Diesseits: Erzählungen - 07

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»Willst du dich denen nicht anschließen, Paul?« ermunterte die Tante.
»Danke, nein. Ich muß eigentlich üben.«
Er ging in einem Wirrwarr von quellenden Gefühlen ins Klavierzimmer.
Aber kaum hatte er zu spielen begonnen, er wußte selbst nicht was, so
kam sein Vater herein.
»Junge, könntest du dich nicht um einige Zimmer weiter verfügen? Brav,
daß du üben wolltest, aber alles hat seine Zeit, und wir älteren
Semester möchten bei dieser Schwüle doch gern ein wenig zu schlafen
versuchen. Auf Wiedersehen, Bub!«
Der Knabe ging hinaus und durchs Eßzimmer, über den Gang und zum Tor.
Drüben sah er gerade die andern den Pavillon betreten. Als er hinter
sich den leisen Schritt der Tante hörte, trat er rasch ins Freie und
eilte mit unbedecktem Kopf, die Hände in den Taschen, durch den Regen
davon. Der Donner nahm stetig zu und erste scheue Blitze rissen zuckend
durch das schwärzliche Grau.
Paul ging um das Haus herum und gegen den Weiher hin. Er fühlte mit
trotzigem Leid den Regen durch seine Kleider dringen. Die noch nicht
erfrischte, schwebende Luft erhitzte ihn, so daß er beide Hände und die
halbentblößten Arme in die schwerfallenden Tropfen hielt. Nun saßen die
andern vergnügt im Pavillon beisammen, lachten und schwatzten, und an
ihn dachte niemand. Es zog ihn hinüber, doch überwog sein Trotz; hatte
er einmal nicht mitkommen wollen, so wollte er ihnen auch nicht
hinterdrein nachlaufen. Und Thusnelde hatte ihn ja überhaupt nicht
aufgefordert. Sie hatte Berta und Herrn Homburger mitkommen heißen, und
ihn nicht. Warum ihn nicht?
Ganz durchnäßt kam er, ohne auf den Weg zu achten, ans Gärtnerhäuschen.
Die Blitze jagten jetzt fast ohne Pause herab oder quer durch den
Himmel, in phantastisch kühnen Linien, und der Regen rauschte lauter.
Unter der Holztreppe des Gärtnerschuppens klirrte es auf und mit
verhaltenem Grollen kam der große Hofhund heraus. Als er Paul erkannte,
drängte er sich fröhlich und schmeichelnd an ihn. Und Paul, in plötzlich
überwallender Zärtlichkeit, legte ihm den Arm um den Hals, zog ihn in
den dämmernden Treppenwinkel zurück und blieb dort bei ihm kauern und
sprach und koste mit ihm, er wußte nicht wie lang.
Im Pavillon hatte Herr Homburger den eisernen Gartentisch an die
gemauerte Rückwand geschoben, die mit einer italienischen
Küstenlandschaft bemalt war. Die heiteren Farben, Blau, Weiß und Rosa,
paßten schlecht in das Regengrau und schienen trotz der Schwüle zu
frieren.
»Sie haben schlechtes Wetter für Erlenhof,« sagte Herr Homburger.
»Warum? Ich finde das Gewitter prächtig.«
»Und Sie auch, Fräulein Berta?«
»O, ich sehe es ganz gerne.«
Es machte ihn wütend, daß die Kleine mitgekommen war. Gerade jetzt, wo
er anfing sich mit der schönen Thusnelde besser zu verstehen.
»Und morgen werden Sie wirklich schon wieder reisen?«
»Warum sagen Sie das so tragisch?«
»Es muß mir doch leid tun.«
»Wahrhaftig?«
»Aber gnädiges Fräulein --«
Der Regen prasselte auf dem dünnen Dach und quoll in leidenschaftlichen
Stößen aus den Mündungen der Traufen.
