Diesseits: Erzählungen - 11

Total number of words is 4427
Total number of unique words is 1655
36.0 of words are in the 2000 most common words
49.7 of words are in the 5000 most common words
55.8 of words are in the 8000 most common words
Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
und lächelnd draußen, und ihre schönen gütigen Augen lachten mir schon
von weitem entgegen. Mich aber genierte die Gegenwart meiner Herren
Mitschüler, darum ging ich ihr nur langsam entgegen, nickte ihr
leichthin zu und trat so auf, daß sie ihre Absicht, mir einen
Abschiedskuß und Segen zu geben, aufgeben mußte. Betrübt aber tapfer
lächelte sie mich an, und plötzlich lief sie schnell über die Straße zur
Bude eines Fruchthändlers, kaufte ein Pfund Nüsse und gab mir die Tüte
in die Hand. Dann ging sie fort, zur Eisenbahn, und ich sah sie mit
ihrer kleinen altmodischen Ledertasche um die Straßenecke verschwinden.
Kaum war sie mir aus den Augen, so tat mir alles bitter leid und ich
hätte ihr meine törichte Bubenroheit unter Tränen abbitten mögen. Da kam
einer meiner Kameraden vorbei, mein Hauptrivale in Angelegenheiten des
^savoir vivre^. »Bonbons von Mamachen?« fragte er boshaft lächelnd. Ich,
sofort wieder stolz, bot ihm die Tüte an, und da er nicht annahm,
verteilte ich alle Nüsse, ohne eine für mich zu behalten, an die Kleinen
von der vierten Klasse.
Zornig biß ich auf meine Nuß, warf die Schalen ins schwärzliche Laub,
das den Boden bedeckte, und wanderte auf der bequemen Straße unter einem
grünblau und goldig verhauchenden Späthimmel hin zu Tal und bald darauf
an herbstgelben Birken und fröhlichen Vogelbeerbüscheln vorbei in die
bläuliche Dämmerung junger Tannenstände und dann in die tiefen Schatten
eines hohen Buchenwaldes hinein.

Das stille Dorf
Zwei Stunden später am Abend hatte ich mich, nach langem sorglosem
Schlendern, in einem Gewimmel schmaler, finsterer Waldwege verlaufen und
suchte, je dunkler und kühler es wurde, desto ungeduldiger nach einem
Ausgang. Mich geradeaus durch den Laubwald zu schlagen ging nicht an,
der Wald war dicht und der Boden stellenweise sumpfig, auch wurde es
allmählich stockfinster.
Stolpernd und müde tastete ich in der wunderlichen Aufregung des
nächtlichen Verirrtseins weiter. Häufig blieb ich stehen, um zu rufen
und dann lang zu lauschen. Es blieb alles still, und die kühle
Feierlichkeit und dichte Schwärze des lautlosen Waldinnern umgab mich
von allen Seiten, wie Vorhänge von dickem Sammet. So töricht und eitel
es war, machte mir doch der Gedanke Freude, daß ich um ein Wiedersehen
mit einer fast vergessenen Geliebten in dem fremd gewordenen Lande mich
durch Wald und Nacht und Kälte schlage. Ich fing leise meine alten
Liebeslieder zu singen an:
Mein Blick erstaunt und muß sich senken,
mein Herz schließt alle Tore zu,
dem Wunder heimlich nachzudenken --
so schön bist du!
Dazu war ich durch Länder gewandert und hatte mir in langen Kämpfen den
Leib -- und die Seele voll Narben geholt, um nun die alten dummen Verse
zu singen und den Schatten lang verblaßter Knabentorheiten nachzulaufen!
Aber es machte mir nicht wenig Freude, und während ich mühsam den
gewundenen Pfad verfolgte, sang ich weiter, dichtete und phantasierte,
bis ich müde ward und stille weiterlief. Suchend tastete ich an dicke
Buchenstämme, die von Efeuästen umklammert waren und deren Zweige und
Wipfel unsichtbar im Finstern schwammen. So ging es noch eine halbe
Stunde und ich begann endlich kleinlaut zu werden. Da erlebte ich etwas
unvergeßlich Köstliches.
Urplötzlich war der Wald zu Ende und ich stand zwischen den letzten
Stämmen hoch an einer steilen Bergwand, und unter mir schlief ein weites
Waldtal in der Nachtbläue, und mitten darin zu meinen Füßen lag still
und heimlich mit sechs, sieben kleinen rotleuchtenden Fenstern ein
Dörflein. Die niederen Häuser, von denen ich fast nur die breiten, leise
schimmernden Schindeldächer sah, lehnten sich eng aneinander, in einer
leichten Biegung, und zwischen ihnen lief schmal und dunkel die
schattige Gasse, und an ihrem Ende stand ein großer Dorfbrunnen. Weiter
oben, am halben Berge gegenüber, lag allein zwischen vielen dämmernden
Kirchhofkreuzen die Kapelle. In ihrer Nähe lief auf einem steilen
Hügelwege bergan ein Mann mit einer Laterne. Und drunten im Dörflein, in
irgend einem Hause, sangen ein paar Mädchen mit kräftigen, hellen
Stimmen ein Lied.
Ich wußte nicht, wo ich war und wie das Dorf heiße, und ich nahm mir
vor, auch nicht danach zu fragen.
Mein bisheriger Weg verlor sich am Waldrande bergaufwärts, so stieg ich
behutsam ohne Pfad durch steile Weiden hinab, dem Dorf entgegen. Ich
geriet in Gärten und auf schmale Steinstaffeln, fiel über eine
Stützmauer und mußte schließlich einen Zaun überklettern und durch den
seichten Bach springen, dann aber war ich im Dorfe und trat am ersten
Gehöfte vorbei in die krumme, schlafende Gasse. Bald fand ich das
Wirtshaus, das hieß zum Ochsen, und war noch nicht geschlossen.
Das Erdgeschoß war still und dunkel, aus der gepflasterten Flur führte
eine alte verschwenderisch gebaute Treppe mit bauchigen Geländersäulen,
von einer am Strick aufgehängten Laterne erleuchtet, empor in einen
Fliesengang und zur Gästestube. Diese war reichlich groß, und der von
einer Hängelampe beschienene Tisch beim Ofen, an dem drei Bauern vor
ihren Weingläsern saßen, lag wie eine Lichtinsel in dem halbdunkeln,
großen Raum.
Der Ofen war geheizt, ein würfelförmiges Gebäude mit dunkelgrünen
Kacheln; in den Kacheln spiegelte freudig warm das matte Lampenlicht,
unterm Ofen lag ein schwarzer Hund und schlief. Die Wirtin sagte Grüß
Gott, als ich hereinkam, und einer von den Bauern schaute prüfend her.
»Was ist das für einer?« fragte er zweifelnd.
»Weiß nicht,« sagte die Wirtin.
Ich setzte mich an den Tisch, grüßte und ließ Wein kommen. Es gab nur
Heurigen, einen hellroten jungen Most, der schon stark im Reißen war und
mir prächtig warm machte. Dann fragte ich nach einem Nachtlager.
»Das ist so eine Sache,« meinte die Frau und zuckte die Achseln. »Wir
haben schon ein Zimmer, freilich, aber da ist gerade heut ein Herr drin.
Es wäre auch ein zweites Bett in der Stube, aber der Herr schläft schon.
Wenn Sie hinaufgehen und mit ihm reden wollen --?«
»Nicht gern. Und sonst gibt's keinen Platz?«
»Platz schon, aber kein Bett mehr.«
»Und wenn ich mich da zum Ofen lege?«
»Ja, wenn Sie das wollen, freilich. Ich geb Ihnen dann eine Decke und
wir legen ein paar Scheiter nach, so müssen Sie nicht frieren.«
Nun ließ ich mir Eier kochen und eine Wurst geben, und während des
Essens fragte ich, wie weit ich noch von meinem Reiseziel sei.
»Sagen Sie, wie lang geht man von hier nach Ilgenberg?«
»Fünf Stunden. Der Herr droben, der die Stube hat, will morgen auch
wieder hinüber. Er ist dort daheim.«
»So so. Und was treibt er denn hier?«
»Holz kaufen. Er kommt jedes Jahr.«
Die drei Bauern mischten sich nicht in unser Gespräch. Es waren, dachte
ich mir, die Waldbesitzer und Fuhrleute, mit denen der Ilgenberger
Händler den Holzkauf abgeschlossen hatte. Mich hielten sie offenbar für
einen Geschäftemacher oder Beamten und trauten mir nicht. So ließ ich
sie auch in Ruhe.
Kaum hatte ich gegessen und lehnte mich im Sessel zurecht, da fing der
Mädchengesang von vorher plötzlich wieder an, ganz laut und nahe. Sie
sangen das Lied von der schönen Gärtnersfrau, und beim dritten Vers
stand ich auf und ging an die Küchentür und klinkte leise auf. Da saßen
zwei junge Dirnen und eine ältere Magd am weißen tannenen Tisch bei
einem Kerzenstumpen, hatten einen Berg Bohnen zum Ausschoten vor sich
und sangen während der leichten Feierabendbeschäftigung. Wie die ältere
aussah, weiß ich nicht mehr. Aber von den jungen war die eine
rötlichblond, breit und blühend, und die zweite war eine schöne Braune
mit ernstem Gesicht. Sie hatte die Zöpfe in einem sogenannten >Nest<
rund um den Kopf gewunden und sang selbstvergessen mit einer hellen
Kinderstimme vor sich hin, während das sich spiegelnde Kerzenflämmlein
in ihren lieben Augen blitzte.
Als sie mich in der Tür stehen sahen, lachte die Alte, die Rötliche
schnitt eine Fratze und die Braune sah mir eine Weile ins Gesicht, dann
senkte sie den Kopf, wurde ein wenig rot und sang lauter. Sie fingen
gerade einen neuen Vers an und ich fiel mit ein, so gut und kräftig ich
es vermochte. Dann holte ich meinen Wein herüber, nahm eine dreibeinige
Stabelle her und setzte mich singend mit an den Küchentisch. Die
Rotblonde schob mir eine Handvoll Bohnen zu und ich half denn mit
aushülsen.
Als alle die vielen Strophen ausgesungen waren, sahen wir einander an
und mußten lachen, was der Braunen überaus prächtig zu Gesichte stand.
Ich bot ihr mein Glas hin, doch nahm sie es nicht an.
»Sie sind aber eine Stolze,« sagte ich betrübt. »Sind Sie denn etwa von
Stuttgart?«
»Nein. Warum von Stuttgart?«
»Weil es heißt:
Stuegert isch e schöne Stadt,
Stuegert lit im Tale,
wos so schöne Mädle hat,
aber so brutale.«
»Er ist ein Schwab,« sagte die Alte zur Blonden.
»Ja, er ist einer,« bestätigte ich. »Und Sie sind vom Oberland, wo die
Schlehen wachsen.«
»Kann sein,« meinte sie und kicherte.
Ich sah aber immer die Braune an, und ich setzte aus Bohnen den
Buchstaben M zusammen und fragte sie, ob sie so heiße. Sie schüttelte
den Kopf und ich machte nun ein A. Da nickte sie und ich begann nun zu
raten.
»Agnes?«
»Nein.«
»Anna.«
»Nichts.«
»Adelheid?«
»Auch nicht.«
Und so viel ich riet, es war alles falsch, sie aber wurde ganz fröhlich
darüber und rief schließlich: »O Sie Unvernunft!« Als ich sie dann sehr
bat, sie möchte mir jetzt ihren Namen sagen, schämte sie sich eine
kleine Zeit, dann sagte sie schnell und leise: »Agathe« und wurde rot
dabei, wie wenn sie ein Geheimnis preisgegeben hätte.
»Sind Sie auch ein Holzhändler?« fragte die Blonde.
»Nein, das nicht. Seh ich denn so aus?«
»Oder ein Geometer, nicht?«
»Auch nicht. Warum soll ich Geometer sein?«
»Warum? Darum.«
»Ihr Schatz wird einer sein, gelt?«
»Mir wär's schon recht.«
»Singen wir noch eins, zum Schluß?« fragte die Schöne, und während die
letzten Schoten uns durch die Finger gingen, sangen wir das Lied »Steh
ich in finstrer Mitternacht«. Als das zu Ende war, standen die Mädchen
auf und ich auch.
»Gut Nacht,« sagte ich zu jeder und gab jeder die Hand, und zu der
Braunen sagte ich: »Gut Nacht, Agathe.«
In der Wirtsstube brachen jetzt die drei Rauhbeine auf. Sie nahmen
keinerlei Notiz von mir, tranken langsam ihre Reste aus und zahlten
nichts, waren also jedenfalls für diesen Abend die Gäste des
Ilgenbergers gewesen.
»Gute Nacht auch,« sagte ich, als sie gingen, bekam aber keine Antwort
und schlug hinter den Dickköpfen die Türe kräftig zu. Gleich darauf kam
die Wirtin mit Pferdedecken und einem Bettkissen. Wir bauten aus der
Ofenbank und drei Stühlen ein leidliches Nachtlager, und zum Troste
teilte die Frau mir beim Weggehen mit, das Übernachten solle mich nichts
kosten. Das war mir auch recht.
Halb ausgekleidet und mit meinem Mantel zugedeckt lag ich am Ofen, der
noch wohlig wärmte, und dachte an die braune Agathe. Ein Vers aus einem
alten frommen Liede, das ich in Kinderzeiten oft mit meiner Mutter
gesungen hatte, fiel mir ein:
Schön sind die Blumen,
schöner sind die Menschen
in der schönen Jugendzeit -- -- --
So eine war Agathe, schöner als Blumen, und doch mit ihnen verwandt. Es
gibt überall, in allen Ländern, einzelne solche Schönheiten, doch sind
sie nicht allzu häufig, und so oft ich eine sah, hat es mir wohlgetan.
Sie sind wie große Kinder, so scheu wie zutraulich, und haben in ihren
ungetrübten Augen den unbewußt seligen Blick eines schönen Tieres oder
einer Waldquelle. Man sieht sie an und hat sie lieb, ohne ihrer zu
begehren, und während man sie ansieht, will es einem wehetun, daß diese
feinen Bilder der Jugend und Menschenblüte auch einmal altern und
vergehen müssen.
Bald schlief ich ein, und es mag von der Ofenwärme gekommen sein, daß
mir träumte, ich liege am Felsgestade einer südlichen Insel, spüre die
heiße Sonne auf meinen Rücken brennen und sähe einem braunen Mädchen zu,
das allein in einer Barke seewärts ruderte und langsam ferner und
kleiner wurde.

Morgengang
Erst als der Ofen erkaltet war und mir die Füße starr wurden, wachte ich
frierend auf, und da war es auch schon Morgen und nebenzu in der Küche
hörte ich jemand den Herd anheizen. Draußen lag, zum ersten Mal in
diesem Herbst, ein dünner Reif auf den Wiesen. Ich war vom harten Liegen
steif und mitgenommen, aber gut ausgeschlafen. In der Küche, wo die alte
Magd mich begrüßte, wusch ich mich am Wasserstein und bürstete meine
Kleider aus, die gestern bei dem windigen Wetter sehr staubig geworden
waren.
Kaum saß ich in der Stube beim heißen Kaffee, da kam der Gast aus der
Stadt herein, grüßte höflich und setzte sich zu mir an den Tisch, wo
schon für ihn gedeckt war. Er tat aus einer flachen Reiseflasche ein
wenig alten Kirschgeist in seine Tasse und bot auch mir davon an.
»Danke,« sagte ich, »ich trinke keinen Schnaps.«
»Wirklich? Sehen Sie, ich muß es tun, weil ich die Milch sonst nicht
vertragen kann, leider. Jeder hat ja so seinen Bresten.«
»Na, wenn Ihnen sonst nichts fehlt, dürfen Sie nicht klagen.«
»Gewiß, ja. Ich klage auch nicht. Es liegt mir fern -- --«
Er gehörte zu den Leuten, denen es ein Bedürfnis ist, sich recht oft
ohne Ursache zu entschuldigen. Zwar weiß ich, daß diese Art von Narren
leicht lästig wird und daß ihre Bescheidenheit, sobald sie irgendwie zu
Courage kommen, ins Gegenteil umschlägt, doch sind sie immerhin amüsant
und ich habe sie nicht ungern. Im übrigen machte er einen anständigen
Eindruck, etwas zu höflich, aber intelligent und offen. Gekleidet war er
kleinstädtisch, sehr solid und sauber, aber schwerfällig.
Auch er musterte mich, und da er mich in Kniehosen sah, fragte er, ob
ich auf dem Veloziped gekommen sei.
»Nein, zu Fuß.«
»So so. Eine Fußtour, ich verstehe. Ja, der Sport ist eine schöne Sache,
wenn man Zeit hat.«
»Sie haben Holz gekauft?«
»O, eine Kleinigkeit, nur für den eigenen Bedarf.«
»Ich dachte, Sie wären Holzhändler.«
»Nein, doch nicht. Ich habe ein Tuchgeschäft. Das heißt einen Tuchladen,
wissen Sie.«
Wir aßen Butterbrot zum Kaffee, und während er sich Butter nahm, fielen
mir seine wohlgebildeten langen und schmalen Hände auf.
Den Weg nach Ilgenberg schätzte er auf sechs Stunden. Er hatte seinen
Wagen da und lud mich freundlich zum Mitfahren ein, doch nahm ich nicht
an. Ich fragte nach Fußwegen und bekam leidliche Auskunft. Dann rief ich
die Wirtin und zahlte meine kleine Zeche, steckte Brot in die Tasche,
sagte dem Kaufmann Adieu und ging die Treppe hinab und durch die
gepflasterte Flur in den kalten Morgen hinaus.
Vor dem Hause stand des Tuchhändlers Gefährt, eine leichte zweisitzige
Kutsche, und eben zog ein Knecht den Gaul aus dem Stall, ein kleines
fettes Rößlein, das weiß und rötlich wie eine Kuh gefleckt war.
Der Weg führte talaufwärts, eine Strecke den Bach entlang, dann
ansteigend gegen die Waldhöhen. Indem ich allein dahin marschierte, fiel
mir ein, daß ich im Grunde alle meine Wege so einsam gemacht habe, und
nicht nur die Spaziergänge, sondern alle Schritte meines Lebens. Freunde
und Verwandte, gute Bekannte und Liebschaften waren ja immer dabei, aber
sie umfaßten mich nie, erfüllten mich nie, rissen mich nie in andere
Bahnen als die ich selber einschlug. Vielleicht ist jedem Menschen, er
sei wie er wolle, wie einem geschleuderten Ball seine Wurfbahn
vorgezeichnet und er folgt einer längst bestimmten Linie, während er das
Schicksal zu zwingen oder zu hänseln meint. Jedenfalls aber ruht das
»Schicksal« in uns und nicht außer uns, und damit bekommt die Oberfläche
des Lebens, das sichtbare Geschehen, eine gewisse Unwichtigkeit, etwas
ergötzlich Spielzeughaftes, dessen Anblick einen stillen Zuschauer sein
Leben lang angenehm beschäftigen kann. Was man gewöhnlich schwer nimmt
und gar tragisch nennt, wird dann oft zur Bagatelle. Und dieselben
Leute, die vor dem Anschein des Tragischen in die Kniee sinken, leiden
und gehen unter an Dingen, die sie nie beachtet haben.
Ich dachte: Was treibt mich jetzt, mich freien Mann, nach dem Städtlein
Ilgenberg, wo Häuser und Menschen mich nichts mehr angehen und wo ich
kaum anderes als Enttäuschung und vielleicht Leid zu finden hoffen kann?
Und ich sah mir selber verwundert zu, wie ich ging und ging und zwischen
Humor und Bangigkeit hin und wider schwankte.
Es war ein schöner Morgen, die herbstliche Erde und Luft vom ersten
Winterduft gestreift, dessen herbe Klarheit mit dem Steigen des Tages
abnahm. Große Starenzüge strichen in schöner keilförmiger Ordnung mit
lautem Schwirren über die Felder. Im Tale zog langsam die Herde eines
Wanderschäfers hin, und mit ihrem leichten Staube vermischte sich der
dünne blaue Rauch aus des Schäfers Pfeife. Das alles samt den Bergzügen,
farbigen Waldrücken und weidenbestandenen Bachläufen stand in der
glasklaren Luft frisch wie ein gemaltes Bild, und die ergreifende
Schönheit der Erde redete ihre leise, sehnsüchtige Sprache, unbekümmert
wer sie höre.
Das ist mir immer wieder sonderbar, unbegreiflich und hinreißender als
alle Fragen und Taten des Tages und Menschengeistes: wie ein Berg sich
in den Himmel reckt und wie die Lüfte lautlos in einem Tale ruhen, wie
gelbe Birkenblätter vom Zweige gleiten und Vogelzüge durch die Bläue
fahren. Da greift einem das ewig Rätselhafte so beschämend und so süß
ans Herz, daß man allen Hochmut ablegt, mit dem man sonst über das
Unerklärliche redet, und daß man doch nicht erliegt, sondern alles
dankbar annimmt und sich bescheiden und stolz als Gast des Weltalls
fühlt.
Am Saume des Waldes flog mit lautklatschendem Flügelschlagen ein
Wildhuhn vor mir aus dem Unterholz. Braune Brombeerblätter an langen
Ranken hingen über den Weg herein, und auf jedem Blatte lag seidig der
durchsichtig dünne Reif, silbrig flimmernd wie die feinen Härchen auf
einem Stück Sammet. Wenn einem Maler oder Kunststicker oder Keramiker
eine halbe Nachahmung solcher Töne gelingt, so reißt man in der Stadt
die Augen auf.
Als ich nach längerem Steigen im Walde eine Höhe und eine
aussichtsreiche freie Halde erreichte, kannte ich mich bald wieder in
der Landschaft aus. Den Namen des Dörfleins, in dem ich genächtigt
hatte, wußte ich aber nicht und habe auch nicht nach ihm gefragt.
Mein Weg führte am Rand des Waldes weiter, der hier die Wetterseite
hatte, und ich fand meine Kurzweil an den kühnen, bedeutungsvoll
grotesken Formen der Stämme, Äste und Wurzeln. Nichts kann die Phantasie
stärker und inniger beschäftigen. Zuerst herrschen meistens komische
Eindrücke vor: Fratzen, Spottgestalten, und Karikaturen bekannter
Gesichter werden in Wurzelverschlingungen, Erdspalten, Astgebilden,
Laubmassen erkennbar. Dann ist das Auge geschärft und sieht, ohne zu
suchen, ganze Heere von wunderlichen Formen. Das Komische verschwindet,
denn alle diese Gebilde stehen so entschlossen, keck und unverrückbar
da, daß ihre schweigende Schar bald Gesetzmäßigkeit und ernste
Notwendigkeit verkündet. Und endlich werden sie unheimlich und
anklagend. Es ist nicht anders, der wandelbare und maskentragende Mensch
erschrickt, sobald er ernsthaft zusieht, vor den Zügen jedes natürlich
Gewachsenen. Denselben Eindruck wie vor den Formen des Gesteins und der
Bäume hatte ich einst vor einigen Photographieen von Indianern, deren
gewaltige, furchtbare Gesichter Züge wie von Holz oder Eisen hatten --
vielleicht auch Masken, aber unveränderliche.
Es ist lustig, im Umrisse eines Berggipfels ein Gesichtsprofil zu
entdecken und in einem Felsen die Figur eines Tieres. Aber wer nie
anders als so betrachtet, wer nie übers Zufällige hinaus die natürlich
entstandenen Formen vergleicht und sieht, wem diese Formen nie zu
ergreifenden Gebärden, zu stummer Sprache, zu gefesselter Kraft und
Leidenschaft werden, der ist ein Tropf, und und es gibt nichts
Ärgerlicheres, als eine Strecke weit mit so einem wandern zu müssen.

Ilgenberg
Das Dorf, das ich nach zwei Stunden auf Fußwegen erreichte, hieß
Schluchtersingen und war mir von einem früheren Besuche her bekannt. Als
ich durch die Dorfgasse schritt, sah ich vor einem neugebauten Gasthof
einen Wagen stehen und erkannte sofort das Gefährt des Kaufmanns aus
Ilgenberg und sein kleines, sonderbar geflecktes Pferd.
Er selber trat gerade aus der Türe, um wieder einzusteigen, als er mich
daherkommen sah. Sogleich grüßte er lebhaft und winkte mir zu.
»Ich habe hier noch Geschäfte gehabt, fahre jetzt aber direkt nach
Ilgenberg. Wollen Sie nicht mitkommen? Das heißt, wenn Sie nicht lieber
zu Fuß gehen.«
Er sah so gutmütig aus und mein Verlangen nach dem Ziel meiner Reise war
allmählich so gespannt, daß ich annahm und einstieg. Er gab dem
Hausknecht ein Trinkgeld, nahm die Zügel und fuhr los. Der Wagen lief
gar leicht und bequem auf der guten, harten Straße und mir tat nach
tagelangem Fußgängertum das herrschaftliche Gefühl des Fahrens wohl.
Wohl tat mir auch, daß der Kaufmann keine Versuche machte mich
auszufragen. Ich wäre sonst sogleich wieder ausgestiegen. Er fragte nur,
ob ich auf einer Erholungsreise sei und ob ich die Gegend schon kenne.
»Wo steigt man denn jetzt in Ilgenberg am besten ab?« fragte ich.
»Früher war der Hirschen gut; der Besitzer hieß Böliger.«
»Der lebt nimmer. Die Wirtschaft hat jetzt ein Fremder, ein Bayer, und
sie soll zurückgegangen sein. Doch will ich das nicht beschwören, ich
hab's vom Hörensagen.«
»Und wie ist's mit dem Schwäbischen Hof? Da war seinerzeit einer namens
Schuster drauf.«
»Der ist noch da, und das Haus gilt für gut.«
»Dann will ich dort einkehren.«
Mehrmals machte mein Begleiter Miene, sich mir vorzustellen, doch ließ
ich es nicht dazu kommen. So fuhren wir durch den lichten, farbigen Tag.
»Es geht so doch ringer als zu Fuß,« meinte der Ilgenberger.
»Das wohl, ja. Ein Freund von mir, ein Basler, hat das auch
herausgefunden. Er schwärmt für Fußtouren, aber im zweiten oder dritten
Dorf nimmt er jedesmal einen Einspänner und steigt dann erst kurz vor
der Stadt wieder ab.«
»Die Art kenn ich, ja. Aber zu Fuß ist es gesünder.«
»Wenn man gute Stiefel hat. Übrigens ist Ihr Gaul ein lustiger Patron,
mit seinen Flecken.«
Er seufzte ein wenig und lachte dann.
»Fällt's Ihnen auch auf? Freilich, die Flecken sind gespäßig. In der
Stadt haben sie ihn mir >die Kuh< getauft, und man soll die Leute
spotten lassen, aber es ärgert mich doch.«
»Gehalten ist das Tier gut.«
»Nicht wahr? Es geht ihm nichts ab. Sehen Sie, ich hab' das Rößlein
gern. Jetzt spitzt es schon die Ohren, weil wir von ihm reden. Es ist
sieben Jahr alt.«
In der letzten Stunde redeten wir wenig mehr. Mein Begleiter schien
ermüdet, und mir nahm der Anblick der mit jedem Schritt vertrauter
werdenden Gegend alle Gedanken gefangen. Ein bangköstliches Gefühl, Orte
der Jugendzeit wiederzusehen! Erinnerungen blitzen in verwirrender Menge
auf, man lebt ganze Entwicklungen in traumhafter Sekundeneile wieder
durch, unwiederbringlich Verlorenes blickt uns heimatlich und
schmerzlich an.
Eine schwache Erhöhung über die unser Wagen im Trabe lief, öffnete den
Blick auf die Stadt. Zwei Kirchen, ein Mauerturm, der hohe Rathausgiebel
lachten aus dem Gewirre der Häuser, Gassen und Gärten herüber. Daß ich
den humoristischen Zwiebelturm einmal mit Rührung und klopfendem Herzen
begrüßen würde, hätte ich damals nicht gedacht. Er schielte mich mit
seinem heimlichen Kupferglanz behaglich an, als kenne er mich noch und
als habe er schon ganz andere Ausreißer und Weltstürmer als bescheidene
und stille Leute heimkommen sehen.
Noch sah ich die unvermeidlichen Veränderungen, Neubauten und
Vorstadtstraßen nicht, alles sah aus wie vorzeiten, und mich überfiel
beim Anblick die Erinnerung wie ein heißer Südsturm. Unter diesen Türmen
und Dächern hatte ich die märchenhafte Jugendzeit gelebt,
sehnsuchtsvolle Tage und Nächte, wunderbare schwermütige Frühlinge und
lange, in der schlecht geheizten Mansarde verträumte Winter. In diesen
Gartensträßchen war ich nachts in Liebeszeiten brennend und verzweifelnd
umhergewandert, den heißen Kopf voll von abenteuerlichen Plänen. Und
hier war ich glücklich gewesen wie ein Seliger über den Gruß eines
Mädchens und über die ersten schüchternen Gespräche und Küsse unserer
Liebe.
»Ja, es zieht sich noch,« sagte der Kaufmann, »aber in zehn Minuten sind
wir daheim.«
Daheim! dachte ich. Du hast gut reden.
Garten um Garten, Bild um Bild glitt an mir vorüber, Dinge, an die ich
nie mehr gedacht hatte und die mich nun empfingen, als sei ich nur für
Stunden fortgewesen. Ich hielt es nimmer im Wagen aus.
»Bitte halten Sie einen Augenblick, ich gehe von hier vollends zu Fuß
hinein.«
Etwas erstaunt zog er die Zügel an und ließ mich absteigen. Ich hatte
ihm schon gedankt und die Hand gedrückt und wollte gehen, da hustete er
und sagte: »Vielleicht sehen wir uns noch, wenn Sie im Schwäbischen Hof
wohnen wollen. Darf ich um Ihren Namen bitten?«
Zugleich stellte er sich vor. Er hieß Herschel und war, ich konnte nicht
zweifeln, Julies Mann.
Ich hätte ihn am liebsten erschlagen, doch nannte ich meinen Namen, zog
den Hut und ließ ihn weiterfahren. Also das war Herr Herschel. Ein
angenehmer Mann, und wohlhabend. Wenn ich an Julie dachte, was für ein
stolzes und prächtiges Mädchen sie gewesen war und wie sie meine
damaligen phantastisch kühnen Ansichten und Lebenspläne verstanden und
geteilt hatte, dann würgte es mich im Halse. Mein Zorn war augenblicks
verflogen. Gedankenlos in tiefer, hilfloser Traurigkeit ging ich durch
die alte, kahle Kastanienallee in das Städtchen hinein.
Im Gasthaus war gegen früher alles ein wenig feiner und modern geworden,
es gab sogar ein Billard und vernickelte Serviettenbehälter, die wie
Globusse aussahen. Der Wirt war noch derselbe, Küche und Keller waren
einfach und gut geblieben. Im alten Hof stand noch der schlanke
Ahornbaum und lief noch der zweiröhrige Trogbrunnen, in deren kühler
Nachbarschaft ich manche warme Sommerabende bei einem Bier vertrödelt
hatte.
Nach dem Essen machte ich mich auf und schlenderte langsam durch die
wenig veränderten Straßen, las die alten wohlbekannten Namen auf den
Ladenschildern, ließ mich rasieren, kaufte einen Bleistift, sah an den
Häusern hinauf und strich an den Zäunen hin durch die ruhigen Gartenwege
der Vorstadt. Eine Ahnung beschlich mich, daß meine Ilgenberger Reise
eine große Torheit gewesen sei, und doch schmeichelte mir Luft und Boden
heimatlich und wiegte mich in umrißlose, schöne, wirre Erinnerungen. Ich
ließ keine einzige Gasse unbesucht, stieg auf den Kirchturm, las die ins
Gebälk des Glockenstuhls geschnitzten Lateinschülernamen, stieg wieder
hinunter und las die öffentlichen Anschläge am Rathaus, bis es anfing zu
dunkeln.
Dann stand ich auf dem unverhältnismäßig großen, öden Marktplatz,
schritt die lange Reihe der alten Giebelhäuser ab, stolperte über
Vortreppen und Pflasterlücken und hielt am Ende vor dem Herschelschen
Hause an. Am kleinen Laden wurden gerade die Rolläden heruntergelassen,
im ersten Stockwerk hatten vier Fenster Licht. Ich stand unschlüssig da
und schaute am Haus hinauf, müde und beklommen. Ein kleiner Junge
marschierte den Platz herauf und pfiff den Jungfernkranz; als er mich
dastehen sah, hörte er zu pfeifen auf und sah mich beobachtend an. Ich
schenkte ihm zehn Pfennig und hieß ihn weitergehen. Dann kam ein
Lohndiener und bot sich mir an.
»Danke,« sagte ich, und plötzlich hatte ich den Glockenzug in der Hand
und schellte kräftig.

Julie
Die schwere Haustür ging zögernd auf, im Spalt erschien das Gesicht
einer jungen Dienstmagd. Ich fragte nach dem Hausherrn und wurde eine
dunkle Treppe hinaufgeführt. Im Gang oben brannte ein Öllicht, und
während ich meine angelaufene Brille abnahm, kam Herschel heraus und
begrüßte mich.
»Ich wußte, daß Sie kommen würden,« sagte er halblaut.
»Wie konnten Sie das wissen?«
»Durch meine Frau. Ich weiß, wer Sie sind. Aber legen Sie, bitte, ab.
Hier, wenn ich bitten darf. -- Es ist mir ein Vergnügen. -- O, bitte.
You have read 1 text from German literature.
Next - Diesseits: Erzählungen - 12
  • Parts
  • Diesseits: Erzählungen - 01
    Total number of words is 4617
    Total number of unique words is 1493
    39.4 of words are in the 2000 most common words
    55.2 of words are in the 5000 most common words
    60.8 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Diesseits: Erzählungen - 02
    Total number of words is 4488
    Total number of unique words is 1699
    36.9 of words are in the 2000 most common words
    49.8 of words are in the 5000 most common words
    54.8 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Diesseits: Erzählungen - 03
    Total number of words is 4509
    Total number of unique words is 1573
    41.7 of words are in the 2000 most common words
    55.3 of words are in the 5000 most common words
    60.4 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Diesseits: Erzählungen - 04
    Total number of words is 4610
    Total number of unique words is 1450
    43.5 of words are in the 2000 most common words
    56.4 of words are in the 5000 most common words
    62.1 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Diesseits: Erzählungen - 05
    Total number of words is 4434
    Total number of unique words is 1614
    41.1 of words are in the 2000 most common words
    53.1 of words are in the 5000 most common words
    58.5 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Diesseits: Erzählungen - 06
    Total number of words is 4422
    Total number of unique words is 1411
    42.1 of words are in the 2000 most common words
    55.3 of words are in the 5000 most common words
    61.2 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Diesseits: Erzählungen - 07
    Total number of words is 4385
    Total number of unique words is 1609
    39.5 of words are in the 2000 most common words
    51.4 of words are in the 5000 most common words
    57.0 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Diesseits: Erzählungen - 08
    Total number of words is 4427
    Total number of unique words is 1603
    39.2 of words are in the 2000 most common words
    52.8 of words are in the 5000 most common words
    59.1 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Diesseits: Erzählungen - 09
    Total number of words is 4514
    Total number of unique words is 1467
    43.2 of words are in the 2000 most common words
    55.8 of words are in the 5000 most common words
    60.6 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Diesseits: Erzählungen - 10
    Total number of words is 4346
    Total number of unique words is 1775
    36.0 of words are in the 2000 most common words
    49.5 of words are in the 5000 most common words
    55.1 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Diesseits: Erzählungen - 11
    Total number of words is 4427
    Total number of unique words is 1655
    36.0 of words are in the 2000 most common words
    49.7 of words are in the 5000 most common words
    55.8 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Diesseits: Erzählungen - 12
    Total number of words is 1556
    Total number of unique words is 636
    56.7 of words are in the 2000 most common words
    68.2 of words are in the 5000 most common words
    71.5 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.