Diesseits: Erzählungen - 06

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mächtig in die Speisengerüche hinein. Herr Abderegg tranchierte den
Braten, die Tante visierte scharfäugig Teller und Schüsseln. Der
Professor saß wohlgemut und festlich im Gehrock am Ehrenplatz, warf der
Tante sanfte Blicke zu und störte den eifrig arbeitenden Hausherrn durch
zahllose Fragen und Witze. Fräulein Thusnelde half zierlich und lächelnd
beim Herumbieten der Teller und kam sich zu wenig beschäftigt vor, da
ihr Nachbar, der Kandidat, zwar wenig aß, aber noch weniger redete. Die
Gegenwart eines altmodischen Professors und zweier junger Damen wirkte
versteinernd auf ihn. Er war im Angstgefühl seiner jungen Würde
beständig auf irgend welche Angriffe, ja Beleidigungen gefaßt, welche er
zum voraus durch eiskalte Blicke und angestrengtes Schweigen abzuwehren
bemüht war.
Berta saß neben der Tante und fühlte sich geborgen. Paul widmete sich
mit Anstrengung dem Essen, um nicht in Gespräche verwickelt zu werden,
vergaß sich darüber und ließ es sich wirklich besser schmecken als alle
anderen.
Gegen das Ende der Mahlzeit hatte der Hausherr nach hitzigem Kampfe mit
seinem Freunde das Wort an sich gerissen und ließ es sich nicht wieder
nehmen. Der besiegte Professor fand nun erst Zeit zum Essen und holte
maßvoll nach. Herr Homburger merkte endlich, daß niemand Angriffe auf
ihn plane, sah aber nun zu spät, daß sein Schweigen unfein gewesen war,
und glaubte sich von seiner Nachbarin höhnisch betrachtet zu fühlen. Er
senkte deshalb den Kopf so weit, daß eine leichte Falte unterm Kinn
entstand, zog die Augenbrauen hoch und schien Probleme im Kopf zu
wälzen.
Fräulein Thusnelde begann, da der Hauslehrer dauernd versagte, ein sehr
zärtliches Geplauder mit Berta, an welchem die Tante sich beteiligte.
Paul hatte sich inzwischen voll gegessen und legte, indem er sich
plötzlich übersatt fühlte, Messer und Gabel nieder. Aufschauend
erblickte er zufällig gerade den Professor in einem komischen
Augenblick: Er hatte eben einen stattlichen Bissen zwischen den Zähnen
und noch nicht von der Gabel los, als ihn gerade ein Kraftwort in der
Rede Abdereggs aufzumerken nötigte. So vergaß er für Augenblicke, die
Gabel zurückzuziehen, und schielte großäugig und mit offenem Munde auf
seinen sprechenden Freund hinüber. Da brach Paul, der einem plötzlichen
Lachreiz nicht widerstehen konnte, in ein mühsam gedämpftes Kichern aus.
Herr Abderegg fand im Drang der Rede nur Zeit zu einem eiligen
Zornblick. Der Kandidat bezog das Lachen auf sich und biß auf die
Unterlippe. Berta lachte mitgerissen ohne weiteren Grund plötzlich auch.
Sie war so froh, daß Paul diese Jungenhaftigkeit passierte. Er war also
wenigstens keiner von den Tadellosen.
»Was freut Sie denn so?« fragte Fräulein Thusnelde.
»O, eigentlich gar nichts.«
»Und dich, Berta?«
»Auch nichts. Ich lache nur so mit.«
»Darf ich Ihnen noch einschenken?« fragte Herr Homburger mit gepreßtem
Ton.
»Danke, nein.«
»Aber mir, bitte,« sagte die Tante freundlich, ließ jedoch den Wein
alsdann ungetrunken stehen.
Man hatte abgetragen und es wurden Kaffee, Kognak und Zigarren gebracht
-- »wenn die Damen es wirklich gern erlauben.« Sie erlaubten es, und
auch der Kandidat steckte sich eine Zigarre an.
Paul wurde von Fräulein Thusnelde gefragt, ob er auch rauche.
