Diesseits: Erzählungen - 10

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So verging der Abend friedlich, und wenn es spät war und die Babett
wieder ging, war Karl stiller geworden und konnte ohne böse Träume
schlafen. Und das alte Mädchen bedankte sich noch jedesmal, wenn sie
adieu sagte, für den schönen Abend.
Langsam gewann der Liebeskranke seine frühere Art und seinen Frohmut
wieder, ohne zu wissen, daß die Tine sich bei der Babett öfters in
Briefen nach ihm erkundigte. Er war ein wenig männlicher und reifer
geworden, hatte das in der Schule Versäumte wieder eingebracht und
führte nun so ziemlich dasselbe Leben wie vor einem Jahre, nur die
Eidechsensammlung und das Vögelhalten fing er nicht wieder an. Aus den
Gesprächen der Oberprimaner, die im Abgangsexamen standen, drangen
verlockend klingende Worte über akademische Herrlichkeiten ihm ins Ohr,
und da er nun wußte, daß er nicht sitzen bleiben müsse, fühlte er sich
diesem Paradiese wohlig näher gerückt und begann sich nun allmählich auf
die langen Sommerferien ungeduldig zu freuen. Jetzt erst erfuhr er auch
durch die Babett, daß Tine schon lange die Stadt verlassen habe, und
wenn auch die Wunde noch zuckte und leise brannte, so war sie doch schon
geheilt und dem Vernarben nahe.
Auch wenn weiter nichts geschehen und die ganze Sache nun abgeschlossen
gewesen wäre, hätte Karl die Geschichte seiner ersten Liebe in gutem und
dankbarem Andenken behalten und gewiß nie vergessen. Es kam aber noch
ein kurzes Nachspiel dazu, das er noch weniger vergessen hat.
Acht Tage vor den Sommerferien hatte die Freude auf die Heimkehr und
Freiheit in seiner noch biegsamen Seele die nachklingende Liebestrauer
übertönt und verdrängt. Er begann schon zu packen, verbrannte alte
Schulhefte und trieb mit den Büchern, die er im legten Schuljahr nimmer
brauchte, seinen Schacher. Die Aussicht auf Waldspaziergänge, Flußbad
und Nachenfahrten, auf Heidelbeeren und Jakobiäpfel und ungebunden
fröhliche Bummeltage machte ihn so froh, wie er lange nicht mehr gewesen
war. Glücklich lief er durch die heißen Straßen, und an Tine hatte er
schon seit mehreren Tagen gar nimmer gedacht.
Um so heftiger schreckte er zusammen, als er eines Nachmittags auf dem
Heimweg von der Turnstunde in der Malzgasse unvermutet mit Tine
zusammentraf. Er blieb stehen, gab ihr verlegen die Hand und sagte
beklommen Grüßgott. Aber trotz seiner eigenen Verwirrung bemerkte er
bald, daß sie traurig und verstört aussah.
»Wie geht's, Tine?« fragte er schüchtern und wußte nicht, ob er zu ihr
>du< oder >Sie< sagen solle.
»Nicht gut,« sagte sie einfach. »Kommst du ein Stück weit mit?«
Er kehrte um und schritt langsam neben ihr die Straße zurück, während er
daran denken mußte, wie sie sich früher dagegen gesträubt hatte, mit ihm
gesehen zu werden. Freilich, sie ist ja jetzt verlobt, dachte er, und um
nur etwas zu sagen, tat er eine Frage nach dem Befinden ihres
Bräutigams. Da zuckte Tine so jämmerlich zusammen, daß es auch ihm weh
tat.
»Weißt du also noch nichts?« sagte sie leise.
»Nein, aber was ist denn --«
»Er liegt im Spital, und man weiß nicht, ob er mit dem Leben davonkommt.
-- Was ihm fehlt? Von einem Neubau ist er abgestürzt und ist seit
gestern nicht zu sich gekommen.«
Schweigend gingen sie weiter. Karl besann sich vergebens auf irgendein
gutes Wort der Teilnahme; ihm war es wie ein beängstigender Traum, daß
er jetzt so neben ihr durch die Straßen ging und Mitleid mit ihr haben
mußte.
»Wo gehst du jetzt hin?« fragte er schließlich, da er das Schweigen
nimmer ertrug.
