht bei dieser Fischerei und wurde, wie ich nicht umhin kann
  zu bemerken, von dem Finkenrodener städtischen Würdenträger und früheren
  lyrischen Subredakteur des freilich auch schon ziemlich lange selig in
  allen seinen Sünden entschlafenen »Chamäleons« nach dieser Richtung hin
  nicht im mindesten entmutigt, sondern im Gegenteil: der Verfasser der
  »Heiratsgedanken«, der Dichter der »frommen Liebeslieder« gab nur da zum
  ersten Mal seine abweichende Ansicht durch ein asthmatisch Gegrunze zu
  erkennen, wo mein Jugendfreund zwischen zwei abgeschmackten Schnurren
  mit einem Seufzer sagte:
  »Meine Herren, achten Sie dann und wann nicht auf mich! Ich sitze hier
  immer doch mit einem merkwürdigen Gemisch von Gefühlen; und Rührung und
  Beängstigung sind die vorherrschenden. Sie, Herr Bösenberg, haben ja
  aber auch einmal Ähnliches auf dieser selben Bahnstrecke durchgemacht,
  darüber geschrieben und das Geschriebene sogar drucken lassen.«
  Der Stadtrat gab einen Ton von sich, der ungefähr wie: »_Whu_!« klang.
  Dann brummte er:
  »Jawohl. _Das_ Vergnügen habe ich mir und einigen anderen gemacht. Ich
  danke Ihnen für die gütige Erinnerung, lieber Sixtus. Es ist mir
  freilich so, als ob ich das alles in Ihnen und dem anderen Herrn da in
  der anderen Ecke jetzt zum zweiten Mal erlebe; aber Gott sei gelobt und
  gepriesen! zu schreiben brauche ich heute nicht mehr darüber! also --
  erzählen Sie nur ruhig weiter von sich und dem Herrn Vetter Everstein
  und dem Herrn Doktor da; -- von Schloß Werden, dem Försterhause und dem
  Steinhofe. Die Hauptsache denke ich mir selber dann wohl schon dazu. Ja,
  ich habe es mit vielem Interesse schon auf dem letzten Ostermarkt
  gehört, daß Frau von Rehlen, die frühere Komtesse Everstein, nunmehr
  ihren Aufenthalt bei dem Vetter Just auf dem Steinhofe genommen hat.
  Fräulein Schwester befindet sich, unberufen, immer noch recht wohl,
  pflegt den alten guten Papa und verkehrt dann und wann recht
  freundschaftlich mit meiner alten Freundin, Frau Sidonie Mietze in
  Bodenwerder. Sie wissen doch, daß der Spiritusfabrikant schon vor
  fünfzehn Jahren nach der Heimat des Freiherrn von Münchhausen
  übersiedelte?«
  Ich wußte das letztere nicht, da es mich im Grunde auch wenig
  interessierte; aber seltsamerweise wußte es der Ingenieur und
  interessierte sich auch sehr dafür. Seine Kenntnis der heimischen
  Zustände war in der Tat überraschend, und, was mir als das Auffallendste
  erschien, nichts von allem hatte sich ihm irgendwie ins Phantastische
  gezogen, wie das leider bei mir heute der Fall war und im Jahre
  Achtzehnhundertachtundfünfzig bei dem heutigen alten, fett und Stadtrat
  gewordenen Junggesellen Dr. Max Bösenberg.
  Es waren dieselben Geleise, auf denen wir mit dem Eilzuge dahinglitten:
  ich, der Biograph der Leute von Schloß Werden, heute, und der Doktor
  Bösenberg, der Biograph der Kinder von Finkenrode, damals. Ganz
  wunderlich sprach der irisch-deutsche Baukünstler aus seiner Wagenecke
  darein; nämlich so hell, unbefangen und vernünftig, daß _ich_ kaum ein
  Wort dazwischen zu reden wagte und dem Stadtrat dankbar war, wenn er das
  mit schwitzender Gemütlichkeit tat.
  »Weshalb ich nicht häufiger an die lieben Angehörigen -- das gute Evchen
  und den alten Papa schrieb? Weshalb ich ihnen nicht von Tag zu Tag über
  mich Nachricht und Rechenschaft gab?« fragte der Ingenieur und jetzige
  Besitzer von Schloß Werden. »Einfach aus dem nämlichen Grunde, aus
  welchem die zärtlichsten Leute es verabsäumen, die gewöhnlichsten
  Pflichten der Höflichkeit zu erfüllen, ^gentlemen^. Heute haben sie
  keine Zeit, und morgen haben sie keine Lust. Gewissensbisse lassen sich
  in dieser Hinsicht weit leichter verdauen als die Ärgernisse, die an
  allem hängen, was in der Ferne vordem unsere Behaglichkeit, unser
  Pläsier und -- unsere Hoffnung war. Es quält einen in der Fremde nichts
  mehr als das Schönste und Liebste, was man in der Heimat gehabt hat und
  hat aufgeben müssen! Habe ich nicht recht, Herr Bösenberg?«
  »Natürlich! Von Ihrem Standpunkte aus!« brummte der Stadtrat und summte
  dabei aus Zampa: Wenn ein Mädchen mir gefällt!... »Bitte um etwas Feuer,
  wenn Ihre Zigarre noch brennt. Ich habe so ein Liedchen von den
  Zuständen und Verhältnissen zu Werden singen hören. Bis in unsere
  Magistratssitzungen drang es herüber nach dem Tode des Alten -- ich
  meine des alten Biedermanns und bankerotten Dynasten von Schloß Werden.
  Man wächst dann und wann nicht ungestraft zusammen auf als Jüngling und
  Jungfrau, wenn man nicht zufällig Bruder und Schwester ist. Kenne das!
  Also deshalb haben Sie nicht häufiger nach Hause geschrieben? Aber
  fahren Sie nur fort! Das andere interessiert einen nach den eigensten
  persönlichen Erlebnissen immer noch, selbst wenn man mehr oder weniger
  durch Gunst der Götter zu den Höchstbesteuerten in seiner Kommune gehört
  und es -- zu einer Stellung gebracht hat wie ich.«
  Wir waren diesmal mit dem Abendzuge von Berlin abgefahren und fuhren
  also auch in die beginnende Nacht hinein wie der Feuilleton-Redakteur
  des Chamäleons im Jahre Achtundfünfzig. Der einzige Unterschied bestand
  darin, daß es Sommer war und nicht der dreißigste November wie damals.
  Jenes Buch von den Kindern von Finkenrode hatte aber seinerzeit,
  wenigstens in unserer Gegend, und dieses selbstverständlich, ein
  gewisses drolliges, mit Erstaunen vermischtes Aufsehen gemacht, und die
  Figuren und Situationen hafteten mir auch heute noch deutlich genug im
  Gedächtnisse, um mich ihnen, sowie dem -- gegenwärtigen Stadtrat Dr. Max
  Bösenberg mit vollstem Verständnis hingeben zu können. Was ich dann und
  wann aus dem Buche zitiere, schreibe ich freilich, wie das nicht anders
  sein kann, nachträglich ab. Auswendig wußte ich es nicht.
  »Zu Hause! Jeder aufblitzende Lichtstrahl aus einem Hüttenfenster auf
  der nebeligen Heide erfüllte mich mit einem Gefühl der Verödung, der
  Vereinsamung. Zu Hause! Wo ist mein Haus? Wo ist meine Heimat?... Mein
  Blick verlor sich in dem dichter gewordenen Nebel draußen. Der Zug flog
  in diesem Augenblick über ein altes Schlachtfeld, wo vor langen Jahren
  um Langvergessenes Tausende und Abertausende geblutet hatten. Es schien
  mir, als ob die wogenden, wallenden Dunstmassen sich in kämpfende Männer
  und Rosse verwandelten, zum Kampfe um ein zerfließendes Nichts. Im
  wilden, geisterhaften Getümmel drängte sich ein Chaos phantastischer
  Gestalten auf beiden Seiten des dahinschießenden Dampfrosses,
  zerschellte an den Rädern, ballte sich von neuem, wirbelte von neuem
  gespensterhaft durcheinander. Auch ich kam ja aus einer Schlacht, wilder
  als je eine mit Waffen von Stahl und Eisen gekämpft wurde. Wie manchen
  hatte ich an meiner Seite fallen sehen, wie manchen hatte ich auf dem
  Schild mit heraustragen helfen aus dem Getümmel:
   -- ^at socii multo gemitu lacrimisque^
   ^Impositum scuto referunt^ --«
  »Sie schnupfen wirklich nicht, Doktor?« fragte der Stadtrat, mir von
  neuem die silberne Dose, die jedenfalls auch aus der von ihm
  beschriebenen Erbschaft des weiland Onkels Bösenberg zu Finkenrode
  stammte, anbietend. »Sie sollten sich allgemach das doch auch
  angewöhnen. Ein jeglicher befindet sich auf einmal, ganz ohne es vorher
  bemerkt zu haben, in den Jahren, wo er dieses beinahe zu seinen
  ästhetischen Genüssen zählt. Sie sollten sich wirklich bald gleichfalls
  eine Dose zulegen, Doktor Langreuter.«
  Nachher holte er, während ich -- sehr gestört durch ihn! -- immer noch
  den Wegen, Geschicken, Erleuchtungen und Verdunkelungen des Lebens
  nachzusinnen versuchte, aus einem eleganten und sehr praktischen
  Reisefutteral verschiedenes Trinkbare und Eßbare hervor, von dem er uns
  höflich anbot, an welchem jedoch nur der Ingenieur mit unverhohlenem
  Wohlbehagen und unverkennbarem Durste sich beteiligte.
  Nachher sprach er, der Stadtrat:
  »Weiß der Teufel, ich werde immer sofort schläfrig im Eisenbahnwagen!«
  und als der Schaffner die Lampe in unserem Coupé anzündete, tönte
  bereits sein sehr gesundes und regelmäßiges Schnarchen in meine
  Erinnerungen an sein liebenswürdiges Buch hinein. Ich gab es auf, mich
  mit ihm und seinen jugendlichen schriftstellerischen Leistungen (als
  noch nicht er, sondern höchstens Weitenweber schnupfte!) für jetzt
  weiter zu beschäftigen, und wendete mich wieder dem Jugendfreunde zu.
  Dieser saß wach in seiner Ecke, hatte das Gesicht gegen das offene
  Fenster geneigt, und nur von Zeit zu Zeit fiel der Schein der trüben
  Laterne unter der Decke darauf hin. Dann gefiel es mir jedesmal sehr und
  immer besser. Ich hatte mich nun schon nach und nach in das Wesen des
  Mannes mit mehr Verständnis hineingefunden. An die »Türme der
  versunkenen Julin«, wie der schnarchende Stadtrat voreinst in seinem
  Buche, dachte er unbedingt nicht: er lächelte zu heiter und hell dazu in
  die vorbeifliegende Sommernachtslandschaft hinein; aber es war doch auch
  ein lebendiger Ernst in diesem Werdener Irländer. Er glaubte sich
  unbeachtet genug in der Dämmerung, um längere Zeit auch einmal ein sehr
  ernstes Gesicht machen zu dürfen, und nimmer hatte ich ein vertrackt
  unleserlich Pergament-Manuskript mit größerem Interesse zu enträtseln
  gesucht wie jetzt im rötlichen Schein der Wagenlaterne die männlich
  schönen Züge meines Jugendfreundes.
  Eine Erbschaft wie die des Onkels Bösenberg dem Redakteur des
  Chamäleons, war ihm nicht in den Schoß gefallen; Ewald Sixtus kam nicht
  heim wie der Bauer vom Steinhofe, der Vetter Just Everstein; aber was
  wir auch an ihm noch in der nächsten Zeit auf Schloß Werden, im Dorfe,
  in Bodenwerder, auf dem Steinhofe und in der Umgegend erleben mochten,
  ich hatte für _ihn_ keine Sorge mehr.
  Wissen kann man es ja nicht, was die nächste Stunde bringen wird, und
  nur die Narren pflegen das ganz genau vorauszusagen; aber für diesen
  gefesteten, hellen, heiteren Menschen brachte sie nichts, was er nicht
  im Guten wie im Schlimmen mit in seine Rechnung gezogen hatte, und das
  ist immer viel und bedeutet im Bösen wie im Guten die Hauptsache und
  Hauptwaffe im bitteren Kampfe der Verwirrungen dieses verzwickten
  Daseins auf der Erde.
  Da war die berühmte Festungsstadt, die wir auch diesmal wie einst der
  Doktor Bösenberg, ruhig seitwärts liegen ließen. Keine Jungfrau ließ den
  gehobenen Schleier wieder sinken in unserem Coupé und schlüpfte zierlich
  aus dem Wagen. Kein alter zu einem Taugenichts von Sohne reisender Herr
  sagte grimmig: Der wird sich wundern! Wir hatten keine Kinder zärtlich
  harrenden Vätern aus dem Wagen zuzureichen.
  »Wahrhaftig, wieder mal das verdammte Nest!« schnurrte der Finkenrodener
  Stadtrat, aus dem Schlummer aufgerüttelt und verdrießlich sich dehnend
  und die Augen reibend. »Jedes Mal, wenn ich hier halte, schwöre ich mir
  zu, daß es das letzte mal gewesen sein soll, -- und weiß der Henker, da
  sind wir doch wieder, und natürlich nicht eine Idee von einem Kellner am
  ganzen Zuge!« ...
  Wir fuhren weiter, und es war kurz vor Sonnenaufgang, als der Schaffner,
  von neuem die Tür aufreißend, »_Station Sauingen_!« schrie. Statt einer
  an einer langen Stange schwankenden Laterne glimmte eine ganze Reihe
  dergleichen den breiten »Bahnsteig« und die stattlichen Bahnhofsgebäude
  entlang und in die rosige Eos hinein. Der Ort hatte sich in den letzten
  zwanzig Jahren fast nicht weniger als der Dr. Max Bösenberg verändert.
  Wenn dieser Stadtrat, so war jener ein lebendigster Eisenbahnknotenpunkt
  geworden; und die Bahn nach Finkenrode war seit mehr denn zehn Jahren
  ebenfalls weiter gebaut worden. Wir erlebten diesmal nicht die
  geringsten tragischen und heiteren Abenteuer zum Besten eines erstaunten
  Leserkreises in Sauingen als vielleicht das Wort des Biographen der
  Kinder von Finkenrode:
  »Sollten Sie es für möglich halten, meine Herren, daß ich mich noch
  immer nicht anders als mit aufgeklapptem Rockkragen und dem Taschentuche
  vor der Physiognomie durch den Ort schleichen darf? Vor einem Jahre
  hatte man hier eine Provinzial-Viehausstellung mit Preisverteilung
  arrangiert, und ich war als Vertreter unseres Gemeinwesens hergeschickt
  worden. Ich sage Ihnen, das nächste Mal lasse ich sicherlich einem
  anderen die Ehre und das Vergnügen. Sie hatten nichts vergessen! Wohl
  verkorkt hatten sie ihre ganze Ranküne, wie auf Flaschen gezogen, zur
  Hand, ein jeglicher von ihnen die seinige bei seinem Teller; und was das
  Vergessen meinerseits anbetrifft, so ist es durchaus keine Kunst, den
  vergnügten Tag, welchen ich damals unter ihnen hinzubringen hatte, in
  alle Ewigkeit nicht zu vergessen. Gott sei Dank, diesmal fahren wir mit
  einem Aufenthalt von fünf Minuten durch. In einer Stunde sind wir in
  Finkenrode; ein wenig übernächtig fühlen wir uns doch alle; ich lade Sie
  hiermit freundschaftlichst zum Frühstück. Nachher schlafe ich aus, und
  nichts hindert Sie, dasselbe zu tun oder das Dampfschiff stromabwärts
  nach Münchhausenburg zu benutzen. Von Bodenwerder werden Sie ja dann
  wohl schon ohne Führer die alte Heimat erreichen, und wünsche ich viel
  Pläsier dazu. Sollte Ihnen zufällig daselbst mein guter alter Freund
  Alexander begegnen, so bitte ich, ihn recht schön von mir zu grüßen.«
  Die Sonne ging auf. Wir erreichten Finkenrode und frühstückten wirklich
  daselbst in dem Hause des weiland Onkels Bösenberg. Mir roch es recht
  moderig und unbehaglich drin. Mit welchen modernen Gefühlen, Stimmungen
  und »Meliorationsintentionen« der heutige Inhaber vor zwanzig Jahren
  hineingezogen sein mochte und, seinem Buche nach, hineingezogen war: er
  hatte sich allgemach geradeso darin verpuppt wie der alte Herr, und er
  war noch dazu ein recht alter Junggesell darin geworden. Das Bild der
  Frau mit dem Kinde auf dem Arme sah jedoch auf einen ungemein
  verständnisreich besetzten Tisch herab. Der Stadtrat war fett geworden
  in dem alten Hause und wurde noch immer fetter drin; dies schien mir so
  ziemlich der einzige Unterschied gegen die Tage der Vergangenheit zu
  sein.
  Daß aber ein wohlgemeintes Wort häufig viel mehr Verdruß anrichtet als
  die überlegteste Bosheit in Wort und Tat, das sollte ich auch jetzt
  
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