»Nein,« sagte er, »es schmeckt mir gar nicht.«
Dann fügte er, nach einer Pause, plötzlich ehrlich hinzu: »Ich darf auch
noch nicht.«
Als er das sagte, lächelte Fräulein Thusnelde ihm schelmisch zu, wobei
sie den Kopf etwas auf die Seite neigte. In diesem Augenblick erschien
sie dem Knaben scharmant und er bereute den vorher auf sie geworfenen
Haß.
Sie konnte doch sehr nett sein.
* * * * *
Der Abend war so warm und einladend, daß man noch um elf Uhr unter den
leise flackernden Windlichtern im Garten draußen saß. Und daß die Gäste
sich von der Reise müde gefühlt hatten und eigentlich früh zu Bett
hatten gehen wollen, daran dachte jetzt niemand mehr.
Die warme Luft wogte in leichter Schwüle ungleich und träumend hin und
wider, der Himmel war ganz in der Höhe sternklar und feuchtglänzend,
gegen die Berge hin tiefschwarz und goldig vom fiebernden Geäder des
Wetterleuchtens überspannt. Die Gebüsche dufteten süß und schwer und der
weiße Jasmin schimmerte mit unsicheren Lichtern fahl aus der Finsternis.
»Sie glauben also, diese Reform unsrer Kultur werde nicht aus dem
Volksbewußtsein kommen, sondern von einem oder einigen genialen
Einzelnen?«
Der Professor legte eine gewisse Nachsicht in den Ton seiner Frage.
»Ich denke es mir so --« erwiderte etwas steif der Hauslehrer und begann
eine lange Rede, welcher außer dem Professor niemand zuhörte.
Herr Abderegg scherzte mit der kleinen Berta, welcher die Tante Beistand
leistete. Er lag voll Behagen im Stuhl zurück und trank Weißwein mit
Sauerwasser.
»Sie haben den Ekkehard also auch gelesen?« fragte Paul das Fräulein
Thusnelde.
Sie lag in einem sehr niedrig gestellten Klappstuhl, hatte den Kopf ganz
zurückgelegt und sah geradeaus in die Höhe.
»Jawohl,« sagte sie. »Eigentlich sollte man Ihnen solche Bücher noch
verbieten.«
»So? Warum denn?«
»Weil Sie ja doch noch nicht alles verstehen können.«
»Glauben Sie?«
»Natürlich.«
»Es gibt aber Stellen darin, die ich vielleicht besser als Sie
verstanden habe.«
»Wirklich? Welche denn?«
»Die lateinischen.«
»Was Sie für Witze machen!«
»Man tut eben, was man tun kann.«
Paul war sehr munter. Er hatte zu Abend mehr Wein zu trinken bekommen
als sonst, nun fand er es köstlich, in die weiche, dunkle Nacht hinein
zu reden, und wartete neugierig, ob es ihm gelänge, die elegante Dame
ein wenig aus ihrer trägen Ruhe zu bringen, zu einem heftigeren
Widerspruch oder zu einem Gelächter. Aber sie schaute nicht zu ihm
herüber. Sie lag unbeweglich, das Gesicht nach oben, eine Hand auf dem
Stuhl, die andre bis zur Erde herabhängend. Ihr weißer Hals und ihr
weißes Gesicht hob sich matt schimmernd von den schwarzen Bäumen ab.
»Was hat Ihnen denn im Ekkehard am besten gefallen?« fragte sie jetzt,
wieder ohne ihn anzusehen.
»Der Rausch des Herrn Spazzo.«
»Ach?«
»Nein, wie die alte Waldfrau vertrieben wird.«
»So?«
»Oder eigentlich hat mir doch das am besten gefallen, wie die Praxedis
ihn aus dem Kerker entwischen läßt. Das ist fein.«
»Ja, das ist fein. Wie war es nur?«
»Wie sie nachher Asche hinschüttet --«
»Ach ja. Ja, ich weiß.«
»Aber jetzt müssen Sie mir auch sagen, was Ihnen am besten gefällt.«
»Im Ekkehard?«
»Ja, natürlich.«
»Dieselbe Stelle. Wo Praxedis dem Mönch davonhilft. Wie sie ihm da noch
einen Kuß mitgibt, und dann lächelt und ins Schloß zurückgeht.«
»Ja -- ja,« sagte Paul langsam, aber er konnte sich des Kusses nicht
erinnern.
