Diesseits: Erzählungen - 09

Total number of words is 4514
Total number of unique words is 1467
43.2 of words are in the 2000 most common words
55.8 of words are in the 5000 most common words
60.6 of words are in the 8000 most common words
Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
schlendernd ein wenig im Hofe umzuschauen, seinen Sitz und schritt eine
Weile hin und her, bis er neben der Tine Halt machte.
»So, sind Sie auch da?« fragte er leise.
»Jawohl, warum auch nicht? Ich habe immer geglaubt, Sie kämen einmal.
Aber Sie müssen gewiß alleweil lernen.«
»O, so schlimm ist das nicht mit dem Lernen, das läßt sich noch zwingen.
Wenn ich nur gewußt hätte, daß Sie dabei sind, dann wär' ich sicher
immer gekommen.«
»Ach, gehen Sie doch mit so Komplimenten!«
»Es ist aber wahr, ganz gewiß. Wissen Sie, damals bei der Hochzeit ist
es so schön gewesen.«
»Ja, ganz nett.«
»Weil Sie dortgewesen sind, bloß deswegen.«
»Sagen Sie keine so Sachen, Sie machen ja nur Schund.«
»Nein, nein. Sie müssen mir nicht bös sein.«
»Warum auch bös?«
»Ich hatte schon Angst, ich sehe Sie am Ende gar nimmer.«
»So, und was dann?«
»Dann -- dann weiß ich gar nicht, was ich getan hätte. Vielleicht wär'
ich ins Wasser gesprungen.«
»O je, 's wär' schad um die Haut, sie hätt' können naß werden.«
»Ja, Ihnen wär's natürlich nur zum Lachen gewesen.«
»Das doch nicht. Aber Sie reden auch ein Zeug, daß man ganz sturm im
Kopf könnt' werden. Geben Sie obacht, sonst auf einmal glaub' ich's
Ihnen.«
»Das dürfen Sie auch tun, ich mein' es nicht anders.«
Hier wurde er von der herben Stimme der Gret übertönt. Sie erzählte
schrill und klagend eine lange Schreckensgeschichte von einer bösen
Herrschaft, die eine Magd erbärmlich behandelt und gespeist und dann,
nachdem sie krank geworden war, ohne Sang und Klang entlassen hatte. Und
kaum war sie mit dem Erzählen fertig, so fiel der Chor der andern laut
und heftig ein, bis die Babett zum Frieden mahnte. Im Eifer der Debatte
hatte Tines nächste Nachbarin dieser den Arm um die Hüfte gelegt und
Karl Bauer merkte, daß er einstweilen auf eine Fortführung des
Zwiegespräches verzichten müsse.
Er kam auch zu keiner neuen Annäherung, harrte aber wartend aus, bis
nach nahezu zwei Stunden die Margret das Zeichen zum Aufbruch gab. Es
war schon dämmerig und kühl geworden. Er sagte kurz adieu und lief eilig
davon.
Als eine Viertelstunde später die Tine sich in der Nähe ihres Hauses von
der letzten Begleiterin verabschiedet hatte und die kleine Strecke
vollends allein ging, trat plötzlich hinter einem schönen alten
Ahornbaume hervor der Lateinschüler ihr in den Weg und grüßte sie mit
schüchterner Höflichkeit. Sie erschrak ein wenig und sah ihn beinahe
zornig an.
»Was wollen Sie denn, Sie?«
Da bemerkte sie, daß der junge Kerl ganz ängstlich und bleich aussah,
und sie milderte Blick und Stimme beträchtlich.
»Also, was ist's denn mit Ihnen?«
Er stotterte sehr und brachte wenig Deutliches heraus. Dennoch verstand
sie, was er meine, und verstand auch, daß es ihm ernst sei, und kaum sah
sie den Jungen so hilflos in ihre Hände geliefert, so tat er ihr auch
schon erbärmlich leid, natürlich ohne daß sie darum weniger Stolz und
Freude über ihren Triumph empfunden hätte.
»Machen Sie keine dummen Sachen,« redete sie ihm gütig zu. Und als sie
hörte, daß er erstickte Tränen in der Stimme hatte, fügte sie hinzu:
»Wir sprechen ein andermal miteinander, jetzt muß ich heim. Sie dürfen
auch nicht so aufgeregt sein, nicht wahr? Also aufs Wiedersehen!«
Damit enteilte sie nickend, und er ging langsam, langsam davon, während
die Dämmerung zunahm und vollends in Finsternis und Nacht überging. Er
schritt durch Straßen und über Plätze, an Häusern, Mauern, Gärten und
sanftfließenden Brunnen vorbei, ins Feld vor die Stadt hinaus und wieder
in die Stadt hinein, unter den Rathausbogen hindurch und am oberen
Marktplatz hin, aber alles war verwandelt und ein unbekanntes Fabelland
geworden. Er hatte ein Mädchen lieb, und er hatte es ihr gesagt, und sie
war gütig gegen ihn gewesen und hatte >auf Wiedersehen< zu ihm gesagt!
Lange schritt er ziellos so umher, und da es ihm kühl wurde, hatte er
die Hände in die Hosentaschen gesteckt, und als er beim Einbiegen in
seine Gasse aufschaute und den Ort erkannte und aus seinem Traum
erwachte, fing er ungeachtet der späten Abendstunde an laut und
durchdringend zu pfeifen, worauf er sich ganz vortrefflich verstand. Es
tönte widerhallend durch die nächtige Straße und verklang erst im kühlen
Hausgang der Witwe Kusterer.
* * * * *
Tine machte sich darüber, was aus der Sache werden solle, viel Gedanken,
jedenfalls mehr als der Verliebte, der vor Erwartungsfieber und süßer
Erregung nicht zum Nachdenken kam. Das Mädchen fand, je länger sie sich
das Geschehene vorhielt und überlegte, desto weniger Tadelnswertes an
dem hübschen und flotten Knaben; auch war es ihr ein neues und
köstliches Gefühl, einen so feinen und gebildeten, dazu unverdorbenen
Jüngling in sie verliebt zu wissen. Dennoch dachte sie keinen Augenblick
an ein Liebesverhältnis, das ihr nur Schwierigkeiten oder gar Schaden
bringen und jedenfalls zu keinem soliden und ersprießlichen Ziele führen
konnte.
Hingegen widerstrebte es ihr auch wieder, dem armen Buben durch eine
harte Antwort oder durch gar keine wehe zu tun. Am liebsten hätte sie
ihn halb schwesterlich, halb mütterlich in Güte und Scherz
zurechtgewiesen. Denn obwohl sie keine zwei Jahre älter war als Karl
Bauer und obwohl sie seine Manieren hochschätzte und vor der
Gelehrsamkeit, die sie unnötigerweise bei ihm vermutete, Respekt hatte,
schien er ihr doch gar unerwachsen und bübchenmäßig. Mädchen sind
ohnehin in diesen Jahren häufig schon fertiger und ihres Wesens sicherer
als Knaben, und eine Dienstmagd vollends, die ihr eigen Brot verdient
und ihre feste Stellung und Pflicht im Leben hat, ist in Dingen der
Lebensklugheit ohne Zweifel jedem Schüler oder Studentlein weit
überlegen, zumal wenn dieser verliebt ist und sich willenlos ihrem
Gutdünken überläßt.
Die Gedanken und Entschlüsse der bedrängten Magd schwankten zwei Tage
lang hin und wider. So oft sie zu dem Schluß gekommen war, eine strenge
und deutliche Abweisung sei doch das richtige, so oft wehrte sich ihr
Herz, das in den Jungen zwar keineswegs verliebt, aber ihm doch in
mitleidig-gütigem Wohlwollen zugetan war.
Und schließlich machte sie es, wie es die meisten Leute in derartigen
Lagen machen; sie wog ihre Entschlüsse so lang gegeneinander ab, bis sie
gleichsam abgenutzt waren und zusammen wieder dasselbe zweifelnde
Schwanken darstellten wie in der ersten Stunde. Und als es Zeit zu
handeln war, tat und sagte sie kein Wort von dem zuvor Bedachten und
Beschlossenen, sondern überließ sich völlig dem Augenblick, gerade wie
Karl Bauer auch.
Diesem begegnete sie am dritten Abend, als sie ziemlich spät noch auf
einen Ausgang geschickt wurde, in der Nähe ihres Hauses. Er grüßte
bescheiden und sah ziemlich kleinlaut und kläglich aus, denn das Warten
hatte ihn doch mitgenommen. Nun standen die zwei jungen Leute
voreinander und wußten nicht recht, was sie einander zu sagen hätten.
Die Tine fürchtete, man möchte sie sehen, und trat schnell in eine
offenstehende, dunkle Toreinfahrt, wohin Karl ihr ängstlich folgte.
Nebenzu scharrten Rosse in einem Stall, und in irgendeinem benachbarten
Hof oder Garten probierte ein unerfahrener Dilettant seine
Anfängergriffe auf einer Blechflöte.
»Was der aber zusammenbläst!« sagte Tine leise und lachte gezwungen.
»Tine!«
»Ja, was denn?«
»Ach Tine -- --«
Der scheue Junge wußte nicht, was für ein Spruch seiner warte, aber es
wollte ihm scheinen, die Blonde zürne ihm nicht unversöhnlich.
»Du bist so lieb,« sagte er ganz leise und erschrak sofort darüber, daß
er sie ungefragt geduzt hätte.
Sie zögerte eine Weile mit der Antwort. Da griff er, dem der Kopf ganz
leer und wirbelig war, nach ihrer Hand, und er tat es so kindermäßig
schüchtern und hielt die Hand so ängstlich lose und bittend, daß es ihr
unmöglich wurde, ihm den verdienten Tadel zu erteilen. Vielmehr lächelte
sie beinahe gerührt und fuhr dem armen Liebhaber mit ihrer freien Linken
sachte übers Haar.
»Bist du mir auch nicht bös?« fragte er, selig bestürzt.
»Nein, du Bub, du kleiner,« lachte die Tine nun freundlich. »Aber fort
muß ich jetzt, man wartet daheim auf mich. Ich muß ja noch Wurst holen.«
»Darf ich nicht mit?«
»Nein, was denkst du auch! Geh voraus und heim, nicht daß uns jemand
beieinander sieht.«
»Also gut Nacht, Tine.«
»Ja, geh jetzt nur! Gut Nacht.«
Er hatte noch mehreres fragen und erbitten wollen, aber er dachte jetzt
nimmer daran und ging glücklich fort, mit leichten, ruhigen Schritten,
als sei die gepflasterte Stadtstraße ein weicher Rasenboden, und mit
blinden, einwärts gekehrten Augen, als komme er aus einem blendend
lichten Lande. Er hatte ja kaum mit ihr gesprochen, aber er hatte >du<
zu ihr gesagt und sie zu ihm, er hatte ihre Hand gehalten, und sie war
ihm mit der ihren übers Haar gefahren. Das schien ihm mehr als genug und
auch noch nach vielen Jahren und vielen Stürmen fühlte er, so oft er an
diesen Abend im Märzen dachte, ein lindes, warmes Glücklichsein und eine
dankbare Güte seine Seele wie ein Lichtschein erfüllen.
Die Tine freilich, als sie nachträglich das Begebnis überdachte, konnte
durchaus nimmer begreifen, wie das zugegangen war. Doch fühlte sie wohl,
daß Karl an diesem Abend ein großes Glück erlebt habe und ihr dafür mehr
als dankbar sei, auch vergaß sie seine kindliche Verschämtheit und
schüchterne Zärtlichkeit nicht und konnte schließlich in dem
Geschehenen, das ja doch nimmer zu bessern war, kein so großes Unheil
finden. Immerhin wußte sich das kluge und brave Mädchen von jetzt an für
den Schwärmer verantwortlich und nahm sich vor, ihn so sanft und sicher
wie möglich an dem angesponnenen Faden zum Rechten zu führen. Denn daß
eines Menschen erste Verliebtheit, sie möge noch so heilig und köstlich
sein, doch nur ein Behelf und ein Umweg sei, das hatte sie, es war noch
nicht so lange her, selber mit Schmerzen am eignen Leben erfahren. Nun
hoffte sie, dem Kleinen ohne allzu vieles unnötige Wehetun über die
Sache hinüber zu helfen.
Das nächste Wiedersehen geschah erst am Sonntag bei der Babett. Dort
begrüßte Tine den Gymnasiasten freundlich, nickte ihm von ihrem Platze
aus ein- oder zweimal lächelnd zu, zog ihn mehrmals mit ins Gespräch und
schien im übrigen nicht anders mit ihm zu stehen als früher. Für ihn
aber war jedes Lächeln von ihr ein unschätzbares Geschenk und jeder
Blick eine Flamme, die ihn mit Glanz und Glut umhüllte.
Einige Tage später aber kam Tine endlich dazu, deutlich mit dem Jungen
zu reden. Es war nachmittags nach der Schule, und Karl hatte wieder in
der Gegend um ihr Haus herum gelauert, was ihr nicht gefiel. Sie nahm
ihn durch den kleinen Garten in einen Holzspeicher hinter dem Hause mit,
wo es nach Sägspänen und trockenem Buchenholz roch. Dort nahm sie ihn
vor, untersagte ihm vor allem sein Verfolgen und Auflauern und machte
ihm klar, was sich für einen jungen Liebhaber von seiner Art gebühre.
»Du siehst mich jedesmal bei der Babett, und von dort kannst du mich ja
allemal begleiten, wenn du magst, aber nur bis dahin, wo die andern
mitgehen, nicht den ganzen Weg. Allein mit mir gehen darfst du nicht,
und wenn du vor den andern nicht Obacht gibst und dich zusammennimmst,
dann geht alles schlecht. Die Leute haben ihre Augen überall, und wo
sie's rauchen sehen, schreien sie gleich Feurio.«
»Ja, wenn ich doch aber dein Schatz bin,« erinnerte Karl etwas
weinerlich. Sie lachte.
»Mein Schatz! Was heißt jetzt das wieder! Sag das einmal der Babett oder
deinem Vater daheim, oder deinem Lehrer! Ich hab' dich ja ganz gern und
will nicht unrecht mit dir sein, aber eh' du mein Schatz sein könntest,
da müßtest du vorher dein eigner Herr sein und dein eignes Brot essen,
und bis dahin ist's doch noch recht lang. Einstweilen bist du einfach
ein verliebter Schulbub, und wenn ich's nicht gut mit dir meinte, würd'
ich gar nimmer mit dir drüber reden. Deswegen brauchst du aber nicht den
Kopf zu hängen, das bessert nichts.«
»Was soll ich dann tun? Hast du mich nicht gern?«
»O Kleiner! Davon ist doch nicht die Rede. Nur vernünftig sein sollst du
und nicht Sachen verlangen, die man in deinem Alter noch nicht haben
kann. Wir wollen gute Freunde sein und einmal abwarten, mit der Zeit
kommt schon alles, wie es soll.«
»Meinst du? Ja, du mußt's wissen. Aber du, etwas hab' ich doch sagen
wollen --«
»Und was?«
»Ja, sieh -- nämlich -- --«
»Red' doch!«
»-- ob du mir nicht auch einmal einen Kuß geben willst.«
Sie betrachtete sein rotgewordenes, unsicher fragendes Gesicht und
seinen knabenhaften, hübschen Mund, und einen Augenblick schien es ihr
nahezu erlaubt, ihm den Willen zu tun. Dann schalt sie sich aber
sogleich und schüttelte streng den blonden Kopf.
»Einen Kuß? Für was denn?«
»Nur so. Du mußt nicht bös sein.«
»Ich bin nicht bös. Aber du mußt auch nicht keck werden. Später einmal
reden wir wieder davon. Kaum kennst du mich und willst gleich küssen!
Mit so Sachen soll man kein Spiel treiben. Also sei jetzt brav, am
Sonntag seh' ich dich wieder, und dann könntest du auch einmal deine
Geige bringen, nicht?«
»Ja, gern.«
Sie ließ ihn gehen und sah ihm nach, wie er nachdenklich und ein wenig
unlustig davonschritt. Und sie fand, er sei doch ein ordentlicher Kerl,
dem sie nicht zu weh tun dürfe.
* * * * *
Wenn Tines Ermahnungen auch eine bittere Pille für Karl Bauer gewesen
waren, er folgte doch und befand sich schließlich gar nicht schlecht
dabei. Zwar hatte er vom Liebeswesen einigermaßen andre Vorstellungen
gehabt und war anfangs ziemlich enttäuscht, aber bald entdeckte er die
alte Wahrheit, daß Geben seliger als Nehmen ist und daß Lieben schöner
ist und seliger macht als Geliebtwerden. Daß er seine Liebe nicht
verbergen und sich ihrer nicht schämen mußte, sondern sie anerkannt,
wenn auch zunächst nicht belohnt sah, das gab ihm ein Gefühl der Lust
und Freiheit und hob ihn aus dem engen Kreise seiner bisherigen
unbedeutenden Existenz in die höhere Welt der großen Gefühle und Ideale.
Bei den Zusammenkünften der Mägde spielte er jetzt jedesmal ein paar
Stücklein auf der Geige vor.
»Das ist bloß für dich, Tine,« sagte er nachher, »weil ich dir sonst
nichts geben und zulieb tun kann.«
Zweimal gewährte sie ihm ein besonderes Stelldichein, einmal an einem
freien Nachmittag hinter dem Hause und einmal an einem Freitag Abend auf
einem einsamen Zimmerplatz in der Vorstadt. Beide Mal, ohne daß sie ihn
irgend zärtlicher behandelt oder ihm mehr als das Halten und Streicheln
ihrer Hand gegönnt hätte, beglückte ihn die Heimlichkeit der Verabredung
und des Zusammenseins und das Vertrauen, das sie ihm damit zeigte, und
er kehrte wie von großen Abenteuern und überschwenglichen Genüssen heim.
* * * * *
Der Frühling rückte näher und war plötzlich da, mit gelben Sternblümlein
auf zartgrünen Matten, mit dem tiefen Föhnblau ferner Waldgebirge, mit
feinen Schleiern jungen Laubes im Gezweige und wiederkehrenden
Zugvögeln. Die Hausfrauen stellten ihre Stockscherben mit Hyazinthen und
Geranien auf die grünbemalten Blumenbretter vor den Fenstern. Die Männer
verdauten mittags unterm Haustor in Hemdärmeln und konnten abends im
Freien Kegel schieben. Die jungen Leute kamen in Unruhe, wurden
schwärmerischer und verliebten sich.
An einem Sonntag, der mildblau und lächelnd über dem schon grünen
Flußtal aufgegangen war und nach Mittag schon ganz erstaunlich wärmte,
ging die Tine mit einer Freundin spazieren. Sie wollten eine Stunde weit
nach der Emanuelsburg laufen, einer Ruine im Wald. Als sie aber schon
gleich vor der Stadt an einem fröhlichen Wirtsgarten vorüberkamen, wo
eine Musik erschallte und auf einem runden Rasenplatz ein Schleifer
getanzt wurde, gingen sie zwar an der Versuchung vorüber, aber langsam
und zögernd, und als die Straße einen Bogen machte, und als sie bei
dieser Windung noch einmal das süß anschwellende Wogen der schon ferner
tönenden Musik vernahmen, da gingen sie noch langsamer und gingen
schließlich gar nicht mehr, sondern lehnten am Wiesengatter des
Straßenrandes und lauschten hinüber, und als sie nach einer Weile wieder
Kraft zum Gehen hatten, war doch die lustig sehnsüchtige Musik stärker
als sie und zog sie rückwärts.
»Die alte Emanuelsburg lauft uns nicht davon,« sagte die Freundin, und
damit trösteten sich beide und traten errötend und mit gesenkten Blicken
in den Garten, wo man durch ein Netzwerk von Zweigen und braunen,
harzigen Kastanienknospen den Himmel noch blauer lachen sah. Es war ein
herrlicher Nachmittag, und als Tine gegen Abend in die Stadt
zurückkehrte, tat sie es nicht allein, sondern wurde höflich von einem
kräftigen, hübschen Mann begleitet, um den ihre nebenher laufende
Freundin sie mit Recht nicht wenig beneidete.
Und diesmal war die hübsche Tine an den Rechten gekommen. Er war
Zimmermannsgesell und ein brauchbarer Mensch, der mit dem Meisterwerden
und einer etwaigen Heirat nicht mehr allzu lange zu warten brauchte. Er
sprach andeutungsweise und stockend von seiner Liebe und deutlich und
fließend von seinen Verhältnissen und Aussichten. Es zeigte sich, daß er
unbekannterweise die Tine schon einige Mal gesehen und begehrenswert
gefunden hatte und daß es ihm nicht nur um ein vorübergehendes
Liebesvergnügen zu tun war. Eine Woche lang sah sie ihn täglich und
gewann ihn täglich lieber, zugleich besprachen sie offen alles Nötige,
und dann waren sie einig und galten voreinander und vor ihren Bekannten
als Verlobte.
Auf die erste traumartige Erregung folgte bei Tine ein stilles, fast
feierliches Fröhlichsein, über welchem sie eine Weile alles vergaß, auch
den armen Schüler Karl Bauer, der in dieser ganzen Zeit vergeblich auf
sie wartete.
* * * * *
Als ihr der vernachlässigte Junge wieder ins Gedächtnis kam, tat er ihr
so leid, daß sie im ersten Augenblick daran dachte, ihm die Neuigkeit
noch eine Zeitlang vorzuenthalten. Dann wieder schien ihr dies doch
nicht gut und erlaubt zu sein, und je mehr sie es bedachte, desto
schwieriger kam die Sache ihr vor. Sie bangte davor, sogleich ganz offen
mit dem Ahnungslosen zu reden, und wußte doch, daß das der einzige Weg
zum Guten war; und jetzt sah sie erst ein, wie gefährlich, wenn nicht
unrecht ihr wohlgemeintes Spiel mit dem Knaben gewesen war. Jedenfalls
mußte sogleich etwas geschehen, ehe der Junge durch andre von ihrem
neuen Verhältnis erfuhr und dumme Streiche machte. Auch wollte sie
durchaus nicht, daß er schlecht von ihr denke. Sie fühlte, ohne es
deutlich zu wissen, daß sie dem Jüngling einen Vorgeschmack und eine
Ahnung der Liebe gegeben hatte und daß die Erkenntnis des Betrogenseins
ihn schädigen und ihm das Erlebte vergiften würde. Sie hatte nie
gedacht, daß diese harmlose Knabengeschichte ihr so zu schaffen machen
könnte.
Am Ende ging sie in ihrer Ratlosigkeit zur Babett, welche freilich in
Liebesangelegenheiten nicht die berufenste Richterin sein mochte. Aber
sie wußte, daß die Babett ihren Lateinschüler ehrlich lieb hatte und
sich um sein Ergehen sorgte, und so wollte sie lieber einen Tadel von
ihr ertragen als den jungen Verliebten unbehütet alleingelassen wissen.
Der Tadel blieb allerdings nicht aus. Die Babett, nachdem sie die ganze
Erzählung des Mädchens aufmerksam und schweigend angehört hatte,
stampfte zornig auf den Boden und fuhr die reumütige Bekennerin mit
rechtschaffener Entrüstung an.
»Mach keine schönen Worte!« rief sie ihr heftig zu. »Du hast ihn einfach
an der Nase herumgeführt und deinen gottlosen Spaß mit ihm gehabt, mit
dem Bauer, und nichts weiter.«
»Das Schimpfen hilft nicht viel, Babett. Weißt du, wenn mir's bloß ums
Amüsieren gewesen wär', dann wär' ich jetzt nicht zu dir gelaufen und
hätte dir's eingestanden. Es ist mir nicht so leicht gewesen.«
»So? Und jetzt, was stellst du dir vor? Wer soll jetzt die Suppe
ausfressen, he? Ich vielleicht? Und es bleibt ja doch alles an dem Bub
hangen, an dem armen.«
»Ja, der tut mir leid genug. Aber hör mir zu. Ich meine, ich rede jetzt
mit ihm und sag' ihm alles selber, ich will mich nicht schonen. Nur hab'
ich wollen, daß du davon weißt, damit du nachher kannst ein Aug' auf ihn
haben, falls es ihn zu arg plagt. -- Wenn du also willst --?«
»Kann ich denn anders? Kind, dummes, vielleicht lernst du was dabei. Die
Eitelkeit und das Herrgottspielenwollen betreffend, meine ich. Es könnte
nicht schaden.«
Diese Unterredung hatte das Ergebnis, daß die alte Magd noch am selben
Tag eine Zusammenkunft der beiden im Hofe veranstaltete, ohne daß Karl
ihre Mitwisserschaft erriet. Es ging gegen den Abend, und das Stückchen
Himmel über dem kleinen Hofraum glühte mit schwachem Goldfeuer. In der
Torecke aber war es dunkel, und niemand konnte die zwei jungen Leute
dort sehen.
»Ja, ich muß dir was sagen, Karl,« fing das Mädchen an. »Heut müssen wir
einander adieu sagen. Es hat halt alles einmal sein Ende.«
»Aber was denn -- -- warum --?«
»Weil ich jetzt einen Bräutigam hab' --«
»Einen -- -- --«
»Sei ruhig, gelt, und hör mich zuerst. Siehst, du hast mich ja gern
gehabt, und ich hab' dich nicht wollen so ohne Hüst und ohne Hott
fortschicken, wie man's auch oft macht. Ich hab' dir ja auch gleich
gesagt, weißt du, daß du dich deswegen nicht als meinen Schatz ansehen
darfst, nicht wahr?«
Karl schwieg.
»Nicht wahr?«
»Ja, also.«
»Und jetzt müssen wir ein Ende machen, und du mußt es auch nicht schwer
nehmen, es lauft auf der Gasse voll mit Mädchen, und ich bin nicht die
einzige und auch nicht die rechte für dich, wo du doch studierst und
später ein Herr wirst und vielleicht ein Doktor.«
»Nein du, Tine, sag das nicht!«
»Es ist halt doch so und nicht anders. Und das will ich dir auch noch
sagen, daß das niemals das Richtige ist, wenn man sich zum ersten Mal
verliebt. So jung weiß man ja noch gar nicht, was man will. Es wird nie
etwas draus, und später sieht man dann alles anders an und sieht ein,
daß es nicht das Rechte war.«
Karl wollte etwas antworten, er hatte viel dagegen zu sagen, aber vor
Leid und innerem Schluchzen brachte er kein Wort heraus. Doch kämpfte er
tapfer mit den Tränen und hielt sich männlich aufrecht.
»Hast du was sagen wollen?« fragte die Tine.
»O du, du weißt ja gar nicht -- --«
»Was, Karl?«
»Ach, nichts. O Tine, was soll ich denn anfangen?«
»Nichts anfangen, bloß ruhig bleiben. Das dauert nicht lang, und nachher
bist du froh, daß es so gekommen ist.«
»Du redest, ja, du redest --«
»Ich red' nur, was in der Ordnung ist, und du wirst sehen, daß ich ganz
recht hab', wenn du auch jetzt nicht dran glauben willst. Es tut mir ja
leid, du, es tut mir wirklich so leid.«
»Tut's dir? -- Tine, ich will ja nichts sagen, du sollst ja ganz recht
haben -- -- aber daß das alles so auf einmal aufhören soll, alles --«
Er kam nicht weiter, und sie legte ihm die Hand auf die zuckende
Schulter und wartete still, bis sein Weinen nachließ.
»Hör mich,« sagte sie dann entschlossen. »Du mußt mir jetzt versprechen,
daß du brav und gescheit sein willst.«
»Ich will nicht gescheit sein! Tot möcht' ich sein, lieber tot, als so
-- --«
»Du, Karl, tu nicht so wüst! Schau, du hast früher einmal einen Kuß von
mir haben wollen -- weißt noch?«
»Ich weiß.«
»Also. Jetzt, wenn du brav sein willst -- sieh, ich mag doch nicht, daß
du nachher übel von mir denkst; ich möcht' so gern im Guten von dir
Abschied nehmen. Wenn du brav sein willst, dann will ich dir den Kuß
heut geben. Willst du?«
Er nickte nur und sah sie aus verweinten Augen ratlos an. Und sie trat
dicht zu ihm hin und gab ihm den Kuß, und der war still und ohne Gier,
rein gegeben und genommen. Zugleich nahm sie seine Hand und drückte sie
leise, dann ging sie schnell durchs Tor in den Hausgang und davon.
Karl Bauer hörte ihre Schritte im Gang schallen und verklingen; er
hörte, wie sie das Haus verließ und über die Vortreppe auf die Straße
ging. Er hörte es, aber er dachte an andre Dinge.
Er dachte an eine winterliche Abendstunde, in der ihm auf der Gasse eine
junge blonde Magd eine Ohrfeige gegeben hatte, und dachte an einen
Vorfrühlingsabend, da im Schatten einer Hofeinfahrt ihm eine Mädchenhand
das Haar gestreichelt hatte, und die Welt war verzaubert und die Straßen
der Stadt waren fremde, selig schöne Räume gewesen. Melodien fielen ihm
ein, die er früher gegeigt hatte, und jener Hochzeitsabend in der
Vorstadt mit Bier und Kuchen. Bier und Kuchen, kam es ihm vor, war
eigentlich eine lächerliche Zusammenstellung, aber er konnte nicht
weiter daran denken, denn er hatte ja seinen Schatz verloren und war
betrogen und verlassen worden. Freilich, sie hatte ihm einen Kuß gegeben
-- einen Kuß . . . O Tine!
Müde setzte er sich auf eine von den vielen leeren Kisten, die im Hof
herumstanden. Das kleine Himmelsviereck über ihm wurde rot und wurde
silbern, dann erlosch es und blieb lange Zeit tot und dunkel, und nach
Stunden, da es mondhell wurde, saß Karl Bauer noch immer auf seiner
Kiste, und sein verkürzter Schatten lag schwarz und mißgestaltet vor ihm
auf dem unebenen Steinpflaster.
* * * * *
Es waren nur flüchtige und vereinzelte Blicke eines Zaungastes gewesen,
die der junge Bauer ins Land der Liebe getan hatte, aber sie waren
hinreichend gewesen, ihm das Leben ohne den Trost und Glanz der
Frauenliebe traurig und wertlos erscheinen zu lassen. So lebte er jetzt
leere, schwermütige Tage und verhielt sich gegen die Ereignisse und
Pflichten des alltäglichen Lebens teilnahmslos wie einer, der nicht mehr
dazu gehört. Sein Griechischlehrer verschwendete nutzlose Ermahnungen zu
Selbstzucht und fleißigerer Arbeit an den unaufmerksamen Träumer; auch
die guten Bissen der getreuen Babett schlugen ihm nicht an und ihr
wohlgemeinter Zuspruch glitt ohne Wirkung an ihm ab.
Es war eine sehr scharfe, außerordentliche Vermahnung vom Rektor und
eine schmähliche Arreststrafe nötig, um den Entgleisten wieder auf die
ebene Bahn der Arbeit und Vernunft zu zwingen. Er sah ein, daß es
töricht und ärgerlich wäre, gerade vor dem letzten Schuljahr noch sitzen
zu bleiben, und begann in die immer länger werdenden Frühsommerabende
hinein zu studieren, daß ihm der Kopf rauchte.
Das war der Anfang zur Genesung, obwohl Karl selber nicht daran glaubte.
Die vielen Stunden trostlos traurigen Brütens hatten ihn elend gemacht,
so daß jetzt die unerläßliche strenge Arbeit ihm wohltat, schon weil sie
seine Gedanken nicht um den ewig gleichen Jammer weiter kreisen ließ.
Freilich zuweilen geschah es trotzdem noch, daß abends im Bett oder auch
auf einsamen Spaziergängen die halbbetäubte Verzweiflung wieder
erwachte, daß er Tines Namen hundertmal aussprach und sich heiß und müde
weinte. Manchmal suchte er auch die Salzgasse auf, in der Tine gewohnt
hatte, und begriff nicht, warum er ihr kein einziges Mal mehr begegnete.
Das hatte jedoch seinen guten Grund. Das Mädchen war schon bald nach
ihrem letzten Gespräch mit Karl abgereist, um in der Heimat ihre
Aussteuer fertig zu machen. Er glaubte, sie sei noch da und weiche ihm
aus, und nach ihr fragen mochte er niemand, auch die Babett nicht. Nach
solchen Fehlgängen kam er, je nachdem, ingrimmig oder traurig heim,
stürmte wild auf der Geige oder starrte lang durchs kleine Fenster auf
die vielen Dächer hinaus.
Immerhin ging es vorwärts mit ihm, und daran hatte auch die Babett ihren
Teil. Wenn sie merkte, daß er einen übeln Tag hatte, dann kam sie nicht
selten am Abend heraufgestiegen und klopfte an seine Türe. Und dann saß
sie, obwohl sie ihn nicht wissen lassen wollte, daß sie den Grund seines
Leides kenne, lange bei ihm und brachte ihm Trost. Sie redete nicht von
der Tine und nichts von Liebessachen, aber sie erzählte ihm kleine
drollige Anekdoten, brachte ihm eine halbe Flasche Most oder Wein mit,
bat ihn um ein Lied auf der Geige oder um das Vorlesen einer Geschichte.
You have read 1 text from German literature.
Next - Diesseits: Erzählungen - 10
  • Parts
  • Diesseits: Erzählungen - 01
    Total number of words is 4617
    Total number of unique words is 1493
    39.4 of words are in the 2000 most common words
    55.2 of words are in the 5000 most common words
    60.8 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Diesseits: Erzählungen - 02
    Total number of words is 4488
    Total number of unique words is 1699
    36.9 of words are in the 2000 most common words
    49.8 of words are in the 5000 most common words
    54.8 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Diesseits: Erzählungen - 03
    Total number of words is 4509
    Total number of unique words is 1573
    41.7 of words are in the 2000 most common words
    55.3 of words are in the 5000 most common words
    60.4 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Diesseits: Erzählungen - 04
    Total number of words is 4610
    Total number of unique words is 1450
    43.5 of words are in the 2000 most common words
    56.4 of words are in the 5000 most common words
    62.1 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Diesseits: Erzählungen - 05
    Total number of words is 4434
    Total number of unique words is 1614
    41.1 of words are in the 2000 most common words
    53.1 of words are in the 5000 most common words
    58.5 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Diesseits: Erzählungen - 06
    Total number of words is 4422
    Total number of unique words is 1411
    42.1 of words are in the 2000 most common words
    55.3 of words are in the 5000 most common words
    61.2 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Diesseits: Erzählungen - 07
    Total number of words is 4385
    Total number of unique words is 1609
    39.5 of words are in the 2000 most common words
    51.4 of words are in the 5000 most common words
    57.0 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Diesseits: Erzählungen - 08
    Total number of words is 4427
    Total number of unique words is 1603
    39.2 of words are in the 2000 most common words
    52.8 of words are in the 5000 most common words
    59.1 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Diesseits: Erzählungen - 09
    Total number of words is 4514
    Total number of unique words is 1467
    43.2 of words are in the 2000 most common words
    55.8 of words are in the 5000 most common words
    60.6 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Diesseits: Erzählungen - 10
    Total number of words is 4346
    Total number of unique words is 1775
    36.0 of words are in the 2000 most common words
    49.5 of words are in the 5000 most common words
    55.1 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Diesseits: Erzählungen - 11
    Total number of words is 4427
    Total number of unique words is 1655
    36.0 of words are in the 2000 most common words
    49.7 of words are in the 5000 most common words
    55.8 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Diesseits: Erzählungen - 12
    Total number of words is 1556
    Total number of unique words is 636
    56.7 of words are in the 2000 most common words
    68.2 of words are in the 5000 most common words
    71.5 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.