»Wieder zu ihm. Sie haben mich mittags fortgeschickt, weil mir's nicht
gut war.«
Er begleitete sie bis an das große stille Krankenhaus, das heiter und
reinlich zwischen hohen Bäumen und umzäunten Anlagen stand, und ging
auch leise schaudernd mit hinein über die breite Treppe und durch die
mit Matten belegten sauberen Flure, deren mit Medizingerüchen erfüllte
Luft ihn scheu machte und bedrückte.
Dann trat Tine allein in eine numerierte Türe. Er wartete still auf dem
Gang; es war sein erster Aufenthalt in einem solchen Hause, und die
Vorstellung der vielen Schrecken und Leiden, die hinter allen diesen
lichtgrau gestrichenen Türen verborgen waren, nahm sein Gemüt mit Grauen
gefangen. Er wagte sich kaum zu rühren, bis Tine wieder herauskam.
»Es ist ein wenig besser, sagen sie, und vielleicht wacht er heut noch
auf. Also adieu, Karl, ich bleib jetzt drinnen, und danke auch schön.«
Leise ging sie wieder hinein und schloß die Türe, auf der Karl zum
hundertstenmal gedankenlos die Ziffer siebzehn las. Seltsam erregt
verließ er das unheimliche Haus. Die vorige Fröhlichkeit war ganz in ihm
erloschen, aber was er jetzt empfand, war auch nicht mehr das einstige
Liebesweh. Wohl fühlte er dieses noch, aber eingeschlossen und umhüllt
von einem viel weiteren, größeren Fühlen und Erleben. Er sah sein großes
Entsagungsleid klein und lächerlich werden neben dem greifbaren Unglück,
dessen Anblick ihn überrascht hatte. Er sah auch plötzlich ein, daß sein
kleines Schicksal nichts Besonderes und keine grausame Ausnahme sei,
sondern daß auch über denen, die er für Glückliche angesehen hatte,
unentrinnbar das Schicksal walte.
Aber er sollte noch mehr und noch Besseres und Wichtigeres lernen. In
den folgenden Tagen, da er Tine häufig im Spital aufsuchte, und dann,
als der Kranke so weit war, daß Karl ihn zuweilen sehen durfte, da
erlebte er nochmals etwas ganz Neues.
Da lernte er sehen, daß auch das unerbittliche Schicksal noch nicht das
Höchste und Endgültige ist, sondern daß schwache, angstvolle, gebeugte
Menschenseelen es überwinden und zwingen können. Noch wußte man nicht,
ob dem Verunglückten mehr als das hilflos elende Weiterleben eines
Siechen und Gelähmten zu retten sein werde. Aber über diese angstvolle
Sorge hinweg sah Karl Bauer die beiden Armen sich des Reichtums ihrer
Liebe erfreuen, er sah das ermüdete, von Sorgen verzehrte Mädchen
aufrecht bleiben und Licht und Freude um sich verbreiten und sah das
blasse Gesicht des gebrochenen Mannes trotz der Schmerzen von einem
frohen Glanz zärtlicher Dankbarkeit verklärt.
Und er blieb, als schon die Ferien begonnen hatten, noch mehrere Tage
da, bis die Tine selber ihn zum Abreisen nötigte.
Im Gang vor den Krankenzimmern nahm er von ihr Abschied, anders und
schöner als damals im Hof des Kustererschen Ladens. Er nahm nur ihre
Hand und dankte ihr ohne Worte, und sie nickte ihm unter Tränen zu. Er
wünschte ihr Gutes und hatte selber in sich keinen besseren Wunsch, als
daß auch er einmal auf die heilige Art lieben und Liebe empfangen möchte
wie das arme Mädchen und ihr Verlobter. Darauf reiste er nach Hause, und
am ersten Ferienabend, als er früh zu Bett gegangen war, sagte sein
Vater lächelnd zur Mutter: »Ist er nicht verändert, der Karl? Was denkst
du?«
»Ja,« meinte sie nachdenklich, »er ist anders geworden. Beinahe schon
wie ein rechter Mann, und mehr soll er ja auch nicht werden.«


Eine Fußreise im Herbst

Seeüberfahrt
Ein sehr kühler Abend, feucht, ungastlich und früh dunkelnd. Auf einem
steilen Sträßlein, zum Teil lehmiger Hohlweg, war ich vom Berge
herabgestiegen und stand am Seeufer allein und fröstelnd. Nebel rauchte
jenseits von den Hügeln, der Regen hatte sich erschöpft und es fielen
nur noch einzelne Tropfen, kraftlos und vom Winde vertrieben.
Am Strande lag ein flaches Boot halb auf den Kies gezogen. Es war gut im
Stande, sauber gemalt, kein Wasser am Boden, und die Ruder schienen ganz
neu zu sein. Daneben stand eine Wartehütte aus Tannenbrettern,
unverschlossen und leer. Am Türpfosten hing ein altes messingenes Horn,
mit einer dünnen Kette befestigt. Ich blies hinein. Ein zäher,
unwilliger Ton kam heraus und flog träge dahin. Ich blies noch einmal,
länger und stärker. Dann setzte ich mich ins Boot und wartete, ob jemand
käme.
Der See war nur leicht bewegt. Ganz kleine Wellen schlugen mit
schwächlichem Klatschen an die dünnen Bootwände. Mich fror ein wenig und
ich wickelte mich fest in meinen weiten, regenfeuchten Mantel, steckte
die Hände unter die Achseln und betrachtete die Seefläche.
Eine kleine Insel, dem Anscheine nach nur ein stattlicher Felsen, ragte
in der Seemitte schwärzlich aus dem bleifarbenen Wasser. Ich würde, wenn
sie mein wäre, einen Turm darauf bauen lassen, mit wenigen Zimmern und
quadratischem Grundriß. Ein Schlafzimmer, ein Wohnzimmer, ein Eßzimmer
und eine Bibliothek.
Dann würde ich einen Wärter hineinsetzen, der müßte alles in Ordnung
halten und jede Nacht im obersten Zimmer Licht brennen. Ich aber würde
weiterreisen und wüßte nun zu jeder Zeit eine Zuflucht und Ruhestätte
auf mich warten. In fernen Städten würde ich jungen Frauen von meinem
Turm im See erzählen.
»Ist auch ein Garten dabei?« würde vielleicht eine fragen. Und ich: »Ich
weiß nicht mehr, ich war so lange nimmer dort. Wollen Sie, daß wir
hinreisen?«
Sie würde mir mit dem Finger drohen und lachen, und der Blick ihrer
hellbraunen Augen würde sich plötzlich verändern. Möglich auch, daß ihre
Augen blau sind oder schwarz, und ihr Gesicht und Nacken bräunlich, und
ihr Kleid dunkelrot mit Pelzbesätzen.
Wenn es nur nicht so kühl gewesen wäre! Eine unangenehme
Verdrießlichkeit wuchs in mir herauf.
Was geht mich die schwarze Felseninsel an? Sie ist lächerlich klein,
wenig besser als ein Vogeldreck, und man könnte auf ihr überhaupt nicht
bauen. Wozu auch, bitte? Und was liegt daran, ob eine junge Frau, die
ich mir erdenke und der ich möglicherweise, falls sie wirklich
existierte, mein Turmschloß zeigen würde, falls ich eines hätte -- ob
diese junge Frau blond ist oder braun und ob ihr Kleid einen Pelzbesatz
hat oder Spitzen oder gewöhnliche Litzen? Wären mir Litzen etwa nicht
gut genug?
Gott bewahre, ich gab den Pelzbesatz, den Turm und die Insel preis, rein
um des Friedens willen. Meine Verdrießlichkeit kassierte die Bilder
mürrisch, schwieg und nahm zu statt ab.
»Bitte,« fragte sie nach einer Weile wieder, »wozu sitzest du eigentlich
hier, an einem weltfremden Ort, in der Nässe am Strand und frierst?«
Da knirschte der Kies, und eine tiefe Stimme rief mich an. Es war der
Fährmann.
»Lang gewartet?« fragte er, während ich ihm das Boot ins Wasser schieben
half.
»Gerade lang genug, scheint mir. Jetzt also los!«
Wir hängten zwei Paar Ruder ein, stießen ab, drehten und probierten den
Takt aus, dann arbeiteten wir schweigend mit starken Schlägen. Mit dem
Erwarmen der Glieder und mit der flotten, taktfesten Bewegung kam ein
anderer Geist in mir auf und machte dem fröstelnd trägen Unmut ein
rasches Ende.
Der Schiffsmann war graubärtig, groß und mager. Ich kannte ihn, er hatte
mich vor Jahren mehrmals gerudert; doch erkannte er mich nicht wieder.
Wir hatten eine halbe Stunde zu rudern, und während wir unterwegs waren,
ward es vollends Nacht. Mein linkes Ruder rieb in seiner Öse bei jedem
Zuge mit rostig knarrendem Ton, unter dem Vorderteil des Bootes schlug
das schwache Gewoge unregelmäßig mit hohlem Geräusch an den
Schiffsboden. Ich hatte zuerst den Mantel, dann auch noch die Jacke
ausgezogen und neben mich gelegt, und als wir uns dem jenseitigen Ufer
näherten, war ich in einen leichten Schweiß geraten.
Jetzt spielten vom Strande her Lichter auf dem dunkeln Wasser, zuckten
springend in gebrochenen Linien und blendeten mehr als sie leuchteten.
Wir stießen ans Land, der Fährmann warf seine Bootskette um einen dicken
Pfahl. Aus dem schwarzen Torbogen trat der Zöllner mit einer Laterne.
Ich gab dem Schiffsmann seinen kleinen Lohn, ließ den Zöllner an meinem
Mantel schnuppern und zog mir die Hemdärmel unter der Jacke zurecht.
Im Augenblick, da ich wegging, fiel mir der vergessene Name des
Schiffers wieder ein. »Gut Nacht, Hans Leutwin,« rief ich ihm zu und
ging davon, während er, die Hand vorm Auge, mir erstaunt und brummend
nachglotzte.

Im goldenen Löwen
In dem alten Städtlein, das ich nun vom Seegestade her durch den
ungeheuren Torbogen betrat, begann erst eigentlich meine Lustreise. In
diesen Gegenden hatte ich vorzeiten eine Weile gelebt und mancherlei
Sanftes und Herbes erfahren, wovon ich jetzt da oder dort noch einen
leisen Duft und Nachklang anzutreffen hoffte.
Ein Gang durch nächtige Straßen, von erleuchteten Fenstern her spärlich
bestrahlt, an alten Giebelformen und Vortreppen und Erkern vorüber. In
der schmalen, krummen Maiengasse hielt mich vor einem altmodischen
Herrenhause ein Oleanderbaum mit ungestümer Mahnung fest. Ein
Feierabendbänklein vor einem andern Hause, ein Wirtsschild, ein
Laternenpfahl taten dasselbe und ich war erstaunt, wieviel längst
Vergessenes in mir doch nicht vergessen war. Zehn Jahre hatte ich das
Nest nimmer gesehen, und nun wußte ich plötzlich alle Geschichten jener
merkwürdigen, schönen Jünglingszeit wieder.
Da kam ich auch am Schloß vorbei, das stand mit schwarzen Türmen und
wenigen roten Fenstervierecken kühn und verschlossen in der regnerischen
Herbstnacht. Damals als junger Kerl ging ich abends selten dran vorüber,
ohne daß ich mir im obersten Turmzimmer eine Grafentochter einsam
weinend dachte, und mich mit Mantel und Strickleiter über halsbrechenden
Mauern, bis an ihr Fenster empor.
»Mein Retter,« stammelte sie freudig erschrocken.
»Vielmehr Ihr Diener,« antwortete ich mit einer Verbeugung. Dann trug
ich sie sorgsam die ängstlich schaukelnde Leiter hinab -- ein Schrei,
der Strick war gerissen -- ich lag mit gebrochenem Bein im Graben und
neben mir rang die Schöne ihre schlanken Hände.
»O Gott, was nun? Wie soll ich Ihnen helfen?«
»Retten Sie sich, Gnädigste, ein treuer Knecht wartet Ihrer bei der
hintern Pforte.«
»Aber Sie?«
»Eine Kleinigkeit, seien Sie unbesorgt! Ich bedaure nur, Sie für heute
nicht weiter begleiten zu können.«
Es hatte seither, wie ich aus der Zeitung wußte, im Schloß gebrannt;
doch sah man, wenigstens jetzt bei Nacht, keine Spuren davon, es war
alles wie früher. Ich betrachtete mir den Umriß des alten Gebäudes eine
kleine Weile, dann bog ich in die nächste Gasse ein.
Und da hing auch noch derselbe groteske Blechlöwe im Schild des
ehrwürdigen Wirtshauses. Hier beschloß ich einzukehren und um Nachtlager
zu fragen.
Ein gewaltiger Lärm schlug mir aus dem weiten Portal entgegen, Musik,
Geschrei, Hin und Wider der Dienerschaft, Gelächter und Pokulieren, und
im Hofe standen abgeschirrte Wagen, an denen Kränze und Girlanden aus
Tannenreis und Papierblumen hingen. Beim Eintreten fand ich den Saal,
die Wirtsstube und sogar noch das Nebenzimmer von einer fröhlichen
Hochzeitsgesellschaft besetzt. An ein ruhiges Abendessen, eine
beschaulich erinnerungsselige Dämmerstunde beim einsamen Schoppen und
ein frühes, friedliches Schlafengehen war da nicht zu denken.
Indem ich die Saaltüre öffnete, drang ein ausgesperrter kleiner Hund
zwischen meinen Beinen durch in den Raum, ein schwarzer Spitzerhund, und
stürzte mit wütendem Freudengebell unter den Tischen hindurch seinem
Herrn entgegen, den er sogleich erblickt hatte, denn er stand gerade
aufrecht an der Tafel und hielt eine Rede.
»-- und also, meine verehrten Herrschaften,« rief er mit rotem Gesicht
und überlaut, da fuhr wie ein Sturm der Hund an ihm hinauf, kläffte
freudig und unterbrach die Rede. Gelächter und Scheltworte erklangen
durcheinander, der Redner mußte seinen Hund hinausbringen, die verehrten
Herrschaften grinsten schadenfroh und tranken einander zu. Ich drückte
mich beiseite, und als der Herr des Spitzerhundes wieder an seinem Platz
und wieder in seiner Rede war, hatte ich das Nebenzimmer erreicht, legte
Hut und Mantel weg und setzte mich ans Ende eines Tisches.
An vortrefflichen Speisen fehlte es heute nicht. Und schon während ich
am Hammelbraten arbeitete, erfuhr ich von meinen Tischnachbarn das
Nötigste über die Hochzeit. Das Paar war mir nicht bekannt, wohl aber
eine große Zahl der Gäste -- Gesichter, die mir vor Jahren vertraut
gewesen waren und die mich nun, viele schon im halben Rausch, beim
Schein der Lampen und Kronleuchter umgaben, mehr oder minder verändert
und gealtert. Einen feinen Bubenkopf mit ernsten Augen, mager und zart
geschnitten, sah ich wieder -- erwachsen, lachend, schnurrbärtig, eine
Zigarre im Mund, und ehemalige junge Bursche, denen das Leben um einen
Kuß und die Welt um einen Narrenstreich feil gewesen war, staken nun in
Backenbärten, hatten die Hausfrau bei sich und regten sich in
Philistergesprächen über Bodenpreise und Änderungen des
Eisenbahnfahrplans auf.
Alles war verändert und doch noch lächerlich kenntlich, und am wenigsten
verändert war erfreulicherweise die Wirtsstube und der gute weiße
Landwein. Der floß noch wie je so herb und freudig, blinkte gelblich im
fußlosen Glase und weckte in mir das schlummernde Gedächtnis zahlreicher
Kneipnächte und Kneipenstreiche. Mich aber kannte niemand wieder und ich
saß im Getümmel und nahm am Gespräche teil als ein zufällig herein
verschlagener Fremder.
Gegen Mitternacht, nachdem auch ich einen Becher oder zwei über den
Durst genossen hatte, gab es einen Streit. Um eine Bagatelle, die ich
schon am andern Tag vergessen habe, ging es los, hitzige Worte klangen,
und drei, vier halbberauschte Männer schrieen zornig auf mich ein. Da
hatte ich genug und stand auf.
»Danke meine Herren, an Händeln liegt mir nichts. Übrigens sollte der
Herr da sich nicht so unnötig erhitzen, er hat ja ein Leberleiden.«
»Woher wissen Sie das?« rief er noch barsch, aber verblüfft.
»Ich sehe es Ihnen an, ich bin Arzt. Sie sind fünfundvierzig Jahre alt,
nicht wahr?«
»Stimmt.«
»Und haben vor etwa zehn Jahren eine schwere Lungenentzündung
durchgemacht?«
»Herrgott, ja. An was sehen Sie denn das?«
»Ja, das sieht man eben, wenn man geübt ist. Also gute Nacht, ihr
Herren!«
Sie grüßten alle ganz höflich, der Leberleidende machte sogar eine
Verbeugung. Ich hätte ihm auch noch seinen Vor- und Zunamen und den
seiner Frau sagen können, ich kannte ihn so gut und hatte früher manches
Feierabendgespräch mit ihm gehabt.
In meiner Schlafkammer wusch ich mir das heiße Gesicht, schaute vom
Fenster über die Dächer weg auf den blassen See hinüber und ging dann zu
Bett. Eine Zeitlang hörte ich noch dem langsam abnehmenden Festlärmen
zu, dann übernahm mich die Müdigkeit und ich schlief bis zum Morgen.

Sturm
Am verstürmten Himmel trieben zerfaserte Wolkenbänder, grau und lila,
und ein heftiger Wind empfing mich, als ich am nächsten Vormittag nicht
zu früh meine Weiterreise antrat. Bald war ich oben auf dem Hügelkamm
und sah das Städtchen, das Schloß, die Kirche und den kleinen Bootshafen
eng und spielzeughaft lustig am Gestade unter mir liegen. Schnurrige
Geschichten aus der Zeit meines früheren Hierseins fielen mir ein und
machten mich lachen. Das konnte ich brauchen, denn je näher ich dem Ziel
meiner Wanderung rückte, desto befangener und schwüler wurde mir, ohne
daß ich es mir gestehen mochte, das Herz.
Das Gehen in der kühlen sausenden Luft tat mir wohl. Ich hörte dem
ungestümen Winde zu und sah im Vorwärtsschreiten auf dem Gratsteig mit
aufregender Wonne die Landschaft weiter und gewaltiger werden. Von
Nordost her hellte der Himmel auf, dorthinüber war die Aussicht frei und
zeigte lange, bläuliche Gebirgszüge in großartiger Ordnung aufgebaut.
Wunderlich, wie aus diesem Halbkreis wild und wirr geschichteter
Bergzüge, die wie eine erstarrte Sintflut oder Titanenschlacht aussehen,
plötzlich ein klares, vernünftig und sogar elegant konstruiertes System
wird, sobald man sie als Wasserspeicher für die Tieflande ansieht! Ein
Naturforscher hat mich einmal darauf hingewiesen. Freilich kann ich nur
für Minuten auf seine Art betrachten, dann fließt die Ordnung wieder ins
Chaos zusammen und ich mag nicht glauben, dieses Gebirge sei so zackig
und jenes so mild gewellt, nur damit die Leute in der und jener Stadt
auch Trink- und Waschwasser haben.
Der Wind nahm zu, je höher ich kam. Er sang herbstlich toll, mit Stöhnen
und mit Lachen, fabelhafte Leidenschaften andeutend, neben denen unsere
nur Kindereien wären. Er schrie mir niegehörte, urweltliche Worte ins
Ohr, wie Namen alter Götter. Er strich über den ganzen Himmel hinweg die
irrenden Wolkentrümmer zu parallelen Streifen aus, in deren gleicher
Linie etwas widerwillig Gebändigtes lag und unter welchen die Berge sich
zu bücken schienen.
Dem Brausen der Lüfte und dem Anblick der weiten Bergländer wich die
leise Befangenheit und Bänglichkeit meiner Seele. Daß ich einem
Wiedersehen mit meiner Jugendzeit und einem Kreise noch ungewisser
Erregungen entgegenging, war nicht mehr so wichtig und beherrschend,
seit Weg und Wetter mir lebendig geworden waren.
Bald nach Mittag stand ich ausruhend auf dem höchsten Punkte des
Höhenweges und mein Blick flog suchend und bestürzt über das ungeheuer
ausgebreitete Land hinweg. Grüne Berge standen da, und weiter entfernt
blaue Waldberge und gelbe Felsberge, tausendfach gefaltete Hügelgelände,
dahinter das Hochgebirg mit jähen Steinzacken und milden, bleichen
Schneepyramiden. Zu Füßen in seiner ganzen Fläche der große See,
meerblau mit weißen Wellenschäumen, zwei vereinzelte flüchtige Segel
darauf, geduckt hingleitend, an den grün und braunen Ufern lodernd gelbe
Weinberge, farbige Wälder, blanke Landstraßen, Bauerndörfer in
Obstbäumen, kahlere Fischerdörfer, hell und dunkel getürmte Städte. Über
alles weg bräunliche Wolken fegend, dazwischen Stücke eines tief klaren,
grünblau und opalfarben durchleuchteten Himmels, Sonnenstrahlen
fächerförmig aufs Gewölk gemalt. Alles bewegt, auch die Bergreihen wie
hinflutend und die ungleich beleuchteten Alpengipfel jäh, unstet und
springend.
Mit dem Sturm- und Wolkentreiben flog auch mein Fühlen und Begehren
ungestüm und fiebernd über die Weite, ferne Schneezacken umarmend und
flüchtig in hellgrünen Seebuchten rastend. Alte, betörende Wandergefühle
liefen wechselnd und farbig wie Wolkenschatten über meine Seele,
Empfindung der Trauer über Versäumtes, Kürze des Lebens und Fülle der
Welt, Heimatlosigkeit und Heimatsuchen, wechselnd mit einem
hinströmenden Gefühl der völligen Loslösung von Raum und Zeit.
Langsam verrannen die Wogen, sangen und schäumten nicht mehr, und mein
Herz wurde still und ruhte unbewegt, wie ein Vogel in großen Höhen.
Da sah ich mit Lächeln und wiederkehrender Wärme Straßenkrümmen,
Waldkuppen und Kirchtürme der vertrauten Nähe; das Land meiner schönen
Jünglingsjahre blickte mich unverändert mit den alten Augen an. Wie ein
Soldat auf seiner Landkarte den Feldzug von damals aufsucht und
überliest, von Rührung so sehr wie vom Gefühl der Geborgenheit erwärmt,
las ich in der herbstfarbenen Landschaft die Geschichte vieler
wundervoller Torheiten und die schon fast zur Sage verklärte Geschichte
einer gewesenen Liebe.

Erinnerungen
In einem ruhigen Winkel, wo mir ein breiter Felsen den Sturm abhielt, aß
ich mein Mittagsbrot. Schwarzbrot, Wurst und Käse. -- Nach ein paar
Stunden Bergaufmarsch bei starkem Winde der erste Biß in ein belegtes
Brot -- das ist eine Lust, fast die einzige, die noch das ganze
durchdringend Köstliche, bis zur Sättigung Beglückende der echten
Knabenfreuden hat.
Morgen werde ich vielleicht an der Stelle im Buchenwald vorüberkommen,
an der ich den ersten Kuß von Julie bekam. Auf einem Ausflug des
Bürgervereins Konkordia, in den ich Julies wegen eingetreten war. Am Tag
nach jenem Ausflug trat ich wieder aus.
Und übermorgen vielleicht, wenn es glückt, werde ich sie selber
wiedersehen. Sie hat einen wohlhabenden Kaufmann namens Herschel
geheiratet, und sie soll drei Kinder haben, von denen eins ihr
auffallend gleicht und auch Julie heißt. Mehr weiß ich nicht, es ist
auch mehr als genug.
Aber ich weiß noch genau, wie ich ihr ein Jahr nach meiner Abreise aus
der Fremde schrieb, daß ich keine Aussicht auf Stellung und
Geldverdienst habe und daß sie nicht auf mich warten möge. Sie schrieb
zurück, ich solle mir und ihr das Herz nicht unnötig schwer machen; sie
werde da sein, wenn ich wiederkäme, sei es bald oder spät. Und ein
halbes Jahr später schrieb sie doch wieder und bat sich frei, für jenen
Herschel, und im Leid und Zorn der ersten Stunde schrieb ich keinen
Brief, sondern telegraphierte ihr mit meinem letzten Gelde, vier oder
fünf geschäftsmäßige Worte. Die gingen übers Meer und waren nicht zu
widerrufen.
Es geht so närrisch im Leben zu! War es Zufall oder Schicksalshohn oder
kam es vom Mut der Verzweiflung -- kaum lag das Liebesglück in Scherben,
da kam Erfolg und Gewinn und Geld wie hergezaubert, da war das nimmer
Erhoffte im Spiel erreicht und war doch wertlos. Das Schicksal hat
Mucken, dachte ich, und vertrank mit Kameraden in zwei Tagen und Nächten
eine Brusttasche voll Banknoten.
Doch an diese Geschichten dachte ich nicht lange, als ich nach der
Mahlzeit mein leeres Wurstpapier dem Winde hinwarf und, in den Mantel
gewickelt, Mittagsrast hielt. Ich dachte lieber an meine damalige Liebe,
und an Julies Gestalt und Gesicht, das schmale feine Gesicht mit den
noblen Brauen und großen dunkeln Augen. Und dachte lieber an den Tag im
Buchenwald, wie sie langsam und widerstrebend mir nachgab und dann bei
meinen Küssen zitterte und dann endlich wieder küßte und ganz leise, wie
aus einem Traum hervor lächelte, während noch Tränen an ihren Wimpern
glänzten.
Vergangene Dinge! Das Beste daran war aber nicht das Küssen und nicht
das abendliche Zusammenpromenieren und Heimlichtun. Das Beste war die
Kraft, die mir aus jener Liebe floß, die fröhliche Kraft, für sie zu
leben, zu streiten, durch Feuer und Wasser zu gehen. Sich wegwerfen
können für einen Augenblick, Jahre opfern können für das Lächeln einer
Frau, das ist Glück. Und das ist mir unverloren.
Pfeifend stand ich auf und ging weiter.
Als die Straße jenseits vom Hügelkamm abwärts sank und ich genötigt war,
vom Anblick der Seeweite Abschied zu nehmen, lag eben die Sonne, schon
dem Untergehen nah, im Kampf mit trägen, gelben Wolkenmassen, die sie
langsam umschleierten und verschlangen. Ich hielt inne und schaute
rastend den fabelhaften Vorgängen am Himmel zu:
Hellgelbe Lichtbündel strahlten vom Rande einer schweren Wolkenbank in
die Höhe und gegen Osten. Rasch entzündete sich der ganze Himmel
gelbrot, glühend purpurne Streifen durchschnitten den Raum, zur gleichen
Zeit wurden alle Berge dunkelblau, an den Seeufern brannte das rötlich
welke Ried wie Heidefeuer. Dann verschwand alles Gelb, und das rote
Licht wurde warm und milde, spielte paradiesisch um traumzarte,
hingehauchte Schleierwölkchen und lief in tausend feinen Adern rosenrot
durch mattgraue Nebelwände, deren Grau sich langsam mit dem Rot zu einem
unsäglich schönen Lilaton vermischte. Der See wurde tiefblau und nahezu
schwarz, die Untiefen in der Nähe der Ufer traten hellgrün mit scharfen
Rändern hervor.
Als der fast schmerzlich schöne Farbenkrampf erlosch, dessen Feuer und
rapide Flüchtigkeit an großen Horizonten immer etwas hinreißend Kühnes
hat, wandte ich mich landeinwärts und blickte erstaunt in eine schon
völlig abendklare, gekühlte Tälerlandschaft. Unter einem großen Nußbaum
trat ich auf eine bei der Lese vergessene Frucht, hob sie auf und
schälte mir die frische lichtbraune feuchte Nuß heraus. Und als ich sie
zerbiß und den scharfen Geruch und Geschmack verspürte, überraschte mich
unversehens eine Erinnerung. Wie von einem Stück Spiegelglas ein
Lichtstrahl reflektiert und in einen dunkeln Raum geworfen wird, so
blitzt oft mitten im Gegenwärtigen, durch eine Nichtigkeit entzündet,
ein vergessenes, längst gewesenes Stückchen Leben auf, erschreckend und
unheimlich.
Das Erlebnis, an das ich in jenem Augenblick nach vielleicht zwölf oder
mehr Jahren zum ersten Mal wieder dachte, war mir ebenso peinlich wie
teuer. Als ich mit etwa fünfzehn Jahren auswärts in einem Gymnasium war,
besuchte mich eines Tages im Herbst meine Mutter. Ich hielt mich sehr
kühl und stolz, wie es mein Gymnasiastenhochmut forderte, und tat ihr
mit hundert Kleinigkeiten weh. Andern Tages reiste sie wieder ab, kam
aber vorher noch ans Schulhaus und wartete unsere Morgenpause ab. Als
wