Diesseits: Erzählungen - 02

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wartete noch eine Weile, dann ging ich hinaus, die Stiege hinunter und
wieder heim, wo ich sehr froh war, daß die Mutter mich nicht ausfragte.
Sie hatte wohl gesehen, daß ich verändert war und etwas erlebt hatte,
und sie strich mir nur übers Haar und nickte, ohne etwas zu sagen.
Trotzdem kann es wohl sein, daß ich an jenem Tage noch sehr ausgelassen,
wild und ungattig war, sei es, daß ich mit meinem kleinen Bruder
händelte oder daß ich die Magd am Herd ärgerte oder im nassen Feld
strolchte und besonders schmutzig heimkam. Etwas Derartiges ist
jedenfalls gewesen, denn ich weiß noch gut, daß am selben Abend meine
Mutter mich sehr zärtlich und ernst ansah -- mag sein, daß sie mich gern
ohne Worte an heute morgen erinnert hätte. Ich verstand sie auch wohl
und fühlte Reue, und als sie das merkte, tat sie etwas Besonderes. Sie
gab mir von ihrem Ständer am Fenster einen kleinen Tonscherben voll
Erde, darin steckte eine schwärzliche Knolle, und diese hatte schon ein
paar spitzige, hellgrüne, saftige junge Blättlein getrieben. Es war eine
Hyazinthe. Die gab sie mir und sagte dazu: »Paß auf, das geb ich dir
jetzt. Später wird's dann eine große rote Blume. Dort stell ich sie hin,
und du mußt darauf acht geben, man darf sie nicht anrühren und
herumtragen, und jeden Tag muß man sie zweimal gießen; wenn du es
vergißt, sag ich dir's schon. Wenn es aber eine schöne Blume werden
will, darfst du sie nehmen und dem Brosi hinbringen, daß er eine Freude
hat. Kannst du dran denken?«
Sie tat mich ins Bett, und ich dachte indessen mit Stolz an die Blume,
deren Wartung mir als ein ehrenvoll wichtiges Amt erschien, aber gleich
am nächsten Morgen vergaß ich das Begießen und die Mutter erinnerte mich
dran. »Und was ist denn mit dem Brosi seinem Blumenstock?« fragte sie,
und sie hat es in jenen Tagen mehr als das eine Mal sagen müssen.
Dennoch beschäftigte und beglückte mich damals nichts so stark wie mein
Blumenstock. Es standen noch genug andere, auch größere und schönere, im
Zimmer und im Garten, und Vater und Mutter hatten sie mir oft gezeigt.
Aber es war nun doch das erste Mal, daß ich mit dem Herzen dabei war,
ein solches kleines Wachstum mit anzuschauen, zu erwünschen und zu
pflegen und Sorge darum zu haben.
Ein paar Tage lang sah es mit dem Blümlein nicht erfreulich aus, es
schien an irgend einem Schaden zu leiden und nicht die rechten Kräfte
zum Wachsen zu finden. Als ich darüber zuerst betrübt und dann
ungeduldig wurde, sagte die Mutter einmal: »Siehst du, mit dem
Blumenstock ist's jetzt gerade so wie mit dem Brosi, der so krank ist.
Da muß man noch einmal so lieb und sorgsam sein wie sonst.«
Dieser Vergleich war mir verständlich und brachte mich bald auf einen
ganz neuen Gedanken, der mich nun völlig beherrschte. Ich fühlte jetzt
einen geheimen Zusammenhang zwischen der kleinen, mühsam strebenden
Pflanze und dem kranken Brosi, ja ich kam schließlich zu dem festen
Glauben, wenn die Hyazinthe gedeihe, müsse auch mein Kamerad wieder
gesund werden. Käme sie aber nicht davon, so würde er sterben, und ich
trüge dann vielleicht, wenn ich die Pflanze vernachlässigt hätte, mit
Schuld daran. Als dieser Gedankenkreis in mir fertig geworden war,
hütete ich den Blumentopf mit Angst und Eifersucht wie einen Schatz, in
welchem besondere, nur mir bekannte und anvertraute Zauberkräfte
verschlossen wären.
Drei oder vier Tage nach meinem ersten Besuch -- die Pflanze sah noch
ziemlich kümmerlich aus -- ging ich wieder ins Nachbarhaus hinüber.
Brosi mußte ganz still liegen, und da ich nichts zu sagen hatte, stand
ich nahe am Bett und sah das nach oben gerichtete Gesicht des Kranken
an, das zart und warm aus weißen Betttüchern schaute. Er machte hin und
wieder die Augen auf und wieder zu, sonst bewegte er sich nicht, und ein
klügerer und älterer Zuschauer hätte vielleicht etwas davon gefühlt, daß
des kleinen Brosi Seele schon unruhig war und sich auf die Heimkehr
besinnen wollte. Als gerade eine Angst vor der Stille des Stübleins über
mich kommen wollte, trat die Nachbarin herein und holte mich freundlich
und leisen Schrittes weg.
Das nächste Mal kam ich mit viel froherem Herzen, denn zu Hause trieb
mein Blumenstock mit neuer Lust und Kraft seine spitzigen freudigen
Blätter heraus. Diesmal war auch der Kranke sehr munter.
»Weißt du auch noch, wie der Jakob noch am Leben war?« fragte er mich.
Und wir erinnerten uns an den Raben und sprachen von ihm, ahmten die
drei Wörtlein nach, die er hatte sagen können, und redeten mit Begierde
und Sehnsucht von einem grau und roten Papagei, der sich vorzeiten
einmal hierher verirrt haben sollte. Ich kam ins Plaudern, und während
der Brosi bald wieder ermüdete, hatte ich sein Kranksein für den
Augenblick ganz vergessen. Ich erzählte die Geschichte von jenem
Papagei, die zu den Legenden unseres Hauses gehörte. Ihr Glanzpunkt war
der, daß ein alter Hofknecht den schönen Vogel auf dem Dach des
Schuppens sitzen sah, sogleich eine Leiter anlegte und ihn einfangen
wollte. Als er auf dem Dach erschien und sich dem Papagei vorsichtig
näherte, sagte dieser: »Guten Tag, mein Lieber!« Da zog der Knecht seine
Kappe herunter und sagte: »Bitt um Vergebung, jetzt hätt ich fast
gemeint, Ihr wäret ein Vogeltier.«
Als ich das erzählt hatte, dachte ich, der Brosi müsse nun notwendig
laut hinauslachen. Da er es nicht gleich tat, sah ich ihn ganz
verwundert an. Ich sah ihn fein und herzlich lächeln, und seine Backen
waren ein wenig röter als vorher, aber er sagte nichts und lachte nicht
laut.
Da kam es mir plötzlich vor, als sei er um viele Jahre älter als ich.
Meine Lustigkeit war im Augenblick erloschen, statt ihrer befiel mich
Verwirrung und Bangigkeit, denn ich empfand wohl, daß zwischen uns
beiden jetzt etwas Neues fremd und störend aufgewachsen sei.
Es surrte eine große Winterfliege durchs Zimmer und ich fragte, ob ich
sie fangen solle.
»Nein, laß sie doch!« sagte der Brosi.
Auch das kam mir vor wie von einem Erwachsenen gesprochen. Befangen ging
ich fort.
Auf dem Heimweg empfand ich zum ersten Mal in meinem Leben etwas von der
ahnungsvollen verschleierten Schönheit des Vorfrühlings, das ich erst um
Jahre später, ganz am Ende der Knabenzeiten, wieder gespürt habe.
Was er war und wie es kam, weiß ich nicht. Ich erinnere mich aber, daß
ein lauer Wind strich, daß feuchte dunkle Erdschollen am Rande der Äcker
aufragten und streifenweise blank erglänzten, und daß ein besonderer
Föhngeruch in der Luft war. Ich erinnerte mich auch dessen, daß ich eine
Melodie summen wollte und gleich wieder aufhörte, weil irgend etwas mich
bedrückte und still machte.
Dieser kurze Heimweg vom Nachbarhaus ist mir eine merkwürdig tiefe
Erinnerung. Ich weiß kaum etwas Einzelnes mehr davon; aber zuweilen,
wenn es mir gegönnt ist, mit geschlossenen Augen mich dahin
zurückzufinden, meine ich die Erde noch einmal mit Kindesaugen zu sehen
-- als Geschenk und Schöpfung Gottes, im leise glühenden Träumen
unberührter Schönheit, wie wir Alten sie sonst nur aus den Werken der
großen Künstler und Dichter kennen. Der Weg war vielleicht nicht ganz
zweihundert Schritt lang, aber es lebte und geschah auf ihm und über ihm
und an seinem Rande unendlich viel mehr als auf mancher ganzen Reise,
die ich später unternommen habe.
Es streckten kahle Obstbäume verschlungene und drohende Äste, und von
den feinen Zweigspitzen rotbraune und harzige Knospen in die Luft, über
sie hinweg ging Wind und schwärmende Wolkenflucht, unter ihnen quoll die
nackte Erde in der Frühlingsgärung. Es rann ein vollgeregneter Graben
über und sandte einen schmalen trüben Bach über die Straße, auf dem
schwammen alte Birnenblätter und braune Holzstückchen, und jedes von
ihnen war ein Schiff, jagte dahin und strandete, erlebte Lust und Pein
und wechselnde Schicksale, und ich erlebte sie mit.
Es hing unversehens vor meinen Augen ein dunkler Vogel in der Luft,
überschlug sich und flatterte taumelnd, stieß plötzlich einen langen
schallenden Triller aus und stob verglitzernd in die Höhen, und mein
Herz flog staunend mit.
Ein leerer Lastwagen mit einem ledigen Beipferd kam gefahren, knarrte
und rollte fort und fesselte noch bis zur nächsten Krümme meinen Blick,
mit seinen starken Rossen aus einer unbekannten Welt gekommen und in sie
verschwindend, flüchtige schöne Ahnungen aufregend und mit sich nehmend.
Das ist eine kleine Erinnerung, oder zwei und drei; aber wer will die
Erlebnisse, Erregungen und Freuden zählen, die ein Kind zwischen einem
Stundenschlag und dem andern an Steinen, Pflanzen, Vögeln, Lüften,
Farben und Schatten findet und sogleich wieder vergißt und doch mit
hinübernimmt in die Schicksale und Veränderungen der Jahre? Eine
besondere Färbung der Luft am Horizont, ein winziges Geräusch in Haus
oder Garten oder Wald, der Anblick eines Schmetterlings oder irgend ein
flüchtig herwehender Geruch rührt oft für Augenblicke ganze Wolken von
Erinnerungen an jene frühen Zeiten in mir auf. Sie sind nicht klar und
einzeln erkennbar, aber sie tragen alle denselben köstlichen Duft von
damals, da zwischen mir und jedem Stein und Vogel und Bach ein inniges
Leben und Verbundensein vorhanden war, dessen Reste ich eifersüchtig zu
bewahren bemüht bin.
Mein Blumenstock richtete sich indessen auf, reckte die Blätter höher
und erstarkte zusehends. Mit ihm wuchs meine Freude und mein Glaube an
die Genesung meines Kameraden. Es kam auch der Tag, an welchem zwischen
den feisten Blättern eine runde rötliche Blütenknospe sich zu dehnen und
aufzurichten begann, und der Tag, an dem die Knospe sich spaltete und
ein heimliches Gekräusel schönroter Blütenblätter mit weißlichen Rändern
sehen ließ. Den Tag aber, an dem ich den Topf mit Stolz und freudiger
Behutsamkeit ins Nachbarhaus hinübertrug und dem Brosi übergab, habe ich
völlig vergessen. Daß der Kranke aber seine leise Freude daran hatte und
ihn sich häufig zeigen ließ, weiß ich noch wohl.
Dann war einmal ein heller Sonnentag; aus dem dunklen Ackerboden stachen
schon feine grüne Spitzen, die Wolken hatten Goldränder, und in den
feuchten Straßen, Hofräumen und Vorplätzen spiegelte ein sanfter reiner
Himmel. Das Bettlein des Brosi war näher zum Fenster gestellt worden,
auf dessen Simsen die rote Hyazinthe in der Sonne prunkte, den Kranken
hatte man ein wenig aufgerichtet und mit Kissen gestützt. Er sprach
etwas mehr als sonst mit mir, über seinen geschorenen blonden Kopf lief
das warme Licht fröhlich und glänzend und schien rot durch seine Ohren.
Ich war sehr guter Dinge und sah wohl, daß es nun schnell vollends gut
mit ihm werden würde. Seine Mutter saß dabei, und als es ihr genug
schien, schenkte sie mir eine gelbe Winterbirne und schickte mich heim.
Noch auf der Stiege biß ich die Birne an, sie war weich und honigsüß,
und der Saft tropfte mir aufs Kinn und über die Hand. Den abgenagten
Butzen warf ich unterwegs in hohem Bogen feldüber.
Tags darauf regnete es was herunter mochte, ich mußte daheim bleiben und
durfte mit sauber gewaschenen Händen in der Bilderbibel schwelgen, wo
ich schon viele Lieblinge hatte, am liebsten aber waren mir doch der
Paradieslöwe, die Kamele des Elieser und das Mosesknäblein im Schilf.
Als es aber am zweiten Tag in einem Strich fortregnete, wurde ich doch
verdrießlich. Den halben Vormittag starrte ich durchs Fenster auf den
plätschernden Hof und Kastanienbaum, dann kamen der Reihe nach alle
meine Spiele dran, und als sie fertig waren und es gegen Abend ging,
bekam ich noch Streit mit meinem Bruder. Das alte Lied: wir reizten
einander, bis der Kleine mir ein arges Schimpfwort sagte, da schlug ich
ihn, und er floh heulend durch Stube, Öhrn, Küche, Stiege und Kammer bis
zur Mutter, der er sich in den Schoß warf und die mich seufzend
wegschickte. Bis der Vater heimkam, sich alles erzählen ließ, mich
abstrafte und mit den nötigen Ermahnungen ins Bett steckte, wo ich mir
namenlos unglücklich vorkam, aber bald unter noch rinnenden Tränen
einschlief.
Als ich wieder, vermutlich am folgenden Morgen, in des Brosi
Krankenstube stand, hatte seine Mutter beständig den Finger am Mund und
sah mich warnend an, der Brosi aber lag mit geschlossenen Augen leise
stöhnend da. Ich schaute bang in sein Gesicht, es war bleich und vom
Schmerz verzogen. Und als seine Mutter meine Hand nahm und sie auf seine
legte, machte er die Augen auf und sah mich eine kleine Weile still an.
Seine Augen waren groß und verändert, und wie er mich ansah, war es ein
fremder wunderlicher Blick wie aus einer weiten Ferne her, als kenne er
mich gar nicht und sei über mich verwundert, habe aber zugleich andere
und viel wichtigere Gedanken. Auf den Zehen schlich ich nach kurzer
Zeit, da die Nachbarin mahnte, wieder hinaus.
Am Nachmittag aber, während ihm auf seine Bitte die Mutter eine schöne
Geschichte erzählte, sank er in einen müden Schlummer, der bis an den
Abend dauerte und während dessen sein schwacher Herzschlag langsam
einträumte und erlosch.
Als ich ins Bett ging, wußte es meine Mutter schon. Doch sagte sie mir's
erst am Morgen, nach der Milch. Darauf ging ich den ganzen Tag
traumwandelnd umher und stellte mir vor, daß der Brosi zu den Engeln
gekommen und selber einer geworden sei. Daß sein kleiner magerer Leib
mit der Narbe auf der Schulter noch drüben im Hause lag, wußte ich
nicht, auch vom Begräbnis sah und hörte ich nichts.
Meine Gedanken hatten viel Arbeit damit und es verging wohl eine Zeit,
bis der Gestorbene mir fern und unsichtbar wurde. Dann aber kam früh und
plötzlich der ganze Frühling, über die Berge flog es gelb und grün, im
Garten roch es nach jungem Wuchs, der Kastanienbaum tastete mit weich
gerollten Blättern aus den aufgesprungenen Knospenhüllen, und an allen
Gräben lachten auf fetten Stielen die goldgelben glänzenden
Butterblumen.


Die Marmorsäge

Es war so ein Prachtsommer, in dem man das schöne Wetter nicht nach
Tagen, sondern nach Wochen rechnete, und es war noch Juni und man hatte
gerade das Heu eingebracht, so gesund und trocken wie schon lange nicht
mehr.
Für manche Leute gibt es nichts Schöneres als einen solchen Sommer, wo
noch im feuchtesten Ried das Schilf verbrennt und einem die Hitze bis in
die Knochen geht. Diese Leute, soweit sie nicht etwa in Indien geboren
sind, haben kein sehr zufriedenes und jedenfalls kein gleichmäßiges
Leben, denn die echten Sommer gibt es nicht alle Jahre. Dafür saugen
sie, sobald ihre Zeit gekommen ist, so viel Wärme und Behagen ein und
werden ihres meist ohnehin nicht sehr betriebsamen Daseins so
schlaraffisch froh, wie es andern Leuten nie zuteil wird. Zu dieser
harmlosen Menschenklasse gehöre auch ich; darum war mir in jenem
Sommersanfang auch so mächtig wohl, freilich mit starken
Unterbrechungen, von denen ich nachher das Nötigste erzählen werde.
Es war vielleicht der üppigste Juni, den ich je erlebt habe, und es wäre
bald Zeit, daß wieder so einer käme. Der kleine Blumengarten vor meines
Vetters Haus an der Dorfstraße duftete und blühte ganz unbändig; die
Georginen, die den schadhaften Zaun versteckten, standen dick und hoch
und hatten feiste runde Knospen angesetzt, aus deren Ritzen gelb und rot
und lila die jungen Blütenblätter strebten. Der Goldlack brannte so
überschwenglich honigbraun und duftete so ausgelassen und sehnlich, als
wüßte er wohl, daß seine Zeit schon nahe war, da er verblühen und den
dicht wuchernden Reseden Platz machen mußte. Still und brütend standen
die steifen Balsaminen auf dicken, gläsernen Stengeln, schlank und
träumerisch die Schwertlilien, fröhlich hellrot die verwildernden
Rosenbüsche. Man sah kaum eine Handbreit Erde mehr, als sei der ganze
Garten nur ein großer, bunter und fröhlicher Strauß, der aus einer zu
schmalen Vase hervorquoll, und an dessen Rändern die Kapuziner in den
Rosen fast erstickten und in dessen Mitte der prahlerisch emporflammende
Türkenbund mit seinen großen geilen Blüten sich frech und gewalttätig
breit machte.
Mir gefiel das ungemein, aber mein Vetter und die Bauersleute sahen es
kaum. Denen fängt der Garten erst an, ein wenig Freude zu machen, wenn
es dann herbstelt und in den Beeten nur noch letzte Spätrosen,
Strohblumen und Astern übrig sind. Jetzt waren sie alle tagtäglich von
früh bis spät im Feld und fielen am Abend müde und schwer wie
umgeworfene Bleisoldaten in die Betten. Und doch wird in jedem Herbst
und in jedem Frühjahr der Garten wieder treulich besorgt und
hergerichtet, der nichts einbringt und den sie in seiner schönsten Zeit
kaum ansehen. Ich fragte einmal einen Hofbauern, warum und für wen er
sich eigentlich immer wieder diese Mühe mache.
»Für dich,« sagte er ernsthaft, »und für derlei Faulenzer und arme
Schlucker, damit sie auch an etwas ihre Freude haben können. Weißt's
jetzt?«
Seit zwei Wochen stand ein heißer, blauer Himmel über dem Land, am
Morgen rein und lachend, am Nachmittag stets von niederen, langsam
wachsenden, gedrängten Wolkenballen umlagert. Nachts gingen nah und fern
Gewitter nieder, aber jeden Morgen, wenn man -- noch den Donner im Ohr
-- erwachte, glänzte die Höhe blau und sonnig herab und war schon wieder
ganz von Licht und Hitze durchtränkt. Dann begann ich froh und ohne Hast
meine Art von Sommerleben: kurze Gänge auf glühenden und durstig
klaffenden Feldwegen durch warm atmende, hohe, gilbende Ährenfelder, aus
denen Mohn und Kornblumen, Wicken, Kornraden und Winden lachten, sodann
lange, stundenlange Rasten in hohem Gras an Waldsäumen, über mir
Käfergoldgeflimmer, Bienengesang, windstill ruhendes Gezweige im tiefen
Himmel; gegen Abend alsdann ein wohlig träger Heimweg durch Sonnenstaub
und rötliches Ackergold, durch eine Luft voll Reife und Müdigkeit und
sehnsüchtigem Kuhgebrüll, und am Ende lange, laue Stunden bis
Mitternacht, versessen unter Ahorn und Linde allein oder mit irgend
einem Bekannten bei gelbem Wein, ein zufriedenes, lässiges Plaudern in
die warme Nacht hinein, bis fern irgendwo das Donnern begann und unter
erschrocken aufrauschenden Windschauern erste, langsam und wollüstig aus
den Lüften sinkende Tropfen schwer und weich und kaum hörbar in den
dicken Staub fielen.
»Nein, so was Faules wie du!« meinte mein lieber Vetter mit ratlosem
Kopfschütteln, »daß dir nur keine Glieder abfallen!«
»Sie hängen noch gut,« beruhigte ich. Und ich freute mich daran, wie
müde und schweißig und steifgeschafft er war. Ich wußte mich in meinem
guten Recht; ein Examen und eine lange Reihe von sauren Monaten lagen
hinter mir, in denen ich meine Bequemlichkeit täglich schwer genug
gekreuzigt und geopfert hatte. Jetzt war ich obenan -- was kost't die
Welt?
Vetter Kilian war auch gar nicht so, daß er mir meine Lust nicht gegönnt
hätte. Vor meiner Gelehrtheit hatte er tiefen Respekt, sie umgab mich
für sein Auge mit einem geheiligten Faltenwurf, und ich warf natürlich
die Falten so, daß die mancherlei Löcher nicht gerade obenhin kamen.
Vielmehr fand ich seine Ehrfurcht anfangs zwar komisch, dann aber
rührend, und in Bälde schien sie mir sogar natürlich, wohlverdient und
ganz am Platze zu sein.
Es war mir so wohl wie noch nie. Still und langsam schlenderte ich in
Feld und Wiesenland, durch Korn und Heu und hohen Schierling, lag
regungslos und atmend wie eine Schlange in der schönen Wärme und genoß
die brütend stillen Stunden, in denen ich meine Haut langsam braun
werden sah und jeden in der Nähe tätigen Feldarbeiter mit herzlicher
Schadenfreude betrachtete.
Und dann diese Sommertöne! Diese Töne, bei denen einem närrisch wohl und
traurig wird und die ich so lieb habe: das unendliche, bis über
Mitternacht anhaltende Zikadenläuten, an das man sich völlig verlieren
kann wie an den Anblick des Meeres -- das satte Rauschen der wogenden
Ähren -- das beständig auf der Lauer liegende entfernte leise Donnern --
abends das Mückengeschwärme und das fernhin rufende, ergreifende
Sensendengeln -- nachts der schwellende, warme Wind und das
leidenschaftliche Stürzen plötzlicher Regengüsse.
Und wie in diesen kurzen, stolzen Wochen alles inbrünstiger blüht und
atmet, tiefer lebt und duftet, sehnlicher und inniger lodert! Wie der
überreiche Lindenduft in weichen Schwaden ganze Tale füllt, und wie
neben den müden, reifenden Kornähren die farbigen Ackerblumen gierig
leben und sich brüsten, wie sie verdoppelt glühen und fiebern in der
Hast der Augenblicke, bis ihnen viel zu früh die Sichel rauscht!
Diese Fülle und Schönheit hätte wohl genügt, um mich froh und übermütig
zu machen, und doch hatte ich das gar nimmer nötig. Ich war
vierundzwanzig Jahre alt, fand die Welt und mich selber sehr
wohlbeschaffen und betrieb das Leben noch als eine ergötzliche
Liebhaberkunst, vorwiegend nach ästhetischen Gesichtspunkten. Nur das
Verliebtsein kam und verlief ganz ohne meine Wahl nach den
althergebrachten Regeln. Doch hätte mir das niemand sagen dürfen! Ich
hatte mich nach den nötigen Zweifeln und Schwankungen einer das Leben
bejahenden Philosophie ergeben und mir nach mehrfachen schweren
Erfahrungen, wie mir schien, eine ruhige und sachliche Betrachtung der
Dinge erworben. Außerdem hatte ich mein Examen bestanden, auf den Herbst
eine ungewöhnlich und unverdient gute Anstellung in der Stadt in
Aussicht, ein nettes Taschengeld im Sack und zwei Monate Ferien vor mir
liegen.
Es gibt wahrscheinlich in jedem Leben solche Zeiten: weit vor sich sieht
man glatte Bahn, kein Hindernis, keine Wolke am Himmel, keine Pfütze im
Weg. Da wiegt man sich gar stattlich im Wipfel und glaubt mehr und mehr
zu erkennen, daß es eben doch kein Glück und keinen Zufall gibt, sondern
daß man das alles und noch eine halbe Zukunft ehrlich verdient und
erworben habe, einfach weil man der Kerl dazu war. Und man tut wohl
daran, sich dieser Erkenntnis zu freuen, denn auf ihr beruht das Glück
der Märchenprinzen ebenso wie das Glück der Spatzen auf dem Mist, und es
dauert ja nie zu lange.
Von den zwei schönen Ferienmonaten waren mir erst ein paar Tage durch
die Finger geglitten. Bequem und elastisch wie ein heiterer Weiser
wandelte ich in den Tälern hin und her, eine Zigarre im Mund, eine
Ackerschnalle am Hut, ein Pfund Kirschen und ein gutes Büchlein in der
Tasche. Ich tauschte kluge, ernste Worte mit den Gutsbesitzern, sprach
da und dort den Leuten im Felde freundlich aufmunternd zu, ließ mich zu
allen großen und kleinen Festlichkeiten, Zusammenkünften und Schmäusen,
Zweckessen und Backtagen, Taufen und Bockbierabenden einladen, tat
gelegentlich am Spätnachmittag einen Trunk mit dem Pfarrer, ging mit den
Fabrikherren und Wasserpächtern zum Forellenangeln, bewegte mich maßvoll
fröhlich und schnalzte innerlich mit der Zunge, wenn irgend so ein
feister, erfahrener Mann mich ganz wie seinesgleichen behandelte und
keine Anspielungen auf meine große Jugend machte. Denn wirklich, ich war
nur äußerlich so lächerlich jung. Seit einiger Zeit hatte ich entdeckt,
daß ich nun über die Spielereien hinausgekommen und ein Mann geworden
sei; mit stiller Wonne ward ich stündlich meiner Reife froh und brauchte
gern den Ausdruck, das Leben sei ein Roß, ein flottes, kräftiges Roß,
und wie ein Reiter müsse man es behandeln, kühn und auch vorsichtig.
Manche Wahrheiten, die mir vor einem Jahr noch altmodisch, pedantisch
und greisenhaft geklungen hatten, fand ich neuerdings erstaunlich wahr
und tief. Ich fing sogar schon an, Studenten und solches Volk als >junge
Leute< zu empfinden und mit warmem Interesse und Wohlwollen zu
betrachten. Alles in allem war ich mein Lebtag noch nie so glücklich
gewesen. Das Leben war ein Roß, und tüchtige Rosse reiten war ganz mein
Fall.
Und da lag die Erde in ihrer Sommerschönheit um mich her, die Kornfelder
fingen an gelb zu werden, die Luft war noch voll Heugeruch, und das Laub
hatte noch lichte, heftige Farben. Die Kinder trugen Brot und Most ins
Feld, die Bauern waren eilig und fröhlich, und abends liefen die jungen
Mädchen in Reihen über die Gasse, ohne Grund plötzlich hinauslachend und
ohne Vereinbarung plötzlich ihre weichmütigen Volkslieder anstimmend.
Vom Gipfel meiner jungen Mannesreife herab sah ich freundlich zu, gönnte
den Kindern und den Bauern und den Mädchen ihre Lust von Herzen und
glaubte das alles wohl zu verstehen. Ich glaubte sogar die Volkslieder
zu verstehen. Gar nicht von oben herunter -- ein >Herr< war ich nicht
und wollte ich nicht sein. Aber das ganze Dasein so klar und klug zu
überschauen, schien mir ein Hauptvergnügen. Es war schön, über mein
Leben hinwegzublicken, das bisher so ziellos ausgesehen hatte und so
reichlich mit Dummheiten durchsetzt war, und das doch nun so simpel
dalag -- jetzt, wo ich auf der Höhe stand und den krummen Herweg wie den
geraden Weiterweg so deutlich übersehen konnte.
Um mein Glück und meine Weisheit zu krönen, beschloß ich, künftighin
meine Erfahrungen und Künste gebotenen Falles auch auf Liebessachen
anzuwenden, um mir ein überlegtes, solides Glück zu erbauen. Lieber
Gott, wie hatte ich bisher drauf los geliebt, ohne Direktion und
meistens unglücklich! Auch unter dieses Jugendkapitel gehörte nun ein
fester, sauber gezogener Strich.
* * * * *
In der kühlen Waldschlucht des Sattelbachs, der alle paar hundert
Schritt eine Mühle treiben muß, lag stattlich und sauber ein
Marmorsägewerk: Schuppen, Sägeraum, Stellfalle, Hof, Wohnhaus und
Gärtchen, alles einfach, solid und erfreulich aussehend, weder
verwittert noch allzu neu. Da wurden Marmorblöcke langsam und tadellos
in Platten und Scheiben zersägt, gewaschen und geschliffen, ein stiller
und reinlicher Betrieb, an dem jeder Zuschauer seine Lust haben mußte.
Fremdartig, aber hübsch und anziehend war es, mitten in dem engen und
gewundenen Tale zwischen Tannen und Buchen und schmalen Wiesenbändern
den Sägehof daliegen zu sehen, angefüllt mit großen Marmorblöcken,
weißen, bläulichgrauen und buntgeäderten, mit fertigen Platten von jeder
Größe, mit Marmorabfällen und feinem glänzendem Marmorstaub. Als ich das
erste Mal diesen Hof nach einem Neugierbesuch verließ, nahm ich ein
kleines, einseitig poliertes Stückchen weißen Marmors in der Tasche mit;
das besaß ich jahrelang und hatte es als Briefbeschwerer auf meinem
Schreibtisch liegen. Ich hätte es heute noch, aber im vorigen Frühling
kam eine Nacht, in der das Katzengejammer auf dem Nachbarsdache mich
nicht schlafen ließ, und da flog nebst andern entbehrlichen Stücken auch
jenes kleine Andenken an eine vergangene Zeit den Katzen nach in die
Dächer.
Der Besitzer dieser Marmorschleiferei hieß Herr Lampart und schien mir
von den tüchtigen Originalen jener ergiebigen Gegend eins der
eigentümlichsten zu sein. Er war früh verwitwet und hatte teils durch
sein ungeselliges Leben, teils durch sein eigenartiges Gewerbe, das mit
der Umgebung und mit dem Leben der Leute ringsum ohne Berührung blieb,
einen besonderen Anstrich bekommen. Er galt für sehr wohlhabend, doch
wußte das keiner gewiß, denn es gab weit herum niemand, der irgend ein
ähnliches Geschäft und einen Einblick in dessen Gang und Ertrag gehabt
hätte. Worin seine Besonderheit bestand, hatte ich noch nicht ergründet.
Sie war aber da und nötigte einen, mit Herrn Lampart anders als mit
andern Leuten umzugehen. Wer zu ihm kam, war willkommen und fand einen
freundlichen Empfang, aber daß der Marmorsäger jemand wiederbesuchte,
ist nie vorgekommen; schon das gab seiner ohnehin nicht gewöhnlichen
Person etwas Abgeschlossenes und fast Feudales. Erschien er einmal -- es
geschah selten -- bei einer öffentlichen Feier im Dorf oder zu einer
Jagd oder in irgend einer Kommission, so behandelte man ihn sehr
höflich, tastete aber verlegen nach der rechten Begrüßung, denn er kam
so ruhig daher und blickte jedem so gleichmütig ernst ins Gesicht wie
ein Einsiedler, der aus dem Wald hervorgekommen ist und bald wieder
hineingehen wird.
Man fragte ihn, wie die Geschäfte gingen. »Danke, es tut sich,« sagte
er, aber er tat keine Gegenfrage. Man erkundigte sich, ob die letzte
Überschwemmung oder der letzte Wassermangel ihn geschädigt habe. »Danke,
nicht besonders,« sagte er, aber er fuhr nicht fort: »Und bei Ihnen?«
Nach dem Äußeren zu urteilen, war er ein Mann, der viele Sorgen gehabt
hat und vielleicht noch hat, der aber gewohnt ist, sie mit niemand zu
teilen.
In jenem Sommer war es mir zu einer Gewohnheit geworden, sehr oft beim
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