Diesseits: Erzählungen - 03

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Marmormüller einzukehren. Diesen Mann zu studieren und dabei womöglich
einen Triumph meiner Menschenkenntnis zu erleben, schien mir ein edles
Ziel. Ich war noch ein Anfänger in solchen Künsten und wußte nicht, daß
man so etwas nicht ungestraft treiben kann, sondern auf solchen
Entdeckungsfahrten meistens in die Strömungen eines fremden Lebens
hineingezogen wird und ihnen selten ohne Beulen und Wunden wieder
entrinnt. Überhaupt war ich noch des frohen jugendlichen Glaubens, ein
Mensch könne einem andern ins Innere sehen, wie denn jeder junge
Weltweise sich für einen durchtriebenen Beobachter hält, während er sich
selber gern undurchschaulich glaubt. So betrat ich also die Mühle mit
Zuversicht und heiterem Eifer, ohne zu ahnen, daß vielleicht gerade hier
mein Schicksal verborgen liege und nur auf die rechte Stunde warte, um
mir ein wildes Stück Leben vorzuspielen und einen ersten bitteren
Denkzettel mitzugeben.
Oft trat ich nur im Vorüberbummeln für eine Viertelstunde in den Hof und
in die kühle dämmerige Schleiferei, wo blanke Stahlbänder taktmäßig auf
und nieder stiegen, Sandkörner knirschten und rieselten, schweigsame
Männer am Werk standen und unter dem Boden das Wasser plätscherte. Ich
schaute den paar Rädern und Riemen zu, setzte mich auf einen Steinblock,
drehte mit den Sohlen eine Holzrolle hin und her oder ließ die
Marmorkörner und Splitter unter ihnen knirschen, horchte auf das Wasser,
steckte eine Zigarre an, genoß eine kleine Weile die Stille und Kühle
und lief wieder weg. Den Herrn traf ich dann fast nie. Wenn ich zu ihm
wollte, und das wollte ich sehr oft, dann trat ich in das kleine, immer
schlummerstille Wohnhaus, kratzte im Gang die Stiefel ab und hustete
dazu, bis entweder Herr Lampart oder seine Tochter herunterkam, die Tür
einer lichten Wohnstube öffnete und mir einen Stuhl und ein Glas Wein
hinstellte. Der Wein war ein vorzüglicher Markgräfler, aber mehr als ein
Glas trank ich nie davon.
Da saß ich am schweren Tisch, nippte am Glas, drehte meine Finger
umeinander und brauchte immer eine Weile, bis ein Gespräch im Lauf war;
denn weder der Hausherr noch die Tochter, die aber sehr selten beide
zugleich da waren, machten je den Anfang, und mir schien diesen Leuten
gegenüber und in diesem Hause niemals irgend ein Thema, das man sonst
etwa vornimmt, am Platze zu sein. Nach einer guten halben Stunde, wenn
dann längst eine Unterhaltung beieinander war, hatte ich meistens, trotz
aller Behutsamteit, mein Weinglas leer. Ein zweites wurde nicht
angeboten, darum bitten mochte ich nicht, vor dem leeren Glase da zu
sitzen war mir ein wenig peinlich, also stand ich auf, gab die Hand und
setzte den Hut auf.
Was die Tochter betrifft, so war mir im Anfang nichts aufgefallen, als
daß sie dem Vater so merkwürdig ähnlich war. Sie war so groß gewachsen,
aufrecht und dunkelhaarig wie er, sie hatte seine matten schwarzen
Augen, seine gerade, klar und scharf geformte Nase, seinen stillen,
schönen Mund. Sie hatte auch seinen Gang, soweit ein Weib eines Mannes
Gang haben kann, und dieselbe gute und ernste Stimme, die an Altgesang
erinnerte. Sie streckte einem die Hand mit derselben ruhigen Geste
entgegen wie ihr Vater, wartete ebenso wie er ab, was man zu sagen habe,
und sie gab auf gleichgültige Höflichkeitsfragen ebenso sachlich, kurz
und ein wenig wie verwundert Antwort. Im Anfang interessierte der Vater
mich mehr; sie kam mir wie ein Pleonasmus vor.
