Diesseits: Erzählungen - 04

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Ohne zu wissen, wie ich hereingekommen war, saß ich dann innen in der
Dämmerung am Tisch, und Helene saß mir gegenüber, mit dem Rücken gegen
das Fenster, schwieg und sah in die Stube hinein. Es kam mir vor, ich
sitze schon lange so da und habe schon stundenlang gehockt und
geschwiegen. Und indem ich jetzt aufschrak, kam mir plötzlich zum
Bewußtsein, es sei das letzte Mal.
»Ja,« sagte ich, »ich bin nun am Adieusagen. Meine Ferien sind aus.«
»Ach?«
Und wieder war alles still. Man hörte die Arbeiter im Schuppen
hantieren, auf der Straße fuhr ein Lastwagen langsam vorbei, und ich
horchte ihm nach, bis er um die Biegung war und verklang. Ich hätte gern
dem Wagen noch lange, lange nachgelauscht. Nun riß es mich vom Stuhl
auf, ich wollte gehen.
Ich trat zum Fenster hinüber. Auch sie stand auf und sah mich an. Ihr
Blick war fest und ernst und wich mir eine ganze lange Weile nicht aus.
»Wissen Sie nimmer,« sagte ich, »damals im Garten?«
»Ja, ich weiß.«
»Helene, damals meinte ich, Sie hätten mich lieb. Und jetzt muß ich
gehen.«
Sie nahm meine ausgestreckte Hand und zog mich ans Fenster.
»Lassen Sie sich noch einmal ansehen,« sagte sie und bog mit der linken
Hand mein Gesicht in die Höhe. Dann näherte sie ihre Augen den meinen
und sah mich seltsam fest und steinern an. Und da mir nun ihr Gesicht so
nahe war, konnte ich nicht anders und legte meinen Mund auf ihren. Da
schloß sie die Augen und gab mir den Kuß zurück, und ich legte den Arm
um sie, zog sie fest an mich und fragte leise: »Schatz, warum erst
heut?«
»Nicht reden!« sagte sie. »Geh jetzt fort und komm in einer Stunde
wieder. Ich muß drüben nach den Leuten sehen. Der Vater ist heut nicht
da.«
Ich ging und schritt davon, talabwärts durch unbekannte, merkwürdige
Gegenden, zwischen blendend lichten Wolkenbildern, hörte nur wie im
Traume zuweilen den Sattelbach rauschen und dachte an lauter ganz
entfernte, wesenlose Dinge -- an kleine drollige oder rührende Szenen
aus meiner Kleinkinderzeit und dergleichen Geschichten, die aus den
Wolken heraus mit halbem Umriß erstanden und, ehe ich sie ganz erkennen
konnte, wieder untergingen. Ich sang auch im Gehen ein Lied vor mich
hin, aber es war ein gewöhnlicher Gassenhauer. So irrte ich in fremden
Räumen, bis eine seltsame, süße Wärme mich wohlig durchdrang und die
große, kräftige Gestalt Helenes vor meinen Gedanken stand. Da kam ich zu
mir, fand mich weit unten im Tal bei anbrechender Dämmerung, und eilte
nun schnell und freudig zurück.
Sie wartete schon, ließ mich durch Haustor und Stubentür ein, da setzten
wir uns beide auf den Tischrand, hielten unsre Hände ineinander und
sprachen kein Wort. Es war lau und dunkel, ein Fenster stand offen, in
dessen Höhe über dem Bergwald ein schmaler Strich des blassen Himmels
schimmerte, von spitzigen Tannenkronen schwarz durchschnitten. Wir
spielten jedes mit des andern Fingern, und mich überlief bei jedem
leichten Druck ein Schauer von Glück.
»Helene!«
»Ja?«
»O du! --«
Und unsre Finger tasteten aneinander, bis sie stille wurden und ruhig
ineinander lagen. Ich schaute auf den bleichen Himmelsspalt, und nach
einer Zeit, als ich mich umwandte, sah ich auch sie dorthin blicken und
sah mitten im Dunkel ein schwaches Licht von dorther in ihren Augen und
in zwei großen, unbeweglich an ihren Lidern hängenden Tränen
widerglänzen. Die küßte ich langsam hinweg und wunderte mich, wie kühl
und salzig sie schmeckten. Da zog sie mich an sich, küßte mich lang und
mächtig und stand auf.
»Es ist Zeit. Jetzt mußt du gehen.«
Und als wir unter der Tür standen, küßte sie mich plötzlich noch einmal
mit heftiger Leidenschaft, und dann zitterte sie so, daß es auch mich
schüttelte, und sagte mit einer kaum mehr hörbaren, erstickenden Stimme:
»Geh, geh! Hörst du, geh jetzt!« Und als ich draußen stand: »Adieu, du!
Komm nimmer, komm nicht wieder! Adieu!«
Ehe ich etwas sagen konnte, hatte sie die Tür zugezogen. Mir war bang
und unklar ums Herz, doch überwog mein großes Glücksgefühl, das mich auf
dem Heimweg wie ein Flügelbrausen umgab. Ich ging mit schallenden
Tritten, ohne es doch zu spüren, und daheim tat ich die Kleider ab und
legte mich im Hemd ins Fenster.
So eine Nacht möchte ich noch einmal haben. Der laue Wind tat mir wie
eine Mutterhand, vor dem hochgelegenen Fensterchen flüsterten und
dunkelten die großen, runden Kastanienbäume, ein leichter Felderduft
wehte hin und wieder durch die Nacht, und in der Ferne flog das
Wetterleuchten golden zitternd über den schweren Himmel. Ein leises
fernes Donnern tönte je und je herüber, schwach und von fremdartigem
Klang, als ob irgendwo weit weg die Wälder und Berge im Schlafe sich
regten und schwere, müde Traumworte lallten. Das alles sah und hörte ich
wie ein König von meiner hohen Glücksburg herab, es gehörte mir und war
nur da, um meiner tiefen Lust ein schöner Rastort zu sein. Mein Wesen
atmete in Wonne auf und verlor sich wie ein schöner Liebesvers
hinströmend und doch unerschöpft in die Nachtweite über das schlafende
Land, an die ferne leuchtenden Wolken streifend, von jedem aus der
Schwärze sich wölbenden Baum und von jedem matten Hügelfirst wie von
Liebeshänden berührt. Es ist nichts, um es mit Worten zu sagen, aber es
lebt noch unverloren in mir weiter, und ich könnte, wenn es dafür eine
Sprache gäbe, jede in die Dunkelheit verlaufende Bodenwelle, jedes
Wipfelgeräusch, die Adern der entfernten Blitze und den geheimen
Rhythmus des Donners noch genau beschreiben.
Nein, ich kann es nicht beschreiben. Das Schönste und Innerlichste und
Köstlichste kann man ja nicht sagen. Aber ich wollte, jene Nacht käme
mir noch einmal wieder, da ich bis ins innerste Herz hinein ein Seliger
war.
Wenn ich vom Verwalter Becker nicht schon Abschied genommen hätte, wäre
ich gewiß am folgenden Morgen zu ihm gegangen. Statt dessen trieb ich
mich im Dorf herum und schrieb dann einen langen Brief an Helene. Ich
meldete mich auf den Abend an und machte ihr eine Menge Vorschläge,
setzte ihr genau und ernsthaft meine Umstände und Aussichten auseinander
und fragte, ob sie es für gut halte, daß ich gleich mit ihrem Vater
rede, oder ob wir damit noch warten wollten, bis ich der in Aussicht
stehenden Anstellung und damit der nächsten Zukunft sicher wäre. Und
abends ging ich zu ihr. Der Vater war wieder nicht da; es war seit
einigen Tagen einer seiner Lieferanten in der Gegend, der ihn in
Anspruch nahm.
Ich küßte meinen schönen Schatz, zog ihn in die Stube und fragte nach
meinem Brief. Ja, sie hatte ihn erhalten. Und was sie denn darüber
denke? Sie schwieg und sah mich flehentlich an, und da ich in sie drang,
legte sie mir die Hand auf den Mund, küßte mich auf die Stirn und
stöhnte leise, aber so jammervoll, daß ich mir nicht zu helfen wußte.
Auf all mein zärtliches Fragen schüttelte sie nur den Kopf, lächelte
dann aus ihrem Schmerz heraus merkwürdig weich und fein, schlang den Arm
um mich und saß wieder mit mir, ganz wie gestern, schweigend und
hingegeben. Sie lehnte sich fest an mich, legte den Kopf an meine Brust,
und ich küßte sie langsam, ohne etwas denken zu können, auf Haar und
Stirn und Wange und Nacken, bis mir schwindelte. Ich sprang auf.
»Also soll ich morgen mit deinem Vater reden oder nicht?«
»Nein,« sagte sie, »bitte, nicht.«
»Warum denn? Hast du Angst?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Also warum denn?«
»Laß nur, laß! Rede nicht davon. Wir haben noch eine Viertelstunde
Zeit.«
Da saßen wir und hielten uns still umfangen, und während sie sich an
mich schmiegte und bei jeder Liebkosung den Atem anhielt und schauerte,
ging ihre Bedrücktheit und Schwermut auf mich über. Ich wollte mich
wehren und redete ihr zu, an mich und an unser Glück zu glauben.
»Ja, ja,« nickte sie, »nicht davon reden! Wir sind ja jetzt glücklich.«
Darauf küßte sie mich mehrmals mit stummer Kraft und Glut und hing dann
erschlaffend und müde in meinem Arm. Und als ich gehen mußte, und als
sie mir in der Tür mit der Hand übers Haar strich, sagte sie mit halber
Stimme: »Adieu Schatz. Komm morgen nicht! Komm gar nicht wieder, bitte!
Du siehst doch, daß es mich unglücklich macht.«
* * * * *
Mit einem quälenden Zwiespalt im Herzen ging ich heim und vergrübelte
die halbe Nacht. Warum wollte sie nicht glauben und glücklich sein? Ich
mußte an das denken, was sie mir schon vor einigen Wochen einmal gesagt
hatte: »Wir Frauen sind nicht so frei wie ihr; man muß tragen lernen,
was über einen verhängt ist.« Was war denn über sie verhängt?
Das mußte ich jedenfalls wissen, und darum schickte ich ihr am Vormittag
einen Zettel und wartete abends, als das Werk stillstand und die
Arbeiter alle gegangen waren, hinter dem Schuppen bei den Marmorblöcken.
Sie kam spät und zögernd herüber.
»Warum bist du gekommen? Laß es jetzt genug sein. Der Vater ist
drinnen.«
»Nein,« sagte ich, »du mußt mir jetzt sagen, was du noch auf dem Herzen
hast, alles und alles, ich gehe nicht eher weg.«
Helene sah mich ruhig an und war so blaß wie die Steinplatten, vor denen
sie stand.
»Quäl mich nicht,« flüsterte sie mühsam. »Ich kann dir nichts sagen, ich
will nicht. Ich kann dir nur sagen -- reise ab, heut oder morgen, und
vergiß das, was jetzt ist. Ich kann nicht dir gehören.«
Sie schien trotz der lauen Juliabendluft zu frieren, so zitterte sie.
Schwerlich habe ich je eine ähnliche Qual empfunden, wie in diesen
Augenblicken. Aber so konnte ich nicht gehen.
»Sag mir jetzt alles,« wiederholte ich, »ich muß es wissen.«
Sie sah mich an, daß mir alles weh tat. Aber ich konnte nicht anders.
»Rede,« sagte ich fast rauh, »sonst geh' ich jetzt im Augenblick zu
deinem Vater hinüber.«
Sie richtete sich unwillig auf und war in ihrer Blässe bei dem
Dämmerlicht von einer traurigen und großartigen Schönheit. Sie sprach
ohne Leidenschaft, aber lauter als vorher.
»Also. Ich bin nicht frei, und du kannst mich nicht haben. Es ist schon
ein andrer da. Ist das genug?«
»Nein,« sagte ich, »das ist nicht genug. Hast du denn den andern lieb?
Lieber als mich?«
»O du!« rief sie heftig. »Nein, nein, ich hab' ihn ja nicht lieb. Aber
ich bin ihm versprochen, und daran ist nichts zu ändern.«
»Warum nicht? Wenn du ihn nicht magst!«
»Damals wußte ich ja noch nichts von dir. Er gefiel mir; lieb hatte ich
ihn nicht, aber es war ein rechter Mann, und ich kannte keinen andern.
Da hab' ich >ja< gesagt, und jetzt ist es so und muß so bleiben.«
»Es muß nicht, Helene. So etwas kann man doch zurücknehmen.«
»Ja, schon. Aber es ist nicht um jenen, es ist um den Vater. Dem darf
ich nicht untreu werden.«
»Aber ich will mit ihm reden --«
»O du Kindskopf! Verstehst du denn gar nichts --?«
Ich sah sie an. Sie lachte fast.
»Verkauft bin ich, von meinem Vater und mit meinem Willen verkauft, für
Geld. Im Winter ist Hochzeit.«
Sie wendete sich ab, ging ein paar Schritte weit und kehrte wieder um.
Und sagte: »Schatz, sei tapfer! Du darfst nicht mehr kommen, du darfst
nicht --«
»Und bloß ums Geld?« mußte ich fragen.
Sie zuckte die Achseln.
»Was liegt daran? Mein Vater kann nimmer zurück, er ist so fest
angebunden wie ich. Du kennst ihn nicht! Wenn ich ihn im Stich lasse,
gibt es ein Unglück. Also sei brav, sei gescheit, du Kind!«
Und dann brach sie plötzlich aus: »Versteh doch, du, und bring mich
nicht um! -- Jetzt kann ich noch, wie ich will. Aber wenn du mich noch
einmal anrührst -- ich halte das nimmer aus . . . Ich kann dir keinen
Kuß mehr geben, sonst gehen wir alle verloren.«
Einen Augenblick war alles stille, so stille, daß man im Haus drüben den
Vater auf und ab gehen hörte.
»Ich kann heute nichts entscheiden,« war meine Antwort. »Willst du mir
nicht noch sagen -- wer es ist?«
»Der andre? Nein, es ist besser, du weißt es nicht. O, komm jetzt nicht
wieder -- mir zulieb!«
Sie ging ins Haus, und ich sah ihr nach. Ich wollte fortgehen, vergaß es
aber und setzte mich auf die kühlen weißen Steine, hörte dem Wasser zu
und fühlte nichts als ein Gleiten, Gleiten und Hinwegströmen ohne Ende.
Es war, als liefe mein Leben und Helenens Leben und viele ungezählte
Schicksale an mir vorbei dahin, schluchtabwärts ins Dunkle, gleichgültig
und wortlos wie Wasser. Wie Wasser . . .
Spät und todmüde kam ich nach Haus, schlief und stand am Morgen wieder
auf, beschloß, den Koffer zu packen, vergaß es wieder und schlenderte
nach dem Frühstück in den Wald. Es wurde kein Gedanke in mir fertig, sie
stiegen nur wie Blasen aus einem stillen Wasser in mir auf und plagten
und waren nichts mehr, sobald sie sichtbar geworden waren.
>Also jetzt ist alles aus,< dachte ich hier und da, aber es war kein
Bild, keine Vorstellung dabei; es war nur ein Wort, ich konnte dazu
aufatmen und mit dem Kopf nicken, war aber so klug wie vorher.
Erst im währenden Nachmittag wachte die Liebe und das Elend in mir auf
und drohte mich zu überwältigen. Auch dieser Zustand war kein Boden für
gute und klare Gedanken, und statt mich zu zwingen und eine besonnene
Stunde abzuwarten, ließ ich mich fortreißen und legte mich in der Nähe
des Marmorwerks auf die Lauer, bis ich den Herrn Lampart das Haus
verlassen und talaufwärts auf der Landstraße gegen das Dorf hin
verschwinden sah.
Da ging ich hinüber.
Als ich eintrat, schrie Helene auf und sah mich tief verwundet an.
»Warum?« stöhnte sie. »Warum noch einmal?«
Ich war ratlos und beschämt und bin mir nie so jämmerlich vorgekommen
wie da. Die Tür hatte ich noch in der Hand, aber es ließ mich nicht
fort, so ging ich langsam zu ihr hin, die mich mit angstvollen,
leidenden Blicken ansah.
»Verzeih, Helene,« sagte ich nun.
Sie nickte viele Mal, blickte zu Boden und wieder auf, wiederholte
immer: »Warum? O du! O du!« In Gesicht und Gebärden schien sie älter und
reifer und mächtiger geworden zu sein, ich erschien mir daneben fast wie
ein Knabe.
»Nun, also?« fragte sie schließlich und versuchte zu lächeln.
»Sag mir noch etwas,« bat ich beklommen, »damit ich gehen kann.«
Ihr Gesicht zuckte, ich glaubte, sie würde jetzt in Tränen ausbrechen.
Aber da lächelte sie unversehens, ich kann nicht sagen wie weich und aus
Qualen heraus, und richtete sich auf und sagte ganz flüsternd: »Komm
doch, warum stehst du so steif da!« Und ich tat einen Schritt und nahm
sie in die Arme. Wir hielten uns mit allen Kräften umklammert, und
während bei mir die Lust sich immer mehr mit Bangigkeit und Schrecken
und verhaltenem Schluchzen mischte, wurde sie zusehends heiter,
streichelte mich wie ein Kind, nannte mich mit phantastischen Kosenamen,
biß mich in die Hand und war erfinderisch in kleinen Liebestorheiten. In
mir kämpfte ein tiefes Angstgefühl gegen die treibende Leidenschaft, ich
fand keine Worte und hielt Helene an mich gezogen, während sie mich
mutwillig und schließlich lachend liebkoste und neckte.
»Sei doch ein bißchen froh, du Eiszapfen!« rief sie mir zu und zog mich
am Schnurrbart.
Und ich fragte ängstlich: »Ja, glaubst du jetzt, daß es doch noch gut
wird? Wenn du doch nicht mir gehören kannst --«
Sie faßte meinen Kopf mit ihren beiden Händen, sah mir ganz nah ins
Gesicht und sagte: »Ja, nun wird alles gut.«
»Dann darf ich hierbleiben, und morgen wiederkommen und mit deinem Vater
sprechen?«
»Ja, dummer Bub, das darfst du alles. Du darfst sogar im Gehrock kommen,
wenn du einen hast. Morgen ist so wie so Sonntag.«
»Jawohl, ich hab' einen,« lachte ich und war auf einmal so kindisch
froh, daß ich sie mitriß und ein paar Mal mit ihr durch das Zimmer
walzte. Dann strandeten wir an der Tischecke, ich hob sie auf meinen
Schoß, sie legte die Stirn an meine Wange, und ich spielte mit ihrem
dunkeln, dicken Haar, bis sie aufsprang und zurücktrat und ihr Haar
wieder aufsteckte, mir mit dem Finger drohte und rief: »Jeden Augenblick
kann der Vater kommen. Sind wir Kindsköpfe!«
Ich bekam noch einen Kuß, und noch einen, und aus dem Strauß vom
Fenstersims eine Resede an den Hut. Es ging gegen den Abend, und da es
Samstag war, fand ich im Adler allerlei Gesellschaft, trank einen
Schoppen, schob eine Partie Kegel mit und ging dann zeitig heim. Dort
holte ich den Gehrock aus dem Schrank, hängte ihn über die Stuhllehne
und betrachtete ihn mit Wohlgefallen. Er war so gut wie neu, seinerzeit
zum Examen gekauft und seither fast nie getragen. Das schwarze,
glänzende Tuch erweckte lauter feierliche und würdevolle Gedanken in
mir. Statt ins Bett zu gehen, setzte ich mich hin und überlegte, was ich
morgen Helenens Vater zu sagen hätte. Genau und deutlich stellte ich mir
vor, wie ich vor ihn treten würde, bescheiden und doch mit Würde, malte
mir seine Einwände, meine Erwiderungen, ja auch seine und meine Gedanken
und Gebärden aus. Ich sprach sogar laut, wie ein sich übender Prediger,
und machte die nötigen Gesten dazu, und noch als ich schon im Bette lag
und nahe am Einschlafen war, deklamierte ich einzelne Sätze aus der
mutmaßlichen Unterredung von morgen her.
>Gewiß, Herr Lampart, ich verstehe das vollkommen. Allein ich darf
vielleicht darauf hinweisen --<
Am Ende wurde es mir selber lächerlich.
Dann war es Sonntagmorgen. Ich blieb, um nochmals in Ruhe nachzudenken,
im Bett liegen, bis die Kirchenglocken läuteten. Während der Kirchzeit
zog ich mein Staatskleid an, mindestens so umständlich und peinlich wie
damals vor dem Examen, rasierte mich aufs feinste, trank meine
Morgenmilch und hatte immerhin ein wenig, das heißt ganz erheblich
Herzklopfen. Unruhig wartete ich, bis der Gottesdienst aus war, und
schritt, als kaum das Ausläuten vertönt hatte, langsam und ernsthaft und
die staubigen Wegstellen vermeidend, durch den schon heißen, dunstigen
Vormittag die Straße zum Sattelbach und talabwärts meinem Ziel entgegen.
Trotz meiner Behutsamkeit geriet ich in dem Gehrock und hohen Kragen in
ein leises Schwitzen.
Als ich die Marmorsäge erreichte, standen im Weg und auf dem Hofe zu
meinem Erstaunen und Unbehagen einige Leute aus dem Dorf herum, auf
irgend etwas wartend und in kleinen Gruppen leise redend, wie etwa bei
einer Gant.
Doch mochte ich niemand fragen, was das bedeute, und ging an den Leuten
vorbei zur Haustür, verwundert und beklommen wie in einem ängstlich
sonderbaren Traume. Eintretend stieß ich in dem Flur auf den Verwalter
Becker, den ich kurz und verlegen grüßte. Es war mir peinlich, ihn da zu
treffen, da er doch glauben mußte, ich sei längst abgereist. Doch schien
er daran nimmer zu denken. Er sah angestrengt und müde aus, auch blaß.
»So, kommst du auch?« sagte er nickend und mit ziemlich bissiger Stimme.
»Ich fürchte, Teuerster, du bist heute hier entbehrlich.«
»Herr Lampart ist doch da?« fragte ich dagegen.
»Jawohl, wo soll er sonst sein?«
»Und das Fräulein?«
Er deutete auf die Stubentür.
»Da drinnen?«
Becker nickte, und ich wollte eben anklopfen, als die Tür aufging und
ein Mann herauskam. Dabei sah ich, daß mehrere Besucher in dem Zimmer
herumstanden und daß die Möbel teilweise umgestellt waren.
Jetzt wurde ich stutzig.
»Becker, du, was ist hier geschehen? Was wollen die Leute? Und du, warum
bist du hier?«
Der Verwalter drehte sich um und sah mich sonderbar an.
»Weißt du's denn nicht?« fragte er mit veränderter Stimme.
»Was denn? Nein.«
Er stellte sich vor mich hin und sah mir ins Gesicht.
»Dann geh nur wieder heim, Junge,« sagte er leise und fast weich und
legte mir die Hand auf den Arm. Mir stieg im Hals ein Würgen auf, eine
namenlose Angst flog mir durch alle Glieder.
Und Becker sah mich noch einmal so merkwürdig prüfend an. Dann fragte er
leise: »Hast du gestern mit dem Mädchen gesprochen?« Und als ich rot
wurde, hustete er gewaltsam, es klang aber wie ein Stöhnen.
»Was ist mit Helene? Wo ist sie?« schrie ich angstvoll heraus. »Etwas
Schlimmes?«
Becker nickte, ging auf und ab und schien mich vergessen zu haben. Ich
lehnte am Pfosten des Treppengeländers und fühlte mich von fremden,
blutlosen Gestalten beengend und höhnisch umflattert. Nun ging Becker
wieder an mir vorbei, sagte: »Komm!« und stieg die Treppe hinauf, bis wo
sie eine Biegung machte. Dort setzte er sich auf eine Stufe, und ich
setzte mich neben ihn, meinen schönen Gehrock rücksichtslos
zerknitternd. Einen Augenblick war es totenstill durchs ganze Haus, dann
fing Becker zu sprechen an.
»Nimm dein Herz in die Hand und beiß auf die Zähne, Kleiner. Also die
Helene Lampart ist tot, und zwar haben wir sie heut morgen vor der
unteren Stellfalle aus dem Bach gezogen. -- Sei still, sag nichts! Und
nicht umfallen! Du bist nicht der einzige, dem das kein Spaß ist.
Probier's jetzt und drück' die Männlichkeit durch. Jetzt liegt sie in
der Stube dort und sieht wieder schön genug aus, aber wie wir sie
herausgeholt haben -- das war bös, du, das war bös . . .«
Er hielt inne und schüttelte den Kopf.
»Sei still! Nichts sagen! Später ist zum Reden Zeit genug. Es geht mich
näher an als dich. -- Oder nein, lassen wir's; ich sag' dir das alles
dann morgen.«
»Nein,« bat ich, »Becker, sag mir's! Ich muß alles wissen.«
»Nun ja. Kommentar und so weiter steht dir später jederzeit zu Diensten.
Ich kann jetzt nur sagen, es war gut mit dir gemeint, daß ich dich all
die Zeit hier ins Haus laufen ließ. Man weiß ja nie vorher. -- Also, ich
bin mit der Helene verlobt gewesen. Noch nicht öffentlich, aber --«
Im Augenblick meinte ich, ich müsse aufstehen und dem Verwalter mit
aller Kraft ins Gesicht hauen. Er schien es zu merken.
»Nicht so!« sagte er ruhig und sah mich an. »Wie gesagt, zu Erklärungen
ist ein andermal Zeit.«
Wir saßen schweigend. Wie eine Gespensterjagd flog die ganze Geschichte
zwischen Helene und Becker und mir an mir vorbei, so klar wie schnell.
Warum hatte ich das nicht früher erfahren, warum nicht selber gemerkt?
Wieviel Möglichkeiten hätte es da noch gegeben! Nur ein Wort, nur eine
Ahnung, und ich wäre still meiner Wege gegangen, und sie läge jetzt
nicht dort drinnen.
Mein Zorn war schon erstickt. Ich fühlte wohl, daß Becker die Wahrheit
ahnen mußte, und ich begriff, welche Last nun auf ihm lag, da er in
seiner Sicherheit mich hatte spielen lassen und nun den größeren Teil
der Schuld auf seiner Seele hatte. Jetzt mußte ich noch eine Frage tun.
»Du, Becker -- hast du sie lieb gehabt? Ernstlich lieb gehabt?«
Er wollte etwas sagen, aber die Stimme brach ihm ab. Er nickte nur,
zweimal, dreimal. Und als ich ihn nicken sah, und als ich sah, wie
diesem zähen und harten Menschen die Stimme versagte, und wie auf seinem
herben, übernächtigen Gesicht die Muskeln so deutlich redend zuckten, da
fiel mich das ganze Weh erst an, und ich senkte den Kopf und schluchzte
ohne Halt.
Nach einer guten Weile, da ich durch die versiegenden Tränen aufschaute,
stand jener vor mir und hielt mir die Hand hingestreckt. Ich nahm sie an
und drückte sie, er stieg langsam vor mir her die steile Treppe hinunter
und öffnete leise die Tür des Wohnzimmers, in dem Helene lag und das ich
mit tiefem Grauen an jenem Morgen zum letzten Mal betrat.


Heumond

Das Landhaus Erlenhof lag nicht weit vom Wald und Gebirge in der hohen
Ebene.
Vor dem Hause war ein großer Kiesplatz, in den die Landstraße mündete.
Hier konnten die Wagen vorfahren, wenn Besuch kam. Sonst lag der
viereckige Platz immer leer und still und schien dadurch noch größer als
er war, namentlich bei gutem Sommerwetter, wenn das blendende
Sonnenlicht und die heiße Zitterluft ihn so anfüllte, daß man nicht
daran denken mochte ihn zu überschreiten.
Der Kiesplatz und die Straße trennten das Haus vom Garten. >Garten<
sagte man wenigstens, aber es war vielmehr ein mäßig großer Park, nicht
sehr breit aber tief, mit schönen stattlichen Ulmen, Ahornen und
Platanen, gewundenen Spazierwegen, einem jungen Tannendickicht und
vielen Ruhebänken. Dazwischen lagen sonnige, lichte Rasenstücke, einige
leer und einige mit Blumenrondels oder Ziersträuchern geschmückt, und in
dieser heiteren, warmen Rasenfreiheit standen allein und auffallend zwei
große einzelne Bäume.
Der eine war eine Trauerweide. Um ihren Stamm lief eine schmale
Lattenbank und ringsum hingen die langen, seidig zarten, müden Zweige so
tief und dicht herab, daß es innen ein Zelt oder Tempel war, wo trotz
des ewigen Schattens und Dämmerlichtes eine stete, matte Wärme brütete.
Der andere Baum, von der Weide durch eine niedrig umzäunte Wiese
getrennt, war eine mächtige Blutbuche. Sie sah von weitem dunkelbraun
und fast schwarz aus. Wenn man jedoch näher kam oder sich unter sie
stellte und emporschaute, brannten alle Blätter der äußeren Zweige, vom
Sonnenlichte durchdrungen, in einem warmen, leisen Purpurfeuer, das mit
verhaltener und feierlich gedämpfter Glut wie in einem Kirchenfenster
leuchtete. Die alte Blutbuche war die berühmteste und merkwürdigste
Schönheit des großen Gartens und man konnte sie von überall her sehen.
Sie stand allein und dunkel mitten in dem hellen Graslande, und sie war
hoch genug, daß man, wo man auch vom Park aus nach ihr blickte, ihre
runde, feste, ruhig und schön gewölbte Krone mitten im blauen Luftraum
stehen sah, und je heller und blendender die Bläue war, desto schwärzer
und feierlicher ruhte der Baumwipfel in ihr. Er konnte je nach der
Witterung und Tageszeit sehr verschieden aussehen. Oft sah man ihm an,
daß er wußte, wie schön er sei und daß er nicht ohne Grund allein und
stolz weit von den anderen Bäumen stehe. Er brüstete sich und blickte
kühl über alles hinweg in den Himmel. Oft auch sah er aber aus, als
wisse er wohl, daß er der einzige seiner Art im Garten sei und keine
Brüder habe. Dann schaute er zu den übrigen, entfernten Bäumen hinüber,
suchte und hatte Sehnsucht. Morgens war er am schönsten, und auch abends
bis die Sonne rot wurde, aber dann war er plötzlich gleichsam erloschen
und es schien an seinem Orte eine Stunde früher Nacht zu werden als
sonst überall. Das eigentümlichste und düsterste Aussehen hatte er
jedoch an Regentagen. Während die anderen Bäume atmeten und sich reckten
und freudig mit hellerem Grün erprangten, stand er wie tot in seiner
Einsamkeit, vom Wipfel bis zum Boden schwarz anzusehen. Ohne daß er
zitterte, konnte man doch sehen, daß er fror und daß er mit Unbehagen
und Scham so allein und preisgegeben stand.
Auch unter den gesellig in schönen Gruppen beieinander stehenden
Parkbäumen gab es einige besonders herrliche. Den größten, die alte
Ulme, sah man schon eine Stunde weit von allen Straßen aus wie einen
dunklen und schweren Turm aufragen. Es gab sogar ein Habichtnest auf
ihr. Dann folgten im Rang und Alter die Platanen, von denen eine ganze
Allee da war. Von ihren graugrünen, tigerartig gefleckten Stämmen bekam
der ganze Weg, auch wenn er voll Schatten war, etwas Helles und
Spielendes, weil die lichten Rindeflecken an stehengebliebenen
Sonnenschein erinnerten. Doch waren die vielen Ahorne und die paar
großen, kühlen Waldbuchen nicht weniger schön. Und auf allen nisteten
Singvögel jeder Art.
Früher war der regelmäßig angelegte Lustpark ein strenges Kunstwerk
gewesen. Als dann aber längere Zeiten kamen, in welchen den Menschen ihr
mühseliges Warten und Pflegen und Beschneiden verleidet war und niemand
mehr nach den mit Mühe hergepflanzten Anlagen fragte, waren die Bäume
auf sich selber angewiesen. Sie hatten Freundschaft untereinander
geschlossen, sie hatten ihre kunstmäßige, isolierte Rolle vergessen, sie
hatten sich in der Not ihrer alten Waldheimat erinnert, sich aneinander
gelehnt, mit den Armen umschlungen und gestützt. Sie hatten die
schnurgeraden Wege mit dickem Laub verborgen und mit ausgreifenden
Wurzeln an sich gezogen und in nährenden Waldboden verwandelt, ihre
Wipfel ineinander verschränkt und festgewachsen, und sie sahen in ihrem
Schutze ein eifrig aufstrebendes junges Baumvolk aufwachsen, das mit
glatteren Stämmen und lichteren Laubfarben die Leere füllte, den brachen
Boden eroberte und durch Schatten und Blätterfall die Erde schwarz,
weich und fett machte, so daß nun auch die Moose und Gräser und kleinen
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