Diesseits: Erzählungen - 01

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Von _Hermann Hesse_ ist im gleichen Verlage erschienen:
Peter Camenzind. 38. Auflage.
Unterm Rad. 15. Auflage.


Diesseits

Erzählungen
von
Hermann Hesse
S. Fischer, Verlag, Berlin
1907
Alle Rechte, besonders das der Übersetzung, vorbehalten.
Published, April 5, 1907. Privilege of copyright
in the United States reserved under the act approved
March 3, 1905 by S. Fischer, Verlag, Berlin.
Meiner lieben Frau Mia


Inhalt

Aus Kinderzeiten Seite 9
Die Marmorsäge » 47
Heumond » 109
Der Lateinschüler » 185
Eine Fußreise im Herbst » 253


Aus Kinderzeiten

Der ferne braune Wald hat seit wenigen Tagen einen heiteren Schimmer von
jungem Grün; am Lettensteg fand ich heute die erste halberschlossene
Primelblüte; am feuchten klaren Himmel träumen die sanften Aprilwolken
und die weiten, kaum gepflügten Äcker sind so glänzend braun und breiten
sich der lauen Luft so verlangend entgegen, als hätten sie Sehnsucht, zu
empfangen und zu treiben und ihre stummen Kräfte in tausend grünen
Keimen und aufstrebenden Halmen zu erproben, zu fühlen und
wegzuschenken. Alles wartet, alles bereitet sich vor, alles träumt und
sproßt in einem feinen, zärtlich drängenden Werdefieber -- der Keim der
Sonne, die Wolke dem Acker, das junge Gras den Lüften entgegen. Von Jahr
zu Jahr steh' ich um diese Zeit mit Ungeduld und Sehnsucht auf der
Lauer, als müßte ein besonderer Augenblick mir das Wunder der Neugeburt
erschließen, als müsse es geschehen, daß ich einmal, eine Stunde lang,
die Offenbarung der Kraft und der Schönheit ganz sähe und begriffe und
miterlebte, wie das Leben lachend aus der Erde springt und junge große
Augen zum Lichte aufschlägt. Jahr für Jahr auch tönt und duftet das
Wunder an mir vorbei, geliebt und angebetet -- und unverstanden; es ist
da und ich sah es nicht kommen, ich sah nicht die Hülle des Keimes
brechen und den zarten ersten Quell im Lichte zittern. Blumen stehen
plötzlich allerorten, Bäume glänzen mit lichtem Laube oder mit schaumig
weißer Blust, und Vögel werfen sich jubelnd in schönen Bogen durch die
warme Bläue. Das Wunder ist erfüllt, ob ich es auch nicht gesehen habe,
Wälder wölben sich und ferne Gipfel rufen, und es ist Zeit, Stiefel und
Tasche, Angelstock und Ruderzeug zu rüsten und sich mit allen Sinnen des
jungen Jahres zu freuen, das jedesmal schöner ist als es jemals war, und
das jedesmal eiliger zu schreiten scheint. -- Wie lang, wie
unerschöpflich lang ist ein Frühling vorzeiten gewesen, als ich noch ein
Knabe war!
Und wenn die Stunde es gönnt und mein Herz guter Dinge ist, leg ich mich
lang ins feuchte Gras oder klettere den nächsten tüchtigen Stamm hinan,
wiege mich im Geäste, rieche den Knospenduft und das frische Harz, sehe
Zweigenetz und Grün und Blau sich über mir verwirren und trete
traumwandelnd als ein stiller Gast in den seligen Garten meiner
Knabenzeit. Das gelingt so selten und ist so köstlich, einmal wieder
sich dort hinüberzuschwingen und die klare Morgenluft der ersten Jugend
zu atmen und noch einmal, für Augenblicke, die Welt so zu sehen wie sie
aus Gottes Händen kam und wie wir alle sie in Kinderzeiten gesehen
haben, da in uns selber das Wunder der Kraft und der Schönheit sich
entfaltete.
Ich bin wahrlich heute und jeden Tag der Welt und meines Lebens froh,
aber auch ein Glücklicher kann sich den Glanz nicht völlig bewahren, den
sein Auge in Kinderzeiten über der Erde sah. Da stiegen die Bäume so
freudig und trotzig in die Lüfte, da sproß im Garten Narziß und Hyazinth
so glanzvoll schön; und die Menschen, die wir noch so wenig kannten,
begegneten uns zart und gütig, weil sie auf unserer glatten Stirn noch
den Hauch des Göttlichen fühlten, von dem wir nichts wußten und das uns
ungewollt und ungewußt im Drang des Wachsens abhanden kam. Was war ich
für ein wilder und ungebändigter Bub, wieviel Sorgen hat der Vater von
klein auf um mich gehabt und wieviel Angst und Seufzen die Mutter! --
und doch lag auch auf meiner Stirne Gottes Glanz, und was ich ansah, war
schön und lebendig, und in meinen Gedanken und Träumen, auch wenn sie
gar nicht frommer Art waren, gingen Engel und Wunder und Märchen
geschwisterlich hin und wider. Das geht doch nicht ganz verloren, und
wenn einer seine Kindheit lieb hat und sich je und je bei ihr zu Gaste
ladet, den Staub von sich streift und sich ohne Gedanken wieder in ihre
Wildnisse verliert, der hört noch einmal Quellen reden und Wolken
singen, sieht das Licht der Sonne gütig sich zur Erde neigen und alle
Dinge mit einem Duft von Schönheit und Märchen umgeben. Und viel reicher
und mächtiger und schöner könnten wir alle sein, wenn wir häufiger auf
jenen Pfaden gingen und fester an dem goldenen Bande hielten, das uns
mit der Kindheit und mit allen Quellen unserer Kräfte zusammenhält.
Mir ist aus Kinderzeiten her mit dem Geruch des frischgepflügten
Ackerlandes und mit dem keimenden Grün der Wälder eine Erinnerung
verknüpft, die mich in jedem Frühling heimsucht und mich nötigt, jene
halbvergessene und unbegriffene Zeit für Stunden wieder zu leben. Auch
jetzt denke ich daran und will versuchen, wenn es möglich ist, davon zu
erzählen.
* * * * *
In unserer Schlafkammer waren die Läden zu, und ich lag im Dunkel
halbwach, hörte meinen kleinen Bruder neben mir in festen, gleichen
Zügen atmen und wunderte mich wieder darüber, daß ich bei geschlossenen
Augen statt des schwarzen Dunkels lauter Farben sah, violette und
trübdunkelrote Kreise, die beständig weiter wurden und in die Finsternis
zerflossen und beständig von innen her quellend sich erneuerten, jeder
von einem dünnen gelben Streifen umrändert. Auch horchte ich auf den
Wind, der von den Bergen her in lauen, lässigen Stößen kam und weich in
den großen Pappeln wühlte und sich zuzeiten schwer gegen das ächzende
Dach lehnte. Es tat mir wieder leid, daß Kinder nachts nicht aufbleiben
und hinausgehen oder wenigstens am Fenster sein dürfen, und ich dachte
an eine Nacht, in der die Mutter vergessen hatte, die Läden zu
schließen.
Da war ich mitten in der Nacht aufgewacht und leise aufgestanden und mit
Zagen ans Fenster gegangen, und vor dem Fenster war es seltsam hell, gar
nicht schwarz und todesfinster, wie ich mir vorgestellt hatte. Es sah
alles dumpf und verwischt und traurig aus, große Wolken stöhnten über
den ganzen Himmel, und die bläulich-schwarzen Berge schienen
mitzufluten, als hätten sie alle Angst und strebten davon, um einem
nahenden Unglück zu entrinnen. Die Pappeln schliefen und sahen ganz matt
aus wie etwas Totes oder Erloschenes, auf dem Hof aber stand wie sonst
die Bank und der Brunnentrog und der junge Kastanienbaum, auch sie ein
wenig müd und trüb. Ich wußte nicht, ob es kurz oder lang war, daß ich
im Fenster saß und in die bleiche verwandelte Welt hinüberschaute; da
fing in der Nähe ein Tier zu klagen an, ängstlich und weinerlich. Es
konnte ein Hund oder auch ein Schaf oder Kalb sein, das erwacht war und
im Dunkeln Angst verspürte. Sie faßte auch mich und ich floh in die
Kammer und in mein Bett zurück, ungewiß ob ich weinen sollte oder nicht.
Aber ehe ich dazu kam, war ich eingeschlafen.
Das alles lag jetzt wieder rätselhaft und lauernd draußen, hinter den
verschlossenen Läden, und es wäre so schön und gefährlich gewesen wieder
hinauszusehen. Ich stellte mir die trüben Bäume wieder vor, das müde,
ungewisse Licht, den verstummten Hof, die samt den Wolken fortfliehenden
Berge, die fahlen Streifen am Himmel und die bleiche, undeutlich in die
graue Weite verschimmernde Landstraße. Da schlich nun in einen großen,
schwarzen Mantel verhüllt ein Dieb, oder ein Mörder, oder war jemand
verirrt und lief dort hin und her, von der Nacht geängstigt und von
Tieren verfolgt. Es war vielleicht ein Knabe, so alt wie ich, der
verloren gegangen oder fortgelaufen oder geraubt worden oder ohne Eltern
war, und wenn er auch Mut hatte, so konnte doch der nächste Nachtgeist
ihn umbringen oder der Wolf ihn holen. Vielleicht nahmen ihn auch Räuber
mit in den Wald, und er wurde selber ein Räuber, bekam ein Schwert oder
eine zweiläufige Pistole, einen großen Hut und hohe Reiterstiefel.
Von hier war es nur noch ein Schritt, ein willenloses Sichfallenlassen,
und ich stand im Träumeland und konnte alles mit Augen sehen und mit
Händen anfassen, was jetzt noch Erinnerung und Gedanke und Phantasie
war.
Ich schlief aber nicht ein, denn in diesem Augenblick floß durch das
Schlüsselloch der Kammertür, aus der Schlafstube der Eltern her, ein
dünner, roter Lichtstrom zu mir herein, füllte die Dunkelheit mit einer
schwachen zitternden Ahnung von Licht und malte auf die plötzlich matt
aufschimmernde Tür des Kleiderkastens einen gelben, zackigen Fleck. Ich
wußte, daß jetzt der Vater ins Bett ging. Sachte hörte ich ihn in
Strümpfen herumlaufen, und gleich darauf vernahm ich auch seine
gedämpfte tiefe Stimme. Er sprach noch ein wenig mit der Mutter.
»Schlafen die Kinder?« hörte ich ihn fragen.
»Ja, schon lang,« sagte die Mutter, und ich schämte mich, daß ich nun
doch wach war. Dann war es eine Weile still, aber das Licht brannte
fort. Die Zeit wurde mir lang, und der Schlummer wollte mir schon bis in
die Augen steigen, da fing die Mutter noch einmal an.
»Hast auch nach dem Brosi gefragt?«
»Ich hab' ihn selber besucht,« sagte der Vater. »Am Abend bin ich dort
gewesen. Der kann einem leid tun.«
»Geht's denn so schlecht?«
»Ganz schlecht. Du wirst sehen, wenn's Frühjahr kommt, wird es ihn
wegnehmen; das ist eine böse Jahreszeit. Ich meine als, er hat schon den
Tod im Gesicht.«
»Was denkst du,« sagte die Mutter, »soll ich den Buben einmal
hinschicken? Es könnt' vielleicht gut tun.«
»Wie du willst,« meinte der Vater, »aber nötig ist's nicht. Was versteht
so ein klein Kind davon?«
»Also gut Nacht.«
»Ja, gut Nacht.«
Das Licht ging aus, die Luft hörte auf zu zittern, Boden und Kastentür
waren wieder dunkel, und wenn ich die Augen zumachte, konnte ich wieder
violette und dunkelrote Ringe mit einem gelben Rand wogen und wachsen
sehen.
Aber während die Eltern einschliefen und alles stille war, arbeitete
meine plötzlich erregte Seele mächtig in die Nacht hinein. Das
halbverstandene Gespräch war in sie gefallen wie eine Frucht in den
Teich, und nun liefen schnellwachsende Kreise eilig und ängstlich über
sie hinweg und machten sie vor banger Neugierde zittern.
Der Brosi, von dem die Eltern gesprochen hatten, war fast aus meinem
Gesichtskreis verloren gewesen, höchstens war er noch eine matte,
beinahe schon verglühte Erinnerung. Nun rang er sich, dessen Namen ich
kaum mehr gewußt hatte, langsam kämpfend empor und wurde wieder zu einem
lebendigen Bilde. Zuerst wußte ich nur, daß ich diesen Namen früher
einmal oft gehört und selber gerufen habe. Dann fiel ein Herbsttag mir
ein, an dem ich von jemand Äpfel geschenkt bekommen hatte. Da erinnerte
ich mich, daß das Brosis Vater gewesen sei, und da wußte ich plötzlich
alles genau wieder, zuerst mit Freude, dann mit Unbehagen -- vielleicht
weil ich mich schämte, so lang nicht mehr daran gedacht zu haben.
Ich sah also einen hübschen Knaben, ein Jahr älter, aber nicht größer
als ich, der hieß Brosi. Vielleicht vor einem Jahre war sein Vater unser
Nachbar und der Bub mein Kamerad geworden; doch reichte mein Gedächtnis
nimmer dahin zurück, und der Anfang unserer Freundschaft schien mir
unendlich weit im unermeßlichen Raum zu liegen. Ich sah ihn wieder
deutlich: er trug eine gestrickte blaue Wollenkappe mit zwei
merkwürdigen Hörnern, und er hatte immer Äpfel oder Schnitzbrot im Sack,
und er hatte gewöhnlich einen Einfall und ein Spiel und einen Vorschlag
parat, wenn es anfangen wollte langweilig zu werden. Er trug eine Weste,
auch werktags, worum ich ihn sehr beneidete, und früher hatte ich ihm
fast gar keine Kraft zugetraut, aber da hieb er einmal den
Schmiedsbarzle vom Dorf, der ihn wegen seiner Hörnerkappe verhöhnte (und
die Kappe war von seiner Mutter gestrickt), jämmerlich durch, und dann
hatte ich eine Zeitlang Angst vor ihm, natürlich nur ein klein wenig,
und er war ja auch fast ein Jahr älter. Er besaß einen zahmen Raben, der
hatte aber im Herbst zu viel junge Kartoffeln ins Futter bekommen und
war gestorben, und wir hatten ihn beim Haftanger begraben. Der Sarg war
eine Schachtel, aber sie war zu klein und der Deckel ging nimmer drüber,
und ich hielt eine Grabrede wie ein Pfarrer, und als der Brosi dabei
anfing zu weinen, mußte mein kleiner Bruder lachen; da schlug ihn der
Brosi, da schlug ich ihn wieder, der Kleine heulte und wir liefen
auseinander, und nachher kam Brosis Mutter zu uns herüber und sagte, es
täte ihm leid, und wenn wir morgen nachmittag zu ihr kommen wollten, so
gäbe es Kaffee und Hefenkranz, er sei schon im Ofen. Und bei dem Kaffee
erzählte der Brosi uns eine Geschichte, die fing mitten drin immer
wieder von vorne an, und obwohl ich die Geschichte nie behalten konnte,
mußte ich doch lachen, so oft ich daran dachte.
Das war aber nur der Anfang. Es fielen mir zu gleicher Zeit tausend
Erlebnisse ein, alle aus dem Sommer und Herbst, wo Brosi mein Kamerad
gewesen war, und alle hatte ich in den paar Monaten, seit er nimmer kam,
so gut wie vergessen. Nun drangen sie von allen Seiten her, wie Vögel,
wenn man im Winter Körner wirft, alle zugleich, ein ganzes Gewölk.
Es fiel mir der glänzende Herbsttag wieder ein, an dem des Dachtelbauers
Turmfalk aus der Remise durchgegangen war. Der beschnittene Flügel war
ihm gewachsen, das messingene Fußkettlein hatte er durchgerieben und den
engen finsteren Schuppen verlassen. Jetzt saß er dem Haus gegenüber
ruhig auf einem Apfelbaum, und wohl ein Dutzend Leute stand auf der
Straße davor, schaute hinauf und redete und machte Vorschläge. Da war
uns Buben sonderbar beklommen zumute, dem Brosi und mir, wie wir mit
allen anderen Leuten dastanden und den Vogel anschauten, der still im
Baume saß und scharf und kühn herabäugte. »Der kommt nicht wieder,« rief
einer. Aber der Knecht Gottlob sagte: »Fliegen wann er noch könnt', dann
wär er schon lang über Berg und Tal.« Der Falk probierte, ohne den Ast
mit den Krallen loszulassen, mehrmals seine großen Flügel; wir waren
schrecklich aufgeregt, und ich wußte selber nicht, was mich mehr freuen
würde, wenn man ihn finge oder wenn er davonkäme. Schließlich wurde vom
Gottlob eine Leiter angelegt, der Dachtelbauer stieg selber hinauf und
streckte die Hand nach seinem Falken aus. Da ließ der Vogel den Ast
fahren und fing an, stark mit den Flügeln zu flattern. Da schlug uns
Knaben das Herz so laut, daß wir kaum atmen konnten; wir starrten
bezaubert auf den schönen, flügelschlagenden Vogel, und dann kam der
herrliche Augenblick, daß der Falk ein paar große Stöße tat, und wie er
sah, daß er noch fliegen konnte, stieg er langsam und stolz in großen
Kreisen höher und höher in die blaue Luft, bis er so klein wie eine
Feldlerche war und still im flimmernden Himmel verschwand. Wir aber, als
die Leute schon lang verlaufen waren, standen noch immer da, hatten die
Köpfe nach oben gestreckt und suchten den ganzen Himmel ab, und da tat
der Brosi plötzlich einen hohen Freudensatz in die Luft und schrie dem
Vogel nach: »Flieg du, flieg du, jetzt bist du wieder frei.«
Auch an den Karrenschuppen des Nachbars mußte ich denken. In dem hockten
wir, wenn es so recht herunterregnete, im Halbdunkel beisammengekauert,
hörten dem Klingen und Tosen des Platzregens zu und betrachteten den
Hofboden, wo Bäche, Ströme und Seen entstanden und sich ergossen und
durchkreuzten und veränderten. Und einmal, als wir so hockten und
lauschten, fing der Brosi an und sagte: »Du, jetzt kommt die Sündflut,
was machen wir jetzt? Also alle Dörfer sind schon ertrunken, das Wasser
geht jetzt schon bis an den Wald.« Da dachten wir uns alles aus, spähten
im Hof umher, horchten auf den schüttenden Regen und vernahmen darin das
Brausen ferner Wogen und Meeresströmungen. Ich sagte, wir müßten ein
Floß aus vier oder fünf Balken machen, das würde uns zwei schon tragen.
Da schrie mich der Brosi aber an: »So, und dein Vater und die Mutter,
und mein Vater und meine Mutter, und die Katz und dein Kleiner? Die
nimmst nicht mit?« Daran hatte ich in der Aufregung und Gefahr freilich
nicht gedacht, und ich log zur Entschuldigung: »Ja, ich hab mir gedacht,
die seien alle schon untergegangen.« Er aber wurde nachdenklich und
traurig, weil er sich das deutlich vorstellte, und dann sagte er: »Wir
spielen jetzt was anderes.«
Und damals, als sein armer Rabe noch am Leben war und überall
herumhüpfte, hatten wir ihn einmal in unser Gartenhaus mitgenommen, wo
er auf den Querbalken gesetzt wurde und hin und her lief, weil er nicht
herunter konnte. Ich streckte ihm den Zeigefinger hin und sagte im Spaß:
»Da, Jakob, beiß!« Da hackte er mich in den Finger. Es tat nicht
besonders weh, aber ich war zornig geworden und schlug nach ihm und
wollte ihn strafen. Der Brosi packte mich aber um den Leib und hielt
mich fest, bis der Vogel, der in der Angst vom Balken heruntergeflügelt
war, sich hinausgerettet hatte. »Laß mich los,« schrie ich, »er hat mich
gebissen,« und rang mit ihm.
»Du hast selber zu ihm gesagt: Jakob beiß!« rief der Brosi und erklärte
mir deutlich, der Vogel sei ganz in seinem Recht gewesen. Ich war
ärgerlich über seine Schulmeisterei, sagte »meinetwegen« und beschloß
aber im stillen, mich ein anderes Mal an dem Raben zu rächen.
Nachher, als Brosi schon aus dem Garten und halbwegs daheim war, rief er
mir noch einmal und kehrte um, und ich wartete auf ihn. Er kam her und
sagte: »Du, gelt du versprichst mir ganz gewiß, daß du dem Jakob nichts
mehr tust?« Und als ich keine Antwort gab und trotzig war, versprach er
mir zwei große Äpfel, und ich nahm an, und dann ging er heim.
Gleich darauf wurden auf dem frühesten Baum in seines Vaters Garten die
ersten Jakobiäpfel reif; da gab er mir die versprochenen zwei Äpfel von
den schönsten und größten. Ich schämte mich jetzt und wollte sie nicht
gleich annehmen, bis er sagte: »Nimm doch, es ist ja nicht mehr wegen
dem Jakob; ich hätt' sie dir auch so gegeben, und dein Kleiner kriegt
auch einen.« Dann nahm ich sie.
Aber einmal waren wir den ganzen Nachmittag auf dem Wiesenland
herumgesprungen und dann in den Wendelswald hineingegangen, wo unter dem
Gebüsch ein schönes weiches Moos wuchs. Wir waren müd und setzten uns
auf den Boden. Ein paar Fliegen sumsten über einem Pilz, und allerlei
Vögel flogen; von denen kannten wir einige, die meisten aber nicht; auch
hörten wir einen Specht fleißig klopfen, und es wurde uns ganz wohl und
froh zumute, so daß wir fast gar nichts zueinander sagten, und nur wenn
einer etwas Besonderes entdeckt hatte, deutete er dorthin und zeigte es
dem andern. In dem überwölbten grünen Raume floß ein grünes mildes
Licht, während der Waldgrund in die Weite sich in ahnungsvolle braune
Dämmerung verlor. Was sich dort hinten regte, Blättergeräusch oder
Vogelschlag, das kam aus verzauberten Märchengründen her, klang mit
geheimnisvoll fremdem Ton und konnte viel bedeuten.
Weil es dem Brosi zu warm vom Laufen war, zog er seine Jacke aus und
dann auch noch die Weste, und legte sich ganz ins Moos hin. Da kam es,
daß er sich umdrehte und sein Hemd ging am Halse auf und ich erschrak
mächtig, denn ich sah über seine weiße Schulter eine lange rote Narbe
hinlaufen. Gleich wollte ich ihn ausfragen, wo denn die Narbe herkäme,
und freute mich schon auf eine rechte Unglücksgeschichte; aber wer weiß
wie es kam, ich mochte auf einmal doch nicht fragen und tat so, als
hätte ich gar nichts gesehen. Jedoch zugleich tat mir Brosi mit seiner
großen Narbe furchtbar leid, sie hatte sicher schrecklich geblutet und
weh getan, und ich faßte in diesem Augenblick eine viel stärkere
Zärtlichkeit zu ihm als früher, konnte aber nichts sagen. Also gingen
wir später miteinander aus dem Wald und kamen heim, dann holte ich in
der Stube meine beste Kugelbüchse aus einem dicken Stück Holderstamm,
die hatte mir der Knecht einmal gemacht, und ging wieder hinunter und
schenkte sie dem Brosi. Er meinte zuerst, es sei ein Spaß, dann aber
wollte er sie nicht nehmen und legte sogar die Hände auf den Rücken, und
ich mußte ihm die Büchse in die Tasche stecken.
Und eine Geschichte um die andere, alle kamen mir wieder. Auch die vom
Tannenwald, der stand auf der anderen Seite vom Bach, und einmal war ich
mit meinem Kameraden hinübergegangen, weil wir gern die Rehe gesehen
hätten. Wir traten in den weiten Raum, auf den glatten braunen Boden
zwischen den himmelhohen geraden Stämmen, aber so weit wir liefen, wir
fanden kein einziges Reh. Dafür sahen wir eine Menge große Felsenstücke
zwischen den bloßen Tannenwurzeln liegen, und fast alle diese Steine
hatten Stellen, wo ein schmales Büschelchen helles Moos auf ihnen wuchs,
wie kleine grüne Male. Ich wollte so ein Moosplätzchen abschälen, es war
nicht viel größer als eine Hand. Aber der Brosi sagte schnell: »Nein,
laß es dran!« Ich fragte warum, und er erklärte mir: »Das ist, wenn ein
Engel durch den Wald geht, dann sind das seine Tritte; überall wo er
hintritt, wächst gleich so ein Moosplatz in den Stein.« Nun fragte ich
weiter, und wir vergaßen die Rehe und warteten, ob vielleicht gerade ein
Engel käme. Wir blieben stehen und paßten auf; im ganzen Wald war eine
Todesstille und auf dem braunen Boden fackelten helle Sonnenflecken, in
der Ferne gingen die senkrechten Stämme wie eine hohe rote Säulenwand
zusammen, in der Höhe stand hinter den dichten schwarzen Kronen der
blaue Himmel schön und ernst. Ein ganz schwaches kühles Wehen lief
unhörbar hin und wieder vorüber. Da wurden wir beide bang und feierlich,
weil es so ruhig und einsam war und weil vielleicht bald ein Engel kam,
und wir gingen nach einer Weile ganz still und schnell miteinander weg,
an den vielen Steinen und Stämmen vorbei und aus dem Wald hinaus. Als
wir wieder auf der Wiese und über dem Bach waren, sahen wir noch eine
Zeitlang hinüber, dann liefen wir schnell nach Haus.
Später hatte ich noch einmal mit dem Brosi Streit, dann versöhnten wir
uns wieder. Es ging schon gegen den Winter hin, da hieß es, der Brosi
sei krank und ob ich nicht zu ihm gehen wollte. Ich ging auch ein- oder
zweimal, da lag er im Bett und sagte fast gar nichts, und es war mir
bang und langweilig, obgleich seine Mutter mir eine halbe Orange
schenkte. Und dann kam nichts mehr; ich spielte mit meinem Bruder und
mit dem Löhnersnikel oder mit den Mädchen, und so ging eine lange, lange
Zeit vorbei. Es fiel Schnee und schmolz wieder und fiel noch einmal; der
Bach fror zu, ging wieder auf und war braun und weiß und machte eine
Überschwemmung und brachte vom Obertal eine ertrunkene Sau und eine
Menge Holz mit; es wurden kleine Hühner geboren und drei davon starben
hintereinander weg; mein Brüderlein wurde krank und wurde wieder gesund;
es war in den Scheuern gedroschen und in den Stuben gesponnen worden,
und jetzt wurden die Felder wieder gepflügt, alles ohne den Brosi. So
war er ferner und ferner geworden und am Ende verschwunden und von mir
vergessen worden -- bis jetzt, bis auf diese Nacht, wo das rote Licht
durchs Schlüsselloch floß und ich den Vater zur Mutter sagen hörte:
»Wenn's Frühjahr kommt, wird's ihn wegnehmen.«
Unter vielen sich verwirrenden Erinnerungen und Gefühlen schlief ich
ein, und vielleicht wäre schon am nächsten Tage im Drang des Erlebens
das kaum erwachte Gedächtnis an den entschwundenen Spielgefährten wieder
untergesunken und wäre dann vielleicht nie mehr in der gleichen,
frischen Schönheit und Stärke zurückgekommen. Aber gleich beim Frühstück
fragte mich die Mutter: »Denkst du auch noch einmal an den Brosi, der
immer mit euch gespielt hat?«
Da rief ich »ja«, und sie fuhr fort mit ihrer guten Stimme: »Im
Frühjahr, weißt du, wäret ihr beide miteinander in die Schule gekommen,
wenn er auch ein Jahr älter ist. Aber jetzt ist er so krank, daß es
vielleicht nichts damit sein wird. Willst du einmal zu ihm gehen?«
Sie sagte das so ernsthaft und ich dachte an das, was ich in der Nacht
den Vater hatte sagen hören, und ich fühlte ein Grauen, aber zugleich
eine angstvolle Neugierde. Der Brosi sollte, nach des Vaters Worten, den
Tod im Gesicht haben, und das schien mir unsäglich grauenhaft und
wunderbar.
Ich sagte wieder »ja«, und die Mutter schärfte mir ein: »Denk dran, daß
er so krank ist! Du kannst jetzt nicht mit ihm spielen und darfst kein
Lärmen verführen.«
Ich versprach alles und bemühte mich schon jetzt ganz still und
bescheiden zu sein, und noch am gleichen Morgen ging ich hinüber. Vor
dem Hause, das ruhig und ein wenig feierlich hinter seinen beiden
kugelrund geschnittenen, kahlen Kastanienbäumen im kühlen
Vormittagslichte lag, blieb ich stehen und wartete eine Weile, horchte
in die Flur hinein und bekam fast Lust, wieder heimzulaufen. Da faßte
ich mir ein Herz, stieg schnell die drei roten Steinstufen hinauf und
durch die offenstehende Türhälfte, sah mich im Gehen um und klopfte an
die nächste Tür. Des Brosi Mutter war eine kleine, flinke und sanfte
Frau, die kam heraus und hob mich auf und gab mir einen Kuß, und dann
fragte sie: »Hast du zum Brosi kommen wollen?«
Es ging nicht lang, so stand sie im oberen Stockwerk vor einer weißen
Kammertür und hielt mich an der Hand. Auf diese ihre Hand, die mich zu
den dunkel vermuteten grauenhaften Wunderdingen führen sollte, sah ich
nicht anders als auf die eines Engels oder eines Zauberers. Das Herz
schlug mir geängstigt und ungestüm wie ein Warner, und ich zögerte nach
Kräften und strebte zurück, so daß die Frau mich fast in die Stube
ziehen mußte. Es war eine große, helle und behaglich nette Kammer; ich
stand verlegen und grausend an der Tür und schaute auf das lichte Bett
hin, bis die Frau mich hinzuführte. Da drehte der Brosi sich zu uns
herum.
Und ich blickte aufmerksam in sein Gesicht, das war schmal und spitzig,
aber den Tod konnte ich nicht darin sehen, sondern nur ein feines Licht,
und in den Augen etwas Ungewohntes, gütig Ernstes und Geduldiges, bei
dessen Anblick mir ähnlich ums Herz ward, wie bei jenem Stehen und
Lauschen im schweigenden Tannenwald, da ich in banger Neugierde den Atem
anhielt und Engelsschritte in meiner Nähe vorbeigehen spürte.
Der Brosi nickte ganz erfreut und heiter und streckte mir eine Hand hin,
die heiß und trocken und abgezehrt war. Seine Mutter streichelte ihn,
nickte mir zu und ging wieder aus der Stube; so stand ich allein an
seinem kleinen hohen Bett und sah ihn an, und eine Zeitlang sagten wir
beide kein Wort.
»So, bist du's denn noch?« sagte dann der Brosi.
Und ich: »Ja, und du auch noch?«
Und er: »Hat dich deine Mutter geschickt?«
Ich nickte.
Er war müde und ließ jetzt den Kopf wieder auf das Kissen fallen. Ich
wußte gar nichts zu sagen, nagte an meiner Mützentroddel und sah ihn nur
immer an, und er mich, bis er lächelte und zum Scherz die Augen schloß.
Da schob er sich ein wenig auf die Seite, und wie er es tat, sah ich
plötzlich unter den Hemdknöpfen durch den Ritz etwas Rotes schimmern,
das war die große Narbe auf seiner Schulter, und als ich die gesehen
hatte, mußte ich auf einmal heulen.
»Ja, was hast du denn?« fragte er gleich.
Ich konnte keine Antwort geben, weinte weiter und wischte mir die Backen
mit der rauhen Mütze ab, bis es weh tat.
»Sag's doch. Warum weinst du?«
»Bloß weil du so krank bist,« sagte ich jetzt. Aber das war nicht die
eigentliche Ursache. Es war nur eine Woge von heftiger und mitleidiger
Zärtlichkeit, wie ich sie schon früher einmal gespürt hatte, die quoll
plötzlich in mir auf und konnte sich nicht anders Luft machen.
»Das ist nicht so schlimm,« sagte der Brosi.
»Wirst du bald wieder gesund?«
»Ja, vielleicht.«
»Wann denn?«
»Ich weiß nicht. Es dauert lang.«
Nach einer Zeit merkte ich auf einmal, daß er eingeschlafen war. Ich
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