Aber schließlich ist ein dreiundzwanzigjähriges schönes Mädchen doch ein
ander Ding als ein noch so rüstiger Geschäftsmann, und auch bei der
auffallendsten Verwandtschaftsähnlichkeit kann man ein Weib nicht lange
mit denselben Augen und Interessen ansehen wie einen Mann. Als ich meine
Menschenkenntnis am Alten soweit erschöpft hatte, um mir darüber klar zu
werden, er sei ein merkwürdiger Mann und schwer zu verstehen, und als
die plötzlichen Schlaglichter und Verständnisse gänzlich ausblieben, die
zu einem weiteren Eindringen in sein verhülltes Wesen nötig gewesen
wären, da schien es mir kein Pleonasmus, nun auch die Tochter zu
studieren.
Sie war von einer Art Schönheit, die man in alemannischen Grenzlanden
öfters antrifft und die wesentlich auf einer ebenmäßigen Kraft und Wucht
der Erscheinung beruht, auch unzertrennlich ist von großem, hohem Wuchs
und bräunlicher Gesichtsfarbe. Ich hatte sie anfänglich wie ein hübsches
Bild betrachtet, dann aber fesselte die Sicherheit und Reife des schönen
Mädchens mich mehr und mehr. So etwa fing meine Verliebtheit an, und sie
wuchs bald zu einer Leidenschaft, die ich bisher noch nicht gekannt
hatte. Sie wäre wohl bald eklatant geworden, wenn nicht die gemessene
Art des Mädchens und die ruhig kühle Luft des ganzen Hauses mich, sobald
ich dort war, wie eine leichte Lähmung umfangen und zahm gemacht hätte.
Wenn ich ihr oder ihrem Vater gegenübersaß, kroch mein ganzes Feuer
sogleich zu einem scheuen Flämmlein zusammen, das ich vorsichtig
verbarg, und statt wie in früheren Fällen eine Szene zu riskieren und
herauszuplatzen, hockte ich zierlich und mutlos im Sessel. Die Stube sah
auch durchaus nicht einer Bühne ähnlich, auf der junge Liebesritter mit
Erfolg sich ins Knie niederlassen, sondern glich mehr einer Stätte der
Mäßigung und Ergebung, wo ruhige Kräfte walten und ein ernstes Stück
Leben ernst erlebt und ertragen wird. Trotz alledem spürte ich hinter
dem stillen Hinleben des Mädchens eine gebändigte Lebensfülle und
Erregbarkeit, die nur selten hervorbrach und auch dann nur in einer
raschen Geste oder einem plötzlich aufglühenden Blick, wenn ein Gespräch
sie lebhaft mitriß.
Ich hatte, wie schon angedeutet, vor kurzem den Stein der Weisen
gefunden und mich als Meister der Lebensklugheit entdeckt. Kaum ging mir
also das erste Licht über die Lage der Dinge auf, so hatte meine
überlegene Weisheit auch schon alles stilvoll umgedichtet und mich zu
einem klugen Manne gemacht, der zwar eingestandenermaßen sehr verliebt
ist, der aber keine Frucht vorzeitig vom Ast brechen will, sondern die
sichere Methode des Maßhaltens, Wartens und Reifwerdenlassens befolgt.
Oft genug besann ich mich darüber, wie wohl das eigentliche Wesen des
schönen und strengen Mädchens aussehen möge. Sie konnte im Grunde
leidenschaftlich sein, oder auch melancholisch, oder auch wirklich
gleichmütig. Jedenfalls war das, was man an ihr zu sehen bekam, nicht
ganz ihre wahre Natur. Über sie, die so frei zu urteilen und so
selbständig zu leben schien, hatte ihr Vater eine unbeschränkte Macht,
und ich fühlte, daß ihre wahre innere Natur nicht ungestraft durch den
väterlichen Einfluß, wenn auch in Liebe, von früh auf unterdrückt und in
andere Formen gezwungen worden war. Wenn ich sie beide beisammen sah,
was freilich sehr selten vorkam, glaubte ich diesen vielleicht ungewollt
tyrannischen Einfluß mitzufühlen und hatte die unklare Empfindung, es
müsse zwischen ihnen einmal einen zähen und tödlichen Kampf geben. Wenn
ich aber dachte, daß dies vielleicht einmal um mich geschehen könne,
schlug mir das Herz, und ich konnte ein leises Grauen nicht
unterdrücken.