Des Professors Gespräch mit dem Hauslehrer war zu Ende gegangen. Herr
Abderegg steckte sich eine Virginia an und Berta sah neugierig zu, wie
er die Spitze der langen Zigarre über der Kerzenflamme verkohlen ließ.
Das Mädchen hielt die neben ihr sitzende Tante mit dem rechten Arm
umschlungen und hörte großäugig den fabelhaften Erlebnissen zu, von
denen der alte Herr ihr erzählte. Es war von Reiseabenteuern, namentlich
in Neapel, die Rede.
»Ist das wirklich wahr?« wagte sie einmal zu fragen.
Herr Abderegg lachte.
»Das kommt allein auf Sie an, kleines Fräulein. Wahr ist an einer
Geschichte immer nur das, was der Zuhörer glaubt.«
»Aber nein?! Da muß ich Papa drüber fragen.«
»Tun Sie das!«
Die Tante streichelte Bertas Hand, die ihre Taille umfing.
»Es ist ja Scherz, Kind.«
Sie hörte dem Geplauder zu, wehrte die taumelnden Nachtmotten von ihres
Bruders Weinglas ab und gab jedem, der sie etwa anschaute, einen gütigen
Blick zurück. Sie hatte ihre Freude an den alten Herren, an Berta und
dem lebhaft schwatzenden Paul, an der schönen Thusnelde, die aus der
Gesellschaft heraus in die Nachtbläue schaute, am Hauslehrer, der seine
klugen Reden nachgenoß. Sie war noch jung genug und hatte nicht
vergessen, wie es der Jugend in solchen Gartensommernächten warm und
wohl sein kann. Wie viel Schicksal noch auf alle diese schönen Jungen
und klugen Alten wartete! Auch auf den Hauslehrer. Wie jedem sein Leben
und seine Gedanken und Wünsche so wichtig waren! Und wie schön Fräulein
Thusnelde aussah! Eine wirkliche Schönheit.
Die gütige Dame streichelte Bertas rechte Hand, lächelte dem jetzt etwas
vereinsamten Kandidaten liebreich zu und fühlte von Zeit zu Zeit hinter
den Stuhl des Hausherrn, ob auch seine Weinflasche noch schön im Eise
stehe.
»Erzählen Sie mir etwas aus Ihrer Schule!« sagte Thusnelde zu Paul.
»Ach, die Schule! Jetzt sind doch Ferien.«
»Gehen Sie denn nicht gern ins Gymnasium?«
»Kennen Sie jemand, der gern hineingeht?«
»Sie wollen aber doch studieren?«
»Nun ja. Ich will schon.«
»Aber was möchten Sie noch lieber?«
»Noch lieber? -- Haha --. Noch lieber möcht' ich Seeräuber werden.«
»Seeräuber?«
»Jawohl, Seeräuber. Pirat.«
»Dann könnten Sie aber nimmer so viel lesen.«
»Das wäre auch nicht nötig. Ich würde mir schon die Zeit vertreiben.«
»Glauben Sie?«
»O gewiß. Ich würde --«
»Nun?«
»Ich würde --, ach das kann man gar nicht sagen.«
»Dann sagen Sie es eben nicht.«
»Das tu ich auch.«
Es wurde ihm langweilig. Er rückte zu Berta hinüber und half ihr
zuhören. Papa war ungemein lustig. Er sprach jetzt ganz allein und alles
hörte zu und lachte.
Da stand Fräulein Thusnelde in ihrem losen, feinen englischen Kleide
langsam auf und trat an den Tisch.
»Ich möchte Gutenacht sagen.«
Nun brachen alle auf, sahen auf die Uhr und konnten nicht begreifen, daß
es wirklich schon Mitternacht sei.
Auf dem kurzen Weg bis zum Hause ging Paul neben Berta, die ihm
plötzlich sehr gut gefiel, namentlich seit er sie über Papas Witze so
herzlich hatte lachen hören. Er war ein Esel gewesen, sich über den
Besuch zu ärgern. Es war doch fein, so des Abends mit Mädchen zu
plaudern.
Er fühlte sich als Kavalier und begann zu bedauern, daß er sich den
ganzen Abend nur um die andere gekümmert hatte. Die war doch wohl ein
Fratz. Berta war ihm viel lieber und es tat ihm leid, daß er sich heute
nicht zu ihr gehalten hatte. Und er versuchte ihr das zu sagen. Sie
kicherte.
»O, Ihr Papa war so unterhaltend! Es war reizend.«
Er schlug ihr für morgen einen Spaziergang auf den Eichelberg vor. Es
sei nicht weit und so schön. Er kam ins Beschreiben, sprach vom Weg und
von der Aussicht und redete sich ganz in Feuer.
Da ging gerade Fräulein Thusnelde an ihnen vorüber, während er im
eifrigsten Reden war. Sie wandte sich ein wenig um und sah ihm ins
Gesicht. Es geschah ruhig und etwas neugierig, aber er fand es spöttisch
und verstummte plötzlich. Berta blickte erstaunt auf und sah ihn
verdrießlich werden, ohne zu wissen warum.
Da war man schon im Hause. Berta gab Paul die Hand. Er sagte Gutenacht.
Sie nickte und ging.
Thusnelde war vorausgegangen, ohne ihm Gutenacht zu sagen. Er sah sie
mit einer Handlampe die Treppe hinaufgehen und indem er ihr nachschaute,
ärgerte er sich über sie.
* * * * *
Paul lag wach im Bette und verfiel dem feinen Fieber der warmen Nacht.
Die Schwüle war im Zunehmen, das Wetterleuchten zitterte beständig an
den Wänden. Zuweilen glaubte er es in weiter Ferne leise donnern zu
hören. In langen Pausen kam und ging ein schlaffer Wind, der kaum die
Wipfel rauschen machte.
Der Knabe überdachte halbträumend den vergangenen Abend und fühlte, daß
er heute anders gewesen sei als sonst. Er kam sich erwachsener vor,
vielmehr schien ihm die Rolle des Erwachsenen heute besser geglückt als
bei früheren Versuchen. Mit dem Fräulein hatte er sich doch ganz gut
unterhalten, und nachher auch mit Berta.
Es quälte ihn, ob Thusnelde ihn ernst genommen habe. Vielleicht hatte
sie eben doch nur mit ihm gespielt. Und das mit dem Kuß der Praxedis
mußte er morgen nachlesen. Ob er das wirklich nicht verstanden, oder nur
vergessen hatte?
Er hätte gern gewußt, ob Fräulein Thusnelde wirklich schön sei, richtig
schön. Es schien ihm so, aber er traute weder sich noch ihr. Wie sie da
beim schwachen Lampenlicht im Stuhl halb saß und halb lag, so schlank
und ruhig, mit der auf den Boden niederhängenden Hand, das hatte ihm
doch gefallen. Wie sie lässig nach oben schaute, halb vergnügt und halb
müde, und der weiße schlanke Hals -- im hellen, langen Damenkleid -- das
könnte gerade so auf einem Gemälde vorkommen.
Freilich, Berta war ihm entschieden lieber. Sie war ja vielleicht ein
wenig sehr naiv, aber sanft und hübsch, und man konnte doch mit ihr
reden ohne den Argwohn, sie mache sich heimlich über einen lustig. Wenn
er es von Anfang an mit ihr gehalten hätte, statt erst im letzten
Augenblick, dann könnten sie möglicherweise jetzt schon ganz gute
Freunde sein. Überhaupt begann es ihm jetzt leid zu tun, daß die Gäste
nur noch zwei Tage bleiben wollten.
Aber warum hatte ihn, als er beim Heimgehen mit der Berta lachte, die
andere so angesehen?
Er sah sie wieder an sich vorbeigehen und den Kopf umwenden, und er sah
wieder ihren Blick. Sie war doch schön. Er stellte sich alles wieder
deutlich vor, aber er kam nicht darüber hinweg -- ihr Blick war
spöttisch gewesen, überlegen spöttisch. Warum? Noch wegen des Ekkehard?
Oder weil er mit der Berta gelacht hatte?
Der Ärger darüber folgte ihm noch in den Schlaf.
* * * * *
Am Morgen war der ganze Himmel bedeckt, doch hatte es noch nicht
geregnet. Es roch überall nach Heu und nach warmem Erdstaub.
»Schade,« klagte Berta beim Herunterkommen, »man wird heute keinen
Spaziergang machen können?«
»O, es kann sich noch den ganzen Tag halten,« tröstete Herr Abderegg.
»Du bist doch sonst nicht so eifrig fürs Spazierengehen,« meinte
Fräulein Thusnelde.