»Wissen Sie, Herr Kandidat, Sie haben da einen lieben Jungen zum
Schüler. Es muß ein Vergnügen sein, so einen zu unterrichten.«
»Ist das Ihr Ernst?«
»Aber gewiß. Er ist doch ein prächtiger Junge. -- Nicht, Berta?«
»O, ich weiß nicht, ich sah ihn ja kaum.«
»Gefällt er dir denn nicht?«
»Ja, das schon. -- O ja.«
»Was stellt das Wandbild da eigentlich vor, Herr Kandidat? Es scheint
eine Rivieravedute?«
Paul war nach zwei Stunden ganz durchnäßt und todmüde heimgekommen,
hatte ein kaltes Bad genommen und sich umgekleidet. Dann wartete er, bis
die drei ins Haus zurückkehrten, und als sie kamen und als Thusneldes
Stimme im Gang laut wurde, schrak er zusammen und bekam Herzklopfen.
Dennoch tat er gleich darauf etwas, wozu er sich selber noch einen
Augenblick zuvor den Mut nicht zugetraut hätte.
Als das Fräulein allein die Treppe heraufstieg, lauerte er ihr auf und
überraschte sie in der oberen Flur. Er trat auf sie zu und streckte ihr
einen kleinen Rosenstrauß entgegen. Es waren wilde Heckenröschen, die er
im Regen draußen abgeschnitten hatte.
»Ist das für mich?« fragte Thusnelde.
»Ja, für Sie.«
»Womit hab' ich denn das verdient? Ich fürchtete schon, Sie könnten mich
gar nicht leiden.«
»O, Sie lachen mich ja nur aus.«
»Gewiß nicht, lieber Paul. Und ich danke schön für die Blumen. Wilde
Rosen, nicht?«
»Hagrosen.«
»Ich will eine davon anstecken, nachher.«
Damit ging sie weiter nach ihrem Zimmer.
* * * * *
Am Abend blieb man diesmal in der Halle sitzen. Es hatte schön abgekühlt
und draußen fielen noch die Tropfen von den blank gespülten Zweigen. Man
hatte im Sinn gehabt zu musizieren, aber der Professor wollte lieber die
paar Stunden noch mit Abderegg verplaudern. So saßen nun alle bequem
plaudernd in dem großen Raum, die Herren rauchten und die jungen Leute
hatten Limonadebecher vor sich stehen.
Die Tante sah mit Berta ein Album an und erzählte ihr alte Geschichten.
Thusnelde war guter Laune und lachte viel. Den Hauslehrer hatte das
lange erfolglose Reden im Pavillon stark mitgenommen, er war wieder
nervös und zuckte leidend mit den Gesichtsmuskeln. Daß sie jetzt so
lächerlich mit dem Büblein Paul kokettierte, fand er geschmacklos, und
er suchte wählerisch nach einer Form, ihr das zu sagen.
Paul war der Lebhafteste von allen. Daß Thusnelde seine Rosen im Gürtel
trug und daß sie lieber Paul zu ihm gesagt hatte, war ihm wie ein
starker Wein zu Kopf gestiegen. Er machte Witze, erzählte Geschichtchen,
hatte glühende Backen und ließ den Blick nicht von seiner Dame, die sich
seine Huldigung so graziös gefallen ließ. Dabei rief es im Grund seiner
Seele ohne Unterlaß: »Morgen geht sie fort! morgen geht sie fort!« und
je lauter und schmerzlicher es rief, desto sehnlicher klammerte er sich
an den schönen Augenblick und desto lustiger redete er darauf los.
Herr Abderegg, der einen Augenblick herüberhorchte, rief lachend: »Paul,
du fängst früh an!«
Er ließ sich nicht stören. Für Augenblicke faßte ihn ein drängendes
Verlangen, hinauszugehen, den Kopf an den Türpfosten zu lehnen und zu
schluchzen. Aber nein, nein!
Währenddessen hatte Berta mit der Tante >Du< gemacht und gab sich
dankbar unter ihren Schutz. Es lag wie eine Last auf ihr, daß Paul von
ihr allein nichts wissen wollte, daß er den ganzen Tag kaum ein Wort an
sie gerichtet hatte, und müde und unglücklich überließ sie sich der
gütigen Zärtlichkeit der Tante.
Die beiden alten Herren überboten einander im Aufwärmen von Erinnerungen
und spürten kaum etwas davon, daß neben ihnen junge unausgesprochene
Leidenschaften sich kreuzten und bekämpften.
Herr Homburger fiel mehr und mehr ab. Daß er hin und wieder eine schwach
vergiftete Pointe ins Gespräch warf, wurde kaum beachtet, und je mehr
die Bitterkeit und Auflehnung in ihm wuchs, desto weniger wollte es ihm
gelingen Worte zu finden. Er fand es kindisch, wie Paul sich gehen ließ,
und unverzeihlich, wie das Fräulein darauf einging. Am liebsten hätte er
gute Nacht gesagt und wäre gegangen. Aber das mußte aussehen wie ein
Geständnis, daß er sein Pulver verschossen habe und kampfunfähig sei.
Lieber blieb er da und trotzte. Und so widerwärtig ihm Thusneldes
ausgelassen spielerisches Wesen heute abend war, so hätte er sich doch
vom Anblick ihrer weichen Gesten und ihres schwach geröteten Gesichtes
jetzt nicht trennen mögen.
Thusnelde durchschaute ihn und gab sich keine Mühe, ihr Vergnügen über
Pauls leidenschaftliche Aufmerksamkeiten zu verbergen, schon weil sie
sah, daß es den Kandidaten ärgerte. Und dieser, der in keiner Hinsicht
ein Kraftmensch war, fühlte langsam seinen Zorn in jene weichlich trübe,
faule Resignation übergehen, mit der bis jetzt fast alle seine
Liebesversuche geendet hatten. War er denn je von einem Weib verstanden
und nach seinem Wert geschätzt worden? O, aber er war Künstler genug, um
auch die Enttäuschung den Schmerz, das Einsambleiben mit allen ihren
verborgensten Reizen zu genießen. Wenn auch mit zuckender Lippe, er
genoß es doch; und wenn auch verkannt und verschmäht, er war doch der
Held in der Szene, der Träger einer stummen Tragik, lächelnd mit dem
Dolch im Herzen.
Und nun lächelte er beständig. Er nahm kaum mehr am Gespräch teil, aber
er lächelte nachsichtig, schmerzlich und überlegen, und es war ihm ein
neuer, bitterer Triumph, daß niemand sehen wollte, wie wund sein Lächeln
war. So geschah es, daß dieser seltsame Hanswurst im Innersten
vielleicht befriedigter war als alle anderen.
* * * * *
Man trennte sich erst spät. Als Paul in sein kühles Schlafzimmer trat,
sah er durchs offene Fenster den beruhigten Himmel mit stillstehenden,
milchweißen Flaumwölkchen bedeckt; durch ihre dünnen Flöre drang das
Mondlicht weich und stark und spiegelte sich tausendmal in den nassen
Blättern der Parkbäume. Fern über den Hügeln, nicht weit vom dunkeln
Horizont, leuchtete schmal und langgestreckt wie eine Insel ein Stück
reinen Himmels feucht und milde, darin ein einziger blasser Stern.
Der Knabe blickte lange hinaus und sah es nicht, sah nur ein bleiches
Wogen und fühlte reine, frisch gekühlte Lüfte um sich her, hörte
niegehörte, tiefe Stimmen wie entfernte Stürme brausen und atmete die
weiche Luft einer anderen Welt. Vorgebeugt stand er am Fenster und
schaute, ohne etwas zu sehen, wie ein Geblendeter, und vor ihm ungewiß
und mächtig ausgebreitet lag das Land des Lebens und der Leidenschaften,
von heißen Stürmen durchzittert und von dunkelschwülem Gewölk
verschattet.
Die Tante war die letzte, die zu Bette ging. Wachsam hatte sie noch
Türen und Läden revidiert, nach den Lichtern gesehen und einen Blick in
die dunkle Küche getan, dann war sie in ihre Stube gegangen und hatte
sich beim Kerzenlicht in den altmodischen Sessel gesetzt. Sie wußte ja
nun, wie es um den Kleinen stand, und sie war im Innersten froh, daß
morgen die Gäste wieder reisen wollten. Wenn nur auch alles gut ablief!
Es war doch eigen, so ein Kind von heut auf morgen zu verlieren. Denn
daß Pauls Seele ihr nun entgleiten und mehr und mehr undurchsichtig
werden müsse, wußte sie wohl, und sie sah ihn mit Sorge seine ersten,
knabenhaften Schritte in den Garten der Liebe tun, von dessen Früchten
sie selber zu ihrer Zeit nur wenig und fast nur die bitteren gekostet
hatte. Dann dachte sie an Berta, seufzte und lächelte ein wenig und
suchte dann lange in ihren Schubladen nach einem tröstenden
Abschiedsgeschenk für die Kleine. Dabei erschrak sie plötzlich, als sie
sah, wie spät es schon war.
Über dem schlafenden Haus und dem dämmernden Garten standen ruhig die
milchweißen, flaumig dünnen Wolken, die Himmelsinsel am Horizont wuchs
langsam zu einem weiten, reinen, dunkelklaren Felde, zart von
schwachglänzenden Sternen durchglüht, und über die entferntesten Hügel
lief eine milde, schmale Silberlinie, sie vom Himmel trennend. Im Garten
atmeten die erfrischten Bäume tief und rastend und auf der Parkwiese
wechselte mit dünnen, wesenlosen Wolkenschatten der schwarze
Schattenkreis der Blutbuche.
* * * * *
Die sanfte, noch von Feuchtigkeit gesättigte Luft dampfte leise gegen
den völlig klaren Himmel. Kleine Wasserlachen standen auf dem Kiesplatz
und auf der Landstraße, blitzten goldig oder spiegelten die zarte Bläue.
Knirschend fuhr der Wagen vor und man stieg ein. Der Kandidat machte
mehrere tiefe Bücklinge, die Tante nickte liebevoll und drückte noch
einmal allen die Hände, die Hausmädchen sahen vom Hintergrunde der Flur
der Abfahrt zu.
Paul saß im Wagen Thusnelde gegenüber und spielte den Fröhlichen. Er
lobte das gute Wetter, sprach rühmend von köstlichen Ferientouren in die
Berge, die er vorhabe, und sog jedes Wort und jedes Lachen des Mädchens
gierig ein. Am frühen Morgen war er mit sehr schlechtem Gewissen in den
Garten geschlichen und hatte in dem peinlich geschonten Lieblingsbeet
seines Vaters die prächtigste halboffene Teerose abgeschnitten. Die trug
er nun, zwischen Seidenpapier gelegt, versteckt in der Brusttasche und
war beständig in Sorge, er könnte sie zerdrücken. Eben so bang war ihm
vor der Möglichkeit einer Entdeckung durch den Vater.
Die kleine Berta war ganz still und hielt den blühenden Jasminzweig vors
Gesicht, den ihr die Tante mitgegeben hatte. Sie war im Grunde fast
froh, nun fortzukommen.
»Soll ich Ihnen einmal eine Karte schicken?« fragte Thusnelde munter.
»O ja, vergessen Sie es nicht! Das wäre schön.«
Und dann fügte er hinzu: »Aber Sie müssen dann auch unterschreiben,
Fräulein Berta.«
Sie schrak ein wenig zusammen und nickte.
»Also gut, hoffentlich denken wir auch daran,« sagte Thusnelde.
»Ja, ich will dich dann erinnern.«
Da war man schon am Bahnhof. Der Zug sollte erst in einer Viertelstunde
kommen. Paul empfand diese Viertelstunde wie eine unschätzbare
Gnadenfrist. Aber es ging ihm sonderbar; seit man den Wagen verlassen
hatte und vor der Station auf und ab spazierte, fiel ihm kein Witz und
kein Wort mehr ein. Er war plötzlich bedrückt und klein, sah oft auf die
Uhr und horchte, ob der kommende Zug schon zu hören sei. Erst im letzten
Augenblick zog er seine Rose hervor und drückte sie noch an der
Wagentreppe dem Fräulein in die Hand. Sie nickte ihm fröhlich zu und
stieg ein. Dann fuhr der Zug ab, und alles war aus.
Vor der Heimfahrt mit dem Papa graute ihm, und als dieser schon
eingestiegen war, zog er den Fuß wieder vom Tritt zurück und meinte:
»Ich hätte eigentlich Lust, zu Fuß heimzugehen.«
»Schlechtes Gewissen, Paulchen?«
»O nein, Papa, ich kann ja auch mitkommen.«
Aber Herr Abderegg winkte lachend ab und fuhr allein davon.
»Er soll's nur ausfressen,« knurrte er unterwegs vor sich hin,
»umbringen wird's ihn nicht.« Und er dachte, seit Jahren zum ersten Mal,
an sein erstes Liebesabenteuer und war verwundert, wie genau er alles
noch wußte. Nun war also schon die Reihe an seinem Kleinen! Aber es
gefiel ihm, daß der Kleine die Rose gestohlen hatte. Er hatte sie wohl
gesehen.
Zu Hause blieb er einen Augenblick vor dem Bücherschrank im Wohnzimmer
stehen. Er nahm den Werther heraus und steckte ihn in die Tasche, zog
ihn aber gleich darauf wieder heraus, blätterte ein wenig darin herum,
begann ein Lied zu pfeifen und stellte das Büchlein an seinen Ort
zurück.
Mittlerweile lief Paul auf der warmen Landstraße heimwärts und war
bemüht, sich das Bild der schönen Thusnelde immer wieder vorzustellen.
Erst als er heiß und erschlafft die Parkhecke erreicht hatte, öffnete er
die Augen und besann sich, was er nun treiben solle. Da zog ihn die
plötzlich aufblitzende Erinnerung unwiderstehlich zur Trauerweide hin.
Er suchte den Baum mit heftig wallendem Verlangen auf, schlüpfte durch
die tiefhängenden Zweige und setzte sich auf dieselbe Stelle der Bank,
wo er gestern neben Thusnelde gesessen war und wo sie ihre Hand auf
seine gelegt hatte. Er schloß die Augen, ließ die Hand auf dem Holze
liegen und fühlte noch einmal den ganzen Sturm, der gestern ihn gepackt
und berauscht und gepeinigt hatte. Flammen wogten um ihn, und Meere
rauschten, und heiße Stürme zitterten sausend auf purpurnen Flügeln
vorüber.
Paul saß noch nicht lange an seinem Platz, so klangen Schritte und
jemand trat herzu. Er blickte verwirrt auf, aus hundert Träumen
gerissen, und sah den Herrn Homburger vor sich stehen.
»Ah, Sie sind da, Paul? Schon lange?«
»Nein, ich war ja mit an der Bahn. Ich kam zu Fuß zurück.«
»Und nun sitzen Sie hier und sind melancholisch.«
»Ich bin nicht melancholisch.«
»Also nicht. Ich habe Sie zwar schon munterer gesehen.«
Paul antwortete nicht.
»Sie haben sich ja sehr um die Damen bemüht.«
»Finden Sie?«
»Besonders um die eine. Ich hätte eher gedacht, Sie würden dem jüngeren
Fräulein den Vorzug geben.«
»Dem Backfisch? Hm.«
»Ganz richtig, dem Backfisch.«
Da sah Paul, daß der Kandidat ein fatales Grinsen aufsetzte, und ohne
noch ein Wort zu sagen, kehrte er sich um und lief davon, mitten über
die Wiese.
Mittags bei Tisch ging es sehr ruhig zu.
»Wir scheinen ja alle ein wenig müde zu sein,« lächelte Herr Abderegg.
»Auch du, Paul. Und Sie, Herr Homburger? Aber es war eine angenehme
Abwechslung, nicht?«
»Gewiß, Herr Abderegg.«
»Sie haben sich mit dem Fräulein gut unterhalten? Sie soll ja riesig
belesen sein.«
»Darüber müßte Paul unterrichtet sein. Ich hatte leider nur für
Augenblicke das Vergnügen.«
»Was sagst du dazu, Paul?«
»Ich? Von wem sprecht ihr denn?«
»Von Fräulein Thusnelde, wenn du nichts dagegen hast. Du scheinst
einigermaßen zerstreut zu sein --.«
»Ach, was wird der Junge sich viel um die Damen gekümmert haben,« fiel
die Tante ein.
»Ja, da hast du recht.«
* * * * *
Es wurde schon wieder heiß. Der Vorplatz strahlte Hitze aus und auf der
Straße waren die letzten Regenpfützen vertrocknet. Auf ihrer sonnigen
Wiese stand die alte Blutbuche, von warmem Licht umflossen und auf einem
ihrer starken Äste saß der junge Paul Abderegg, an den Stamm gelehnt und
ganz von rötlich dunkeln Laubschatten umfangen. Das war ein alter
Lieblingsplatz des Knaben, er war dort vor jeder Überraschung sicher.
Dort auf dem Buchenast hatte er heimlicherweise im Herbst vor drei
Jahren die >Räuber< gelesen, dort hatte er seine erste halbe Zigarre
geraucht und dort hatte er damals das Spottgedicht auf seinen früheren
Hauslehrer gemacht, bei dessen Entdeckung sich die Tante so furchtbar
aufgeregt hatte. Er dachte an diese und andere Streiche mit einem
überlegenen, nachsichtigen Gefühl, als wäre das alles vor Urzeiten
gewesen. Kindereien, Kindereien!
Mit einem Seufzer richtete er sich auf, kehrte sich behutsam im Sitze
um, zog sein Taschenmesser heraus und begann am Stamm zu ritzen. Es
sollte ein Herz daraus werden, das den Buchstaben T umschloß, und er
nahm sich vor, es schön und sauber auszuschneiden, wenn er auch mehrere
Tage dazu brauchen sollte.
Noch am selben Abend ging er zum Gärtner hinüber, um sein Messer
schleifen zu lassen. Er trat selber das Rad dazu. Auf dem Rückweg setzte
er sich eine Weile in das alte Boot, plätscherte mit der Hand im Wasser
und suchte sich auf die Melodie des Liedes zu besinnen, das er gestern
von hier aus hatte singen hören. Der Himmel war halb verwölkt und es sah
aus, als werde in der Nacht schon wieder ein Gewitter kommen.


Der Lateinschüler

Mitten in dem enggebauten alten Städtlein liegt ein phantastisch großes
Haus mit vielen kleinen Fenstern und jämmerlich ausgetretenen
Vorstaffeln und Treppenstiegen, halb ehrwürdig und halb lächerlich, und
ebenso war dem jungen Karl Bauer zumute, welcher als siebzehnjähriges
Schülerlein jeden Morgen und Mittag mit seinem Büchersack hineinging. Da
hatte er seine Herzensfreude an dem schönen, klaren und tückelosen
Latein und an den altdeutschen Dichtern, und hatte seine Plage mit dem
schwierigen Griechisch und mit der Algebra, die ihm im dritten Jahr so
wenig lieb war wie im ersten, und wieder seine Freude an ein paar
graubärtigen alten Lehrern und seine Not mit ein paar jungen; denn die
jungen wollten immer ihren Schülern durchaus den eigentlichen tieferen
Sinn der Dinge beibringen, und die Knaben hatten doch mit dem
Auswendiglernen schon Pein und Mühe genug.
Nicht weit vom Schulhaus, schon in der übernächsten Gasse, stand ein
uralter Kaufladen, da ging es über dunkelfeuchte Stufen durch die immer
offene Türe unablässig aus und ein mit Leuten, und im pechfinsteren
Hausgang roch es nach Sprit, Petroleum und Käse. Karl fand sich aber gut
im Dunkeln durch, denn hoch oben im selben Haus hatte er seine Kammer,
dort ging er zu Kost und Logis bei der Mutter des Ladenbesitzers. So
finster es unten war, so hell und frei war es droben; dort hatten sie
Sonne, soviel nur schien, und sahen über die halbe Stadt hinweg, deren
Dächer sie fast alle kannten und einzeln mit Namen nennen konnten.
Aber von den vielerlei guten Sachen, die es im Laden in großer Menge
gab, kam nur sehr weniges die steile Treppe herauf, zu Karl Bauer
wenigstens, denn der Kosttisch seiner alten Frau Kusterer war mager
bestellt und sättigte ihn niemals. Davon aber abgesehen hausten sie und
er ganz freundschaftlich zusammen, und seine Kammer besaß er wie ein
Fürst sein Schloß. Niemand störte ihn darin, er mochte treiben, was es
war, und er trieb vielerlei. Die zwei Meisen im Käfig wären noch das
wenigste gewesen, aber er hatte auch eine Art Schreinerwerkstatt
eingerichtet, und im Ofen schmolz und goß er Blei und Zinn, und sommers
hielt er Blindschleichen und Eidechsen in einer Kiste -- sie
verschwanden immer nach kurzer Zeit durch immer neue Löcher im
Drahtgitter. Außerdem hatte er auch noch seine Geige, und wenn er nicht
las oder schreinerte, so geigte er gewiß, zu allen Stunden bei Tag und
bei Nacht. Nicht daß er darum viel gekonnt hätte; im Gegenteil, er hatte
das spröde Notenwesen mit Seufzen wieder aufgegeben und fröhnte einem
ziellosen Probieren und Phantasieren, das ihm unendliche Freude machte.
Außerdem spielte er täglich seine Lieblingslieder >Am Brunnen vor dem
Tore<, >z' Lauterbach han i mein Strumpf verlore<, >Fahr mir net über
mei Äckerle<, >Weißt du wieviel Sternlein< und eine Menge andre, auch
Choräle.
So hatte der junge Mensch jeden Tag seine Freuden und ließ sich die Zeit
niemals lang werden, zumal da es ihm nicht an Büchern fehlte, die er
entlehnte, wo er eins stehen sah. Er las eine Menge, aber freilich war
ihm nicht eins so lieb wie das andre, sondern er zog die Märchen und
Sagen sowie Trauerspiele in Versen allen andern vor.
Das alles, so schön es war, hätte ihn aber doch nicht satt gemacht.
Darum stieg er, wenn der fatale Hunger wieder zu mächtig wurde, so still
wie ein Wiesel die alten, schwarzen Stiegen hinunter bis in den
steinernen Hausgang, in welchen nur aus dem Laden her ein schwacher
Lichtstreifen fiel. Dort war es nicht selten, daß auf einer hohen leeren
Kiste ein Rest guten Käses lag, oder es stand ein halbvolles
Heringsfäßchen offen neben der Tür, und an guten Tagen oder wenn Karl
unter dem Vorwand der Hilfsbereitschaft mutig in den Laden selber trat,
kamen auch zuweilen ein paar Hände voll gedörrte Zwetschgen,
Birnenschnitze oder dergleichen in seine Tasche.
Diese Züge unternahm er jedoch nicht mit Hinterlist, Habsucht und
schlechtem Gewissen, sondern teils mit der Harmlosigkeit des Hungernden,
teils mit den edel verachtungsvollen Gefühlen eines hochherzigen
Räubers, der keine Menschenfurcht kennt und der Gefahr mit kühlem Stolz
ins Auge blickt. Auch schien es ihm ganz den Gesetzen der sittlichen
Weltordnung zu entsprechen, daß das, was die alte Mutter geizig an ihm
sparte, der überfüllten Schatzkammer ihres Sohnes entzogen würde.
Diese verschiedenartigen Gewohnheiten, Beschäftigungen und Liebhabereien
hätten, neben der allmächtigen Schule her, eigentlich genügen können, um
seine Zeit und seine Gedanken auszufüllen. Karl Bauer war aber davon
noch nicht befriedigt. Teils in Nachahmung einiger Mitschüler, teils
infolge seiner vielen schöngeistigen Lektüre, teils auch aus eignem
Herzensbedürfnis betrat er in jener Zeit zum ersten Mal das schöne
ahnungsvolle Land der Frauenliebe. Und da er doch zum voraus genau
wußte, daß sein derzeitiges Streben und Werben zu keinem realen Ziele
führen würde, war er nicht allzu bescheiden und weihte seine Verehrung
dem schönsten Mädchen der Stadt, die aus reichem Hause war und schon
durch die Pracht ihrer Kleidung alle gleichaltrigen Jungfern weit
überstrahlte. An ihrem Hause ging der Schüler täglich vorbei, und wenn
sie ihm begegnete, zog er den Hut so tief wie vor dem Rektor nicht. Das
konnte er gefahrlos wagen, da mindestens ein Dutzend von seinen
Mitschülern dem schönen Kinde dieselben Huldigungen darbrachte. Sodann
versuchte er es mit Gedichten, wobei jedoch nichts Nennenswertes
herauskam, denn außerdem daß seine Verse nicht die edelsten waren,
fehlte auch der lebendige Trieb einer wirklich echten Zuneigung, um
nicht gar Leidenschaft zu sagen.
* * * * *
So waren seine Umstände beschaffen, als durch einen Zufall eine ganz
neue Farbe in sein Dasein kam und neue Tore zum Leben sich ihm öffneten.
Eines Abends gegen Ende des Herbstes, da Karl von der Schale mit dünnem
Milchkaffee wieder gar nicht satt geworden war, trieb ihn der Hunger auf
die Streife. Er glitt unhörbar die Treppe hinab und revierte im
Hausgang, wo er nach kurzem Suchen mit heißem Dankgefühl einen irdenen
Teller stehen sah, auf welchem zwei Winterbirnen von köstlicher Größe
und Farbe sich an eine rotgeränderte Scheibe Holländerkäse lehnten.
Leicht hätte der Hungrige erraten können, daß diese Kollation für den
Tisch des Hausherrn bestimmt und nur für Augenblicke von der Magd
beiseite gestellt worden sei; aber im überquellenden Entzücken des
unerwarteten Anblicks lag ihm der Gedanke an eine gütige
Schicksalsfügung viel näher, und er barg die Gabe mit dankbaren Gefühlen
in seine Taschen.
Noch ehe er damit fertig und wieder verschwunden war, trat jedoch die
Dienstmagd Babett auf leisen Pantoffeln aus der Kellertüre, hatte ein
Kerzenlicht in der Hand und entdeckte entsetzt den Frevel. Der junge
Dieb hatte noch den Käse in der Hand; er blieb regungslos stehen und sah
zu Boden, während in ihm alles auseinanderging und in einen Abgrund von
weinerlich-zorniger Scham versank. So standen die beiden da, von der
Kerze beleuchtet, und das Leben hat dem kühnen Knaben seither wohl
schmerzlichere Augenblicke beschert, aber gewiß nie einen peinlicheren.
»Nein, so was!« sprach Babett endlich und sah den zerknirschten Frevler
an, als wäre er eine Moritat. Dieser hatte leider nichts zu sagen.
»Das sind Sachen!« fuhr sie fort. »Ja, weißt du denn nicht, daß das
gestohlen ist?«
»Doch, ja.«
»Herr du meines Lebens, wie kommst du denn dazu?«
»Es ist halt dagestanden, Babett, und da hab' ich gedacht --«
»Was denn hast gedacht?«
»Weil ich halt so elend Hunger gehabt hab' . . .«
Bei diesen Worten riß das alte Mädchen ihre Augen weit auf und starrte
den Armen mit unendlichem Verständnis, Erstaunen und Erbarmen an.
»Hunger hast? Ja, kriegst denn nichts zu futtern da droben?«
»Wenig, Babett, wenig.«
»Jetzt da soll doch! Nun, 's ist gut, 's ist gut. Behalt' das nur, was
du im Sack hast, und den Käs auch, behalt's nur, 's ist noch mehr im
Haus. Aber jetzt tät' ich raufgehen, sonst kommt noch jemand.«
In merkwürdiger Stimmung kehrte Karl in seine Kammer zurück, setzte sich
hin und verzehrte nachdenklich erst den Holländer und dann die Birnen.
Dann wurde ihm freier ums Herz, er atmete auf, reckte sich und stimmte
alsdann auf der Geige eine Art Dankpsalm an. Kaum war dieser beendet, so
klopfte es leise an, und wie er aufmachte, stand vor der Tür die Babett
und streckte ihm ein gewaltiges, ohne Sparsamkeit bestrichenes
Butterbrot entgegen.
So sehr ihn dieses erfreute, wollte er doch höflich ablehnen, aber sie
litt es nicht, und er gab gerne nach.
»Geigen tust du aber mächtig schön,« sagte sie bewundernd, »ich hab's
schon öfter gehört. Und wegen dem Essen, da will ich schon sorgen. Am
Abend kann ich dir gut immer was bringen, es braucht's niemand zu
wissen. Warum gibt sie dir's auch nicht besser, wo doch wahrhaftig dein
Vater genug Kostgeld zahlen muß.«
Noch einmal versuchte der Bursche schüchtern dankend abzulehnen, aber
sie hörte gar nicht darauf und er fügte sich gerne. Am Ende kamen sie
dahin überein, daß Karl an Tagen der Hungersnot beim Heimkommen auf der
Stiege das Lied >Güldne Abendsonne< pfeifen sollte, dann käme sie und
brächte ihm zu essen. Wenn er etwas andres pfiffe oder gar nichts, so
wäre es nicht nötig. Zerknirscht und dankbar legte er seine Hand in ihre
breite Rechte, die mit starkem Druck das schöne Bündnis besiegelte.
Und von dieser Stunde an genoß der Gymnasiast mit Behagen und nicht ohne
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