* * * * *
Machte meine Freundschaft mit Herrn Lampart wenig oder keine
Fortschritte, so gedieh mein Verkehr mit Gustav Becker, dem Verwalter
des Rippacher Hofes, desto erfreulicher. Wir hatten sogar vor kurzem,
nach stundenlangen Gesprächen, Brüderschaft getrunken, und ich war nicht
wenig stolz darauf, trotz der entschiedenen Mißbilligung meines Vetters.
Becker war ein studierter Mann, vielleicht zweiunddreißig alt, und ein
gewiegter, schlauer Patron. Von ihm beleidigte es mich nicht, daß er
meine schönen Mannesworte meistens mit einem ironischen Lächeln anhörte,
denn ich sah ihn mit dem gleichen Lächeln viel älteren und würdigeren
Leuten aufwarten. Er konnte es sich erlauben, denn er war nicht nur der
selbständige Verwalter und vielleicht künftige Käufer des größten Gutes
in der Gegend, sondern auch innerlich den meisten Existenzen seiner
Umgebung stark überlegen. Man nannte ihn anerkennend einen höllisch
gescheiten Kerl, aber sehr lieb hatte man ihn nicht. Ich bildete mir
ein, er fühle sich von den Leuten gemieden und gebe sich deshalb so viel
mit mir ab.
Freilich brachte er mich oft zur Verzweiflung. Meine Sätze über das
Leben und die Menschen machte er häufig ohne Worte, bloß durch ein
grausam ausdrucksvolles Grinsen, mir selber zweifelhaft, und manchmal
wagte er es direkt, jede Art von Weltweisheit für etwas Lächerliches zu
erklären.
»Drüber reden kann man ja immerhin. Überhaupt, Reden kostet nichts und
ist ganz gesund, verglichen mit andern Vergnügungen. Einer sagt: das
Leben ist ein Rechenexempel, und dann kann man das eine Viertelstunde
lang nett und richtig finden. Er kann auch sagen: das Leben ist ein
Misthaufen. Es ist auch wahr, und der Erfolg ist der gleiche. Wie
gesagt, eine Viertelstunde lang.«
Eines Abends saß ich mit Gustav Becker im Adlergarten bei einem Glas
Bier. Wir saßen an einem Tisch gegen die Wiese hin ungestört und ganz
allein. Es war so ein trockener, heißer Abend, wo alles voll von
goldigem Staub ist, der Lindenduft war fast betäubend und das Licht
schien weder zu- noch abzunehmen.
»Du, du kennst doch den Marmorsäger drüben im Sattelbachtal?« fragte ich
meinen Freund.
Er sah nicht vom Pfeifenstopfen auf und nickte nur.
»Ja, sag mal, was ist nun das für ein Mensch?«
Becker lachte und stieß die Pfeifenpatrone in die Westentasche.
»Ein ganz gescheiter Mensch ist er,« sagte er dann. »Darum hält er auch
immer das Maul. Was geht er dich an?«
»Nichts, ich dachte nur so. Er macht doch einen besonderen Eindruck.«
»Das tun gescheite Leute immer; es gibt nicht so viele.«
»Sonst nichts? Weißt du nichts über ihn?«
»Er hat ein schönes Mädel.«
»Ja. Das mein' ich nicht. Warum kommt er nie zu Leuten?«
»Was soll er dort?«
»Ach, einerlei. Ich denke, vielleicht hat er was Besonderes erlebt, oder
so.«
»Aha, so was Romantisches? Stille Mühle im Tal? Marmor? Schweigsamer
Eremit? Begrabenes Lebensglück? Tut mir leid, aber damit ist's nichts.
Er ist ein vorzüglicher Geschäftsmann.«
»Weißt du das?«
»Er hat's hinter den Ohren. Der Mann macht Geld.«
Da mußte er gehen. Es gab noch zu tun. Er zahlte sein Bier und ging
direkt über die gemähte Wiese, und als er hinter dem nächsten Bühel
schon eine Weile verschwunden war, kam noch ein langer Strich
Pfeifenrauch von dorther, denn Becker lief gegen den Wind. Im Stall
fingen die Kühe satt und langsam zu brüllen an, auf der Dorfstraße
tauchten die ersten Feierabendgestalten auf, und als ich nach einer
kleinen Weile um mich schaute, waren die Berge schon blauschwarz und der
Himmel war nimmer rot, sondern grünlichblau und sah aus, als müßte jeden
Augenblick der erste Stern herauskommen.
Das kurze Gespräch mit dem Verwalter hatte meinem Denkerstolz einen
leisen Tritt versetzt, und da es so ein schöner Abend und doch schon ein
Loch in meinem Selbstbewußtsein war, kam meine Liebe zu der
Marmormüllerin plötzlich über mich und ließ mich fühlen, daß mit
Leidenschaften nicht zu spielen sei. Ich trank noch manche Halbe aus,
und als nun wirklich die Sterne heraus waren und als von der Gasse so
ein rührendes Volkslied herüberklang, da hatte ich meine Weisheit und
meinen Hut auf der Bank liegen lassen, lief langsam in die dunkeln
Felder hinein und ließ im Gehen die Tränen laufen, wie sie wollten.
Aber durch die Tränen hindurch sah ich das sommernächtige Land daliegen,
die mächtige Flucht der Ackerfelder schwoll am Horizont wie eine starke
und weiche Woge in den Himmel, seitwärts schlief atmend der weithin
gestreckte Wald und hinter mir lag fast verschwunden das Dorf, mit wenig
Lichtlein und wenigen leisen und fernen Tönen. Himmel, Ackerland, Wald
und Dorf samt den vielerlei Wiesendüften und dem vereinzelt noch
hörbaren Grillengeläut floß alles ineinander und umgab mich lau und
sprach zu mir wie eine schöne, froh und traurig machende Melodie. Nur
die Sterne ruhten klar und unbewegt in halbdunkeln Höhen. Ein scheues
und doch brennendes Begehren, eine Sehnsucht rang sich in mir auf; ich
wußte nicht, war es ein Hindrängen zu neuen, unbekannten Freuden und
Schmerzen oder ein Verlangen, rückwärts in die Kinderheimat zu wandern,
mich an den väterlichen Gartenzaun zu lehnen, die Stimmen der toten
Eltern und das Kläffen unseres toten Hundes noch einmal zu hören und
mich auszuweinen.
Ohne es zu wollen, kam ich in den Wald und durch dürres Gezweige und
schwüle Finsternis, bis es vor mir plötzlich geräumig und helle ward,
und dann stand ich lange zwischen den hohen Tannen über dem engen
Sattelbachtal, und drunten lag das Lampartische Anwesen mit den matten
blassen Marmorhaufen und dem dunkel brausenden schmalen Wehr. Bis ich
mich schämte und querfeldein den nächsten Heimweg nahm.
Am nächsten Tage hatte Gustav Becker mein Geheimnis schon heraus.
»Mach doch keine Redensarten,« sagte er, »du bist ja einfach in die
Lampart verschossen. Das Unglück ist ja nicht so groß. Du bist in dem
Alter, daß dir dergleichen ohne Zweifel noch öfter passieren wird.«
Mein Stolz regte sich schon wieder mächtig.
»Nein, mein Lieber,« sagte ich, »da hast du mich doch unterschätzt. Über
so knabenhafte Liebeleien sind wir hinaus. Ich hab' mir alles wohl
überlegt und finde, ich könnte gar keine bessere Heirat tun.«
»Heiraten?« lachte Becker. »Junge, du bist reizend.«
Da wurde ich ernstlich zornig, lief aber doch nicht fort, sondern ließ
mich darauf ein, dem Verwalter meine Gedanken und Pläne in dieser Sache
weitläufig zu erzählen.
»Du vergißt eine Hauptsache,« sagte er dann ernsthaft und nachdrücklich.