»Aber wenn wir doch nur so kurz hier sind!«
»Wir haben eine Luftkegelbahn,« schlug Paul vor. »Im Garten. Auch ein
Krocket. Aber Krocket ist langweilig.«
»Ich finde Krocket sehr hübsch,« sagte Fräulein Thusnelde.
»Dann können wir ja spielen.«
»Gut, nachher. Wir müssen doch erst Kaffee trinken.«
Nach dem Frühstück gingen die jungen Leute in den Garten; auch der
Kandidat schloß sich an. Fürs Krocketspielen fand man das Gras zu hoch,
und man entschloß sich nun doch zu dem andern Spiel. Paul schleppte
eifrig die Kegel herbei und stellte auf.
»Wer fängt an?«
»Immer der, der fragt.«
»Also gut. Wer spielt mit?«
Paul bildete mit Thusnelde die eine Partei. Er spielte sehr gut und
hoffte von ihr dafür gelobt oder auch nur geneckt zu werden. Sie sah es
aber gar nicht und schenkte überhaupt dem Spiel keine Aufmerksamkeit.
Wenn Paul ihr die Kugel gab, schob sie unachtsam und zählte nicht
einmal, wieviel Kegel fielen. Statt dessen unterhielt sie sich mit dem
Hauslehrer über Turgenjeff. Herr Homburger war heute sehr höflich. Nur
Berta schien ganz beim Spiel zu sein. Sie half stets beim Aufsetzen und
ließ sich von Paul das Zielen zeigen.
»König aus der Mitte!« schrie Paul. »Fräulein, nun gewinnen wir sicher.
Das gilt zwölf.«
Sie nickte nur.
»Eigentlich ist Turgenjeff gar kein richtiger Russe,« sagte der Kandidat
und vergaß, daß es an ihm war zu spielen. Paul wurde zornig.
»Herr Homburger, Sie sind dran!«
»Ich?«
»Ja doch, wir warten alle.«
Er hätte ihm am liebsten die Kugel ans Schienbein geschleudert. Berta,
die seine Verstimmung bemerkte, wurde nun auch unruhig und traf nichts
mehr.
»Dann können wir ja aufhören.«
Niemand hatte etwas dagegen. Fräulein Thusnelde ging langsam weg, der
Lehrer folgte ihr. Paul warf verdrießlich die noch stehenden Kegel mit
dem Fuße um.
»Sollen wir nicht weiterspielen?« fragte Berta schüchtern.
»Ach, zu zweien ist es nichts. Ich will aufräumen.«
Sie half ihm bescheiden. Als alle Kegel wieder in der Kiste waren, sah
er sich nach Thusnelde um. Sie war im Park verschwunden. Natürlich, er
war ja für sie nur ein dummer Junge. Der Fratz! Der Fratz!
»Was nun?«
»Vielleicht zeigen Sie mir den Park ein wenig?«
Da schritt er so rasch durch die Wege voran, daß Berta außer Atem kam
und fast laufen mußte, um nachzukommen. Er zeigte ihr das Wäldchen und
die Platanenallee, dann die Blutbuche und die Wiesen. Während er sich
beinahe ein wenig schämte, so grob und wortkarg zu sein, wunderte er
sich zugleich, daß er sich vor Berta gar nimmer geniere. Er ging mit ihr
um, wie wenn sie zwei Jahre jünger wäre. Und sie war still, sanft und
schüchtern, sagte kaum ein Wort und sah ihn nur zuweilen an, als bäte
sie für irgend etwas um Entschuldigung.
Bei der Trauerweide trafen sie mit den beiden andern zusammen. Der
Kandidat redete noch fort, das Fräulein war still geworden und schien
verstimmt. Paul wurde plötzlich gesprächiger. Er machte auf den alten
Baum aufmerksam, schlug die herabhängenden Zweige auseinander und zeigte
die um den Stamm laufende Rundbank.
»Wir wollen sitzen,« befahl Fräulein Thusnelde.
Alle setzten sich nebeneinander auf die Bank. Es war hier sehr warm und
dunstig, die grüne Dämmerung war schlaff und schwül und machte
schläfrig. Paul saß rechts neben Thusnelde.
»Wie still es da ist!« begann Herr Homburger.
Das Fräulein nickte.
»Und so heiß!« sagte sie. »Wir wollen eine Weile gar nichts reden.«
Da saßen alle vier schweigend. Neben Paul lag auf der Bank Thusneldes
Hand, eine lange und schmale Damenhand mit schlanken Fingern und feinen,
gepflegten, mattglänzenden Nägeln. Paul sah beständig die Hand an. Sie
kam aus einem weiten hellgrauen Ärmel hervor, so weiß wie der bis übers
Gelenk sichtbare Arm, sie bog sich vom Gelenk etwas nach außen und lag
ganz still, als sei sie müde.
Und alle schwiegen. Paul dachte an gestern abend. Da war dieselbe Hand
auch so lang und still und ruhend herabgehängt, und die ganze Gestalt so
regungslos halb gesessen halb gelegen. Es paßte zu ihr, zu ihrer Figur
und zu ihren Kleidern, zu ihrer angenehm weichen, nicht ganz freien
Stimme, auch zu ihrem Gesicht, das mit den ruhigen Augen so klug und
abwartend und gelassen aussah.
Herr Homburger sah auf die Uhr.
»Verzeihen Sie, meine Damen, ich sollte nun an die Arbeit. Sie bleiben
doch hier, Paul?«
Er verbeugte sich und ging.
Die andern blieben schweigend sitzen. Paul hatte seine Linke langsam und
mit ängstlicher Vorsicht wie ein Verbrecher der Frauenhand genähert und
dann dicht neben ihr liegen lassen. Er wußte nicht, warum er es tat. Es
geschah ohne seinen Willen, und dabei wurde ihm so drückend bang und
heiß, daß seine Stirne voll von Tropfen stand.
»Krocket spiele ich auch nicht gerne,« sagte Berta leise, wie aus einem
Traum heraus. Durch das Weggehen des Hauslehrers war zwischen ihr und
Paul eine Lücke entstanden und sie hatte sich die ganze Zeit besonnen,
ob sie herrücken solle oder nicht. Es war ihr, je länger sie zauderte,
immer schwerer vorgekommen es zu tun, und nun fing sie, nur um sich
nicht länger ganz allein zu fühlen, zu reden an.
»Es ist wirklich kein nettes Spiel,« fügte sie nach einer langen Pause
mit unsicherer Stimme hinzu. Doch antwortete niemand.
Es war wieder ganz still. Paul glaubte sein Herz schlagen zu hören. Es
trieb ihn, aufzuspringen und irgend etwas Lustiges oder Dummes zu sagen,
oder wegzulaufen. Aber er blieb sitzen, ließ seine Hand liegen und hatte
ein Gefühl, als würde ihm langsam, langsam die Luft entzogen, bis zum
Ersticken. Nur war es angenehm, auf eine traurige, quälende Art
angenehm.
Fräulein Thusnelde blickte in Pauls Gesicht, mit ihrem ruhigen und etwas
müden Blick. Sie sah, daß er unverwandt auf seine Linke schaute, die
dicht neben ihrer Rechten auf der Bank lag.
Da hob sie ihre Rechte ein wenig, legte sie fest auf Pauls Hand und ließ
sie da liegen.
Ihre Hand war weich, doch kräftig, und von trockener Wärme. Paul
erschrak wie ein überraschter Dieb und fing zu zittern an, zog aber
seine Hand nicht weg. Er konnte kaum noch atmen, so stark arbeitete sein
Herzschlag, und sein ganzer Leib brannte und fror zugleich. Langsam
wurde er blaß und sah das Fräulein flehend und angstvoll an.
»Sind Sie erschrocken?« lachte sie leise. »Ich glaube, Sie waren
eingeschlafen?«
Er konnte nichts sagen. Sie hatte ihre Hand weggenommen, aber seine lag
noch da und fühlte die Berührung noch immer. Er wünschte sie
wegzuziehen, aber er war so matt und verwirrt, daß er keinen Gedanken
oder Entschluß fassen und nichts tun konnte, nicht einmal das.
Plötzlich erschreckte ihn ein ersticktes, ängstliches Geräusch, das er
hinter sich vernahm. Er wurde frei und sprang tief atmend auf. Auch
Thusnelde war aufgestanden.
Da saß Berta tiefgebückt an ihrem Platz und schluchzte.
»Gehen Sie hinein,« sagte Thusnelde zu Paul, »wir kommen gleich nach.«
Und als Paul wegging, setzte sie noch hinzu: »Sie hat Kopfweh bekommen.«
»Komm, Berta. Es ist zu heiß hier, man erstickt ja vor Schwüle. Komm,
nimm dich zusammen! Wir wollen ins Haus gehen.«
Berta gab keine Antwort. Ihr magerer Hals lag auf dem hellblauen Ärmel
des leichten Backfischkleidchens, aus dem der dünne, eckige Arm mit dem
breiten Handgelenk herabhing. Und sie weinte still und leise schluckend,
bis sie nach einer langen Weile rot und verwundert sich aufrichtete, das
Haar zurückstrich und langsam und mechanisch zu lächeln begann.
* * * * *
Paul fand keine Ruhe. Warum hatte Thusnelde ihre Hand so auf seine
gelegt? War es nur ein Scherz gewesen? Oder wußte sie, wie seltsam weh
das tat? So oft er es sich wieder vorstellte, hatte er von neuem
dasselbe Gefühl: ein erstickender Krampf vieler Nerven oder Adern, ein
Druck und leichter Schwindel im Kopf, eine Hitze in der Kehle und ein
lähmend ungleiches, wunderliches Wallen des Herzens, als sei der Puls
unterbunden. Aber es war angenehm, so weh es tat.
Er lief am Hause vorbei zum Weiher und in den Obstgängen auf und ab.
Indessen nahm die Schwüle stetig zu. Der Himmel hatte sich vollends ganz
bezogen und sah gewitterig aus. Es ging kein Wind, nur hin und wieder im
Gezweig ein feiner, zager Schauer, vor dem auch der fahle, glatte
Spiegel des Weihers für Augenblicke kraus und silbern erzitterte.
Der kleine alte Kahn, der angebunden am Rasenufer lag, fiel dem Jungen
ins Auge. Er stieg hinein und setzte sich auf die einzige noch
vorhandene Ruderbank. Doch band er das Schifflein nicht los: es waren
auch schon längst keine Ruder mehr da. Er tauchte die Hände ins Wasser,
das war widerlich lau.
Unvermerkt überkam ihn eine grundlose Traurigkeit, die ihm ganz fremd
war. Er kam sich wie in einem beklemmenden Traume vor -- als könnte er,
wenn er auch wollte, kein Glied rühren. Das fahle Licht, der dunkel
bewölkte Himmel, der laue dunstige Teich und der alte, am Boden moosige
Holznachen ohne Ruder, das sah alles unfroh, trist und elend aus, einer
schweren, faden Trostlosigkeit hingegeben, die er ohne Grund teilte.
Er hörte Klavierspiel vom Hause herübertönen, undeutlich und leise. Nun
waren also die andern drinnen und wahrscheinlich spielte Papa ihnen vor.
Bald erkannte Paul auch das Stück, es war aus Griegs Musik zum Peer
Gynt, und er wäre gern hineingegangen. Aber er blieb sitzen, starrte
über das träge Wasser weg und durch die müden, regungslosen Obstzweige
in den fahlen Himmel. Er konnte sich nicht einmal wie sonst auf das
Gewitter freuen, obwohl es sicher bald ausbrechen mußte und das erste
richtige in diesem Sommer sein würde.
Da hörte das Klavierspiel auf und es war eine Weile ganz still. Bis ein
paar zarte, wiegend laue Takte aufklangen, eine scheue und ungewöhnliche
Musik. Und nun Gesang, eine Frauenstimme. Das Lied war Paul unbekannt,
er hatte es nie gehört, er besann sich auch nicht darüber. Aber die
Stimme kannte er, die leicht gedämpfte, ein wenig müde und willenlose
Stimme. Das war Thusnelde. Ihr Gesang war vielleicht nichts Besonderes,
vielleicht nicht einmal schön, aber er traf und reizte den Knaben ebenso
beklemmend und quälend wie die Berührung ihrer Hand. Er horchte, ohne
sich zu rühren, und während er noch saß und horchte, schlugen die ersten
trägen Regentropfen lau und schwer in den Weiher. Sie trafen seine Hände
und sein Gesicht, ohne daß er es spürte. Er fühlte nur, daß etwas
Drängendes, Gärendes, Gespanntes um ihn her oder auch in ihm selber sich
verdichte und schwelle und Auswege suche. Zugleich fiel ihm eine Stelle
aus dem Ekkehard ein und in diesem Augenblick überraschte und
erschreckte ihn plötzlich die sichere Erkenntnis. Er wußte, daß er
Thusnelde lieb habe. Und zugleich wußte er, daß sie erwachsen und eine
Dame war, er aber ein Schuljunge, und daß sie morgen abreisen würde.
Da klang -- der Gesang war schon eine Weile verstummt -- die helltönige
Tischglocke, und Paul ging langsam zum Hause hinüber. Vor der Türe
wischte er sich die Regentropfen von den Händen, strich das Haar zurück
und tat einen tiefen Atemzug, als sei er im Begriff einen schweren
Schritt zu tun.
* * * * *
»Ach, nun regnet es doch schon,« klagte Berta. »Nun wird also nichts
daraus?«
»Aus was denn?« fragte Paul, ohne vom Teller aufzublicken.
»Wir hatten ja doch -- -- Sie hatten mir versprochen, mich heut auf den
Eichelberg zu führen.«
»Ja so. Nein, das geht bei dem Wetter freilich nicht.«
Halb sehnte sie sich danach, er möchte sie ansehen und eine Frage nach
ihrem Wohlsein tun, halb war sie froh, daß er's nicht tat. Er hatte den
peinlichen Augenblick unter der Weide, da sie in Tränen ausgebrochen
war, völlig vergessen. Dieser plötzliche Ausbruch hatte ihm ohnehin
wenig Eindruck gemacht und ihn nur in dem Glauben bestärkt, sie sei doch
noch ein recht kleines Mädchen. Statt auf sie zu achten, schielte er
beständig zu Fräulein Thusnelde hinüber.
Diese führte mit dem Hauslehrer, der sich seiner albernen Rolle von
gestern schämte, ein lebhaftes Gespräch über Sportsachen. Es ging Herrn
Homburger dabei wie vielen Leuten; er sprach über Dinge, von denen er
nichts verstand, viel gefälliger und glatter als über solche, die ihm
vertraut und wichtig waren. Meistens hatte die Dame das Wort und er
begnügte sich mit Fragen, Nicken, Zustimmen und pausenfüllenden
Redensarten. Die etwas kokette Plauderkunst der jungen Dame enthob ihn
seiner gewohnten dickblütigen Art; es gelang ihm sogar, als er beim
Weineinschenken daneben goß, selber zu lachen und die Sache leicht und
komisch zu nehmen. Seine mit Schlauheit eingefädelte Bitte jedoch, dem
Fräulein nach Tisch ein Kapitel aus einem seiner Lieblingsbücher
vorlesen zu dürfen, wurde zierlich abgelehnt.
»Du hast kein Kopfweh mehr, Kind?« fragte Tante Grete.
»O nein, gar nimmer,« sagte Berta halblaut. Aber sie sah noch elend
genug aus.
»O ihr Kinder!« dachte die Tante, der auch Pauls erregte Unsicherheit
nicht entgangen war. Sie hatte mancherlei Ahnungen und beschloß, die
zwei jungen Leutchen nicht unnötig zu stören, wohl aber aufmerksam zu
sein und Dummheiten zu verhüten. Bei Paul war es das erste Mal, dessen
war sie sicher. Wie lang noch, und er würde ihrer Fürsorge entwachsen
sein und seine Wege ihrem Blick entziehen! -- O ihr Kinder!
Draußen war es beinahe finster geworden. Der Regen rann und ließ nach
mit den wechselnden Windstößen, das Gewitter zögerte noch und der Donner
klang noch meilenfern.
»Haben Sie Furcht vor Gewittern?« fragte Herr Homburger seine Dame.
»Im Gegenteil, ich weiß nichts Schöneres. Wir könnten nachher in den
Pavillon gehen und zusehen. Kommst du mit, Berta?«
»Wenn du willst, ja gern.«
»Und Sie also auch, Herr Kandidat? -- Gut, ich freue mich darauf. Es ist
in diesem Jahr das erste Gewitter, nicht?«
Gleich nach Tisch brachen sie mit Regenschirmen auf, zum nahen Pavillon.
Berta nahm ein Buch mit.
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