»Die Lamparts sind nichts für dich, das sind Leute von einem schweren
Kaliber. Verlieben kann man sich ja in wen man will, aber heiraten darf
man nur jemand, mit dem man nachher auch fertig werden und Tempo
einhalten kann. Du bist ja ein ordentlicher Kerl, aber die Lamparts sind
aus einem ganz andern Stoff. Die reden wenig und haben dafür eine Wucht
nach innen, die du gar nicht verstehst.«
Da ich Gesichter schnitt und ihn heftig unterbrechen wollte, lachte er
plötzlich wieder und meinte: »Na, dann tummle dich, mein Sohn, und auch
viel Glück dazu!«
Von da an sprach ich eine Zeitlang oft mit ihm darüber. Da er selten von
der Sommerarbeit abkommen konnte, führten wir fast alle diese Gespräche
unterwegs im Felde oder in Stall und Scheuer. Und je mehr ich redete,
desto klarer und abgerundeter stand die ganze Sache vor mir, und es
wundert mich nachträglich, daß ich nicht noch andre Leute in's Vertrauen
zog.
Nur wenn ich in der Marmorsäge saß, fühlte ich mich bedrückt und merkte
wieder, wie weit ich noch vom Ziele war. Das Mädchen war stets von
derselben freundlich stillen Art, mit einem Anflug von Männlichkeit, der
mir köstlich schien und mich doch schüchtern machte.
Ich sprach mit ihr über Jahreszeit und Wetter, über Bücher, die ich ihr
lieh, aber am liebsten über >das Leben<; das war eben damals mein
Leibfach. Zuweilen wollte es mir scheinen, sie sähe mich doch gern und
habe mich heimlich lieb; sie konnte mich je und je so selbstvergessen
und prüfend ansehen, wie etwas, woran man Freude hat. Auch ging sie ganz
ernsthaft auf meine klugen Reden ein, schien aber im Hintergrund eine
unumstößlich andre Meinung zu haben.
Einmal sagte sie: »Für die Frauen oder wenigstens für mich sieht das
Leben doch anders aus. Wir müssen vieles tun und geschehen lassen, was
ein Mann anders machen könnte. Wir sind nicht so frei . . .«
Ich sprach davon, daß jedermann sein Schicksal in der Hand habe und sich
ein Leben schaffen müsse, das ganz sein Werk sei und ihm gehöre.
»Ein Mann kann das vielleicht,« meinte sie. »Das weiß ich nicht. Aber
bei uns ist das anders. Auch wir können etwas aus unserm Leben machen,
aber es gilt da mehr, das Notwendige mit Vernunft zu tragen und zu
verschönern, als eigne Schritte zu tun.«
Und als ich nochmals widersprach und eine hübsche kleine Rede losließ,
wurde sie wärmer und sagte fast leidenschaftlich:
»Bleiben Sie bei Ihrem Glauben und lassen Sie mir meinen! Sich das
Schönste vom Leben heraussuchen, wenn man die Wahl hat, ist keine so
große Kunst. Aber wer hat denn die Wahl? Wenn Sie heute oder morgen
unter ein Wagenrad kommen und Arme und Beine verlieren, was fangen Sie
dann mit Ihren Luftschlössern an? Dann wären Sie froh, Sie hätten
gelernt, mit dem, was über Sie verhängt ist, auszukommen. Aber fangen
Sie nur das Glück, ich gönne es Ihnen, fangen Sie's nur!«
Sie war nie so lebhaft gewesen. Dann wurde sie still, lächelte sonderbar
und hielt mich nicht, als ich aufstand und für heute Abschied nahm.
Meine Weltanschauung hatte sie nicht erschüttert, und das Beispiel mit
dem Wagenrad fiel mir erst viel später wieder ein. Aber ihre Worte
beschäftigten mich nun öfters und gingen mir meistens in ganz
unpassenden Augenblicken wieder durch den Kopf. Ich hatte im Sinn, mit
meinem Freunde auf dem Rippacher Hof darüber zu reden; doch wenn ich
Beckers kühle Augen und spottbereit zuckende Lippen ansah, verging mir
immer die Lust. Überhaupt kam es allmählich so, daß ich, je mehr meine
Gespräche mit Fräulein Lampart persönlicher und merkwürdiger wurden,
desto weniger über sie mit dem Verwalter sprach. Auch schien die Sache
ihm nimmer wichtig zu sein. Höchstens fragte er hier und da, ob ich auch
fleißig ins Marmorwerk laufe, neckte mich ein wenig und ließ es wieder
gut sein, wie es in seinem Wesen lag.
Einmal traf ich ihn zu meinem Erstaunen in der Lampartschen Einsiedelei.
Er saß, als ich eintrat, in der Wohnstube beim Hausherrn, das übliche
Glas Wein vor sich. Als er es leer hatte, war es mir eine Art
Genugtuung, zu sehen, daß auch ihm kein zweites angeboten wurde. Er
brach bald auf, und da Lampart beschäftigt schien und die Tochter nicht
da war, schloß ich mich ihm an.
»Was führt denn dich daher?« fragte ich ihn, als wir auf der Straße
waren. »Du scheinst den Lampart ja ganz gut zu kennen.«
»'s geht an.«
»Hast du Geschäfte mit ihm?«
»Geldgeschäfte, ja. Ich bin eine Art Bankier für ihn. Und das Lämmlein
ist heute nicht dagewesen, wie? Dein Besuch war so kurz.«
»Ach laß doch!«
Ich war bis jetzt mit dem Mädchen in eine ganz vertrauliche
Freundschaftlichkeit gekommen, ohne indessen je mit Wissen etwas von
meiner stetig zunehmenden Verliebtheit merken zu lassen. Jetzt nahm sie
wider all mein Erwarten plötzlich wieder ein andres Wesen an, das mir
fürs erste wieder alle Hoffnung raubte. Scheu war sie eigentlich nicht,
aber sie schien einen Weg in das frühere Fremdsein zurück zu suchen, bat
nicht mehr um Bücher und bemühte sich, unsere Unterhaltung an äußere und
allgemeine Dinge zu fesseln und den angefangenen herzlichen Verkehr mit
mir nicht weiter gedeihen zu lassen.
Ich grübelte nach, lief im Wald herum und kam auf tausend dumme
Vermutungen, wurde nun selber noch unsicherer in meinem Benehmen gegen
sie und kam in ein kümmerliches Sorgen und Zweifeln hinein, das ein Hohn
auf meine ganze Glücksphilosophie war und mich stundenweise wieder
völlig zu einem ratlos verliebten Buben machte. Mittlerweile war auch
mehr als die Hälfte meiner Ferienzeit verstrichen, und ich fing an, die
Tage zu zählen und jedem unnütz verbummelten mit Neid und Verzweiflung
nachzublicken, als wäre jedesmal gerade der unendlich wichtig und
unwiederbringlich.
Zwischenhinein kam ein Tag, an dem ich aufatmend und fast erschrocken
alles gewonnen glaubte und einen Augenblick vor dem offenen Tor des
Glücksgartens stand. Ich kam bei der Sägerei vorüber und sah Helene im
Gärtchen zwischen den hohen Dahlienbüschen stehen. Da ging ich hinein,
grüßte und half ihr eine liegende Staude anpfählen und aufbinden. Es war
höchstens eine Viertelstunde, daß ich dort blieb. Mein Hereinkommen
hatte sie überrascht, sie war viel befangener und scheuer als sonst, und
in ihrem Scheusein lag etwas, das ich wie eine deutliche Schrift glaubte
lesen zu können. Sie hat mich lieb, fühlte ich durch und durch, und da
wurde ich plötzlich sicher und froh, sah auf das große, stattliche
Mädchen zärtlich und fast mit Mitleid, wollte ihre Befangenheit schonen
und tat, als sähe ich nichts, kam mir auch wie ein Held vor, als ich
nach kurzer Zeit ihr die Hand gab und weiterging, ohne nur
zurückzusehen. Sie hat mich lieb, empfand ich mit allen Sinnen, und
morgen wird alles gut werden.
Es war wieder ein prachtvoller Tag. Über den Sorgen und Aufregungen
hatte ich für eine Weile fast den Sinn für die schöne Jahreszeit
verloren und war ohne Augen herumgelaufen. Nun war wieder der Wald von
Licht durchzittert, der Bach war wieder schwarz, braun und silbern, die
Ferne licht und zart, auf den Feldwegen lachten rot und blau die Röcke
der Bauernweiber. Ich war so andächtig froh, ich hätte keinen
Schmetterling verjagen mögen. Am oberen Waldrande, nach einem heißen
Steigen, legte ich mich hin, übersah die fruchtbare Weite bis zum fernen
runden Staufen hin, gab mich der Mittagssonne preis und war mit der
schönen Welt und mit mir und allem von Herzen zufrieden. Meine scheu
gewordene Weltklugheit kehrte siegreich zurück, fand alles bestens im
Gleise und war fast so stolz und froh, als hätte sie selber den Gang der
Dinge regiert und alles so freundlich gewendet.
Es war gut, daß ich diesen Tag nach Kräften genoß, verträumte und
versang. Abends trank ich sogar im Adlergarten einen Schoppen vom besten
alten Roten.
Als ich tags darauf bei den Marmorleuten vorsprach, war dort alles im
alten kühlen Zustande. Vor dem Anblick der Wohnstube, der Möbel und der
ruhig ernsten Helene stob meine Sicherheit und mein Siegesmut elend
davon, ich saß da, wie ein armer Reisender auf der Treppe sitzt, und
ging nachher davon wie ein nasser Hund, jammervoll nüchtern. Passiert
war nichts. Helene war sogar ganz freundlich gewesen. Aber von dem
gestrigen Gefühl war nichts mehr da.
An diesem Tage begann die Sache für mich bitter ernst zu werden. Ich
hatte eine Ahnung vom Glücke vorausgeschmeckt.
Nun verzehrte mich die Sehnsucht wie ein gieriger Hunger, Schlaf und
Seelenruhe waren dahin. Die Welt versank um mich her, und ich blieb
abgetrennt in einer Einsamkeit und Stille zurück, in der ich nichts
vernahm, als das leise und laute Schreien meiner Leidenschaft. Mir hatte
geträumt, das große, schöne, ernste Mädchen käme zu mir und lege sich an
meine Brust; jetzt streckte ich weinend und fluchend die Arme ins Leere
aus und schlich bei Tag und Nacht um die Marmormühle, wo ich kaum mehr
einzukehren wagte.
Es half nichts, daß ich mir vom Verwalter Becker ohne Widerspruch die
spöttische Predigt einer glaubenslosen Nüchternheit gefallen ließ. Es
half nichts, daß ich Stunden auf Stunden durch die Bruthitze über Feld
lief oder mich in die kalten Waldbäche legte, bis mir die Zähne
klapperten. Es half auch nichts, daß ich am Samstag abend mich an einem
großen Raufhandel im Dorfe beteiligte und den Leib voller Beulen gehauen
bekam.
Und die Zeit lief weg wie Wasser. Noch vierzehn Tage Ferien! Noch zwölf
Tage! Noch zehn! Zweimal in dieser Zeit ging ich in die Sägerei. Das
eine Mal traf ich nur den Vater an, ging mit ihm zur Säge und sah
stumpfsinnig zu, wie ein neuer Block eingespannt wurde. Herr Lampart
ging in den Vorratsschuppen hinüber, um irgend etwas zu besorgen, und
als er nicht gleich wiederkam, lief ich fort und hatte im Sinn, nimmer
herzukommen.
Trotzdem stand ich nach zwei Tagen wieder da. Helene empfing mich wie
immer, und ich konnte den Blick nicht von ihr lassen. In meiner fahrigen
und haltlosen Stimmung kramte ich gedankenlos eine Menge von dummen
Witzen, Redensarten und Anekdoten aus, die sie sichtlich ärgerten.
»Warum sind Sie heut so?« fragte sie schließlich und sah mich so schön
und offen an, daß mir das Herz zu schlagen begann.
»Wie denn?« fragte ich, und der Teufel wollte, daß ich dabei zu lachen
versuchte.
Das mißglückte Lachen gefiel ihr nicht, sie zuckte die Achseln und sah
fast traurig aus. Mir war einen Augenblick, sie habe mich gern gehabt
und mir entgegenkommen wollen und sei nun darum betrübt. Eine Minute
lang schwieg ich beklommen, da war der Teufel wieder da, daß ich in die
vorige Narrenstimmung zurückfiel und wieder ins Geschwätz geriet, von
dem jedes Wort mir selber weh tat und das Mädchen ärgern mußte. Und ich
war jung und dumm genug, meinen Schmerz und meine widersinnige Narrheit
fast wie ein Schauspiel zu genießen und im Bubentrotz die Kluft zwischen
mir und ihr wissentlich zu vergrößern, statt mir lieber die Zunge
abzubeißen oder Helene ehrlich um Verzeihung zu bitten. In meinen
allerfrühesten Liebesversuchen war ich kein größerer Hanswurst gewesen!
Dann verschluckte ich mich in der Hast am Wein, mußte mächtig husten und
verließ Stube und Haus elender als jemals.
* * * * *
Nun waren von meiner Ferienzeit nur noch acht Tage übrig.
Es war ein so schöner Sommer, es hatte alles so verheißungsvoll und
heiter angefangen. Jetzt war meine Freude dahin -- was sollte ich noch
mit den acht Tagen anfangen? Ich war entschlossen, schon morgen
abzureisen. In der Stadt müßte sich dann irgend ein ^modus vivendi^
finden.
Aber vorher mußte ich noch einmal in ihr Haus. Ich mußte noch einmal
hingehen, ihre kraftvoll edle Schönheit anschauen und ihr sagen: >Ich
habe dich lieb, warum hast du mit mir gespielt?<
Zunächst ging ich zu Gustav Becker auf den Rippacher Hof, den ich
neuerdings etwas vernachlässigt hatte. Er stand in seiner großen, kahlen
Stube an einem lächerlich schmalen Stehpult und schrieb Briefe.
»Ich will dir adieu sagen,« sagte ich, »wahrscheinlich geh' ich schon
morgen fort. Weißt du, es muß jetzt wieder an ein strammes Arbeiten
gehen.«
Zu meiner Verwunderung machte der Verwalter gar keine Witze. Er schlug
mir auf die Schulter, lächelte fast mitleidig und sagte: »So, so. Ja,
dann geh in Gottes Namen, Junge!«
Und als ich schon unter der Tür war, zog er mich noch einmal in die
Stube zurück und sagte: »Du, hör mal, du tust mir leid. Aber daß das mit
dem Mädel nichts werden würde, hab' ich gleich gewußt. Du hast da so je
und je deine Weisheitssprüche verzapft -- halte dich jetzt dran und
bleib im Sattel, wenn dir auch der Schädel noch so brummt! Daß du ein
wirklicher Mann wirst, das hängt gar nicht von deiner Weisheit ab; --
ein Mann wird man nur durch Narben, und das tut vorher elend weh. Also
komm darüber weg, gelt?«
Das war vor Mittag.
Den Nachmittag saß ich im Moos am Abhang, steil über der
Sattelbachschlucht, und schaute auf den Bach und die Werke und auch auf
das Lampartsche Haus hinunter. Ich ließ mir Zeit, Abschied zu nehmen und
zu träumen und nachzudenken, namentlich über das, was Becker mir gesagt
hatte. Von meinem jungen Hochmut war nimmer viel übrig. Mit Schmerzen
sah ich die Schlucht und die paar Dächer unten liegen, den Bach glänzen
und die weiße Fahrstraße im leichten Winde stäuben; ich bedachte, daß
ich nun wohl für eine lange Zeit nicht hierher zurückkommen würde,
während hier Bach und Mühlwerke und Menschen ihren stetigen Lauf
weitergingen. Vielleicht wird Helene einmal ihre Resignation und
Schicksalsruhe wegwerfen und ihrem inneren Verlangen nach ein kräftiges
Glück oder Leid ergreifen und sich daran ersättigen? Vielleicht, wer
weiß, wird auch mein eigner Weg noch einmal sich aus Schluchten und
Talgewirre hervorwinden und in ein klares, weites Land der Ruhe führen?
-- Wer weiß?
Ich glaubte nicht daran. Mich hatte zum ersten Mal eine echte, ernste
Leidenschaft in die übermächtigen Arme genommen, und ich wußte keine
Macht in mir stark und edel genug, sie zu besiegen.
Es kam mir der Gedanke, lieber abzureisen, ohne noch einmal mit Helene
zu sprechen. Das war gewiß das beste. Ich nickte ihrem Haus und Garten
zu, beschloß, sie nicht mehr sehen zu wollen, und blieb Abschied nehmend
bis gegen den Abend in der Höhe liegen.
Träumerisch ging ich weg, waldabwärts, oft in der Steile strauchelnd,
und erwachte erst mit heftigem Erschrecken aus meiner Versunkenheit, als
meine Schritte auf den Marmorsplittern des Hofes krachten und ich mich
vor der Tür stehen fand, die ich nicht mehr hatte sehen und anrühren
wollen. Nun war es zu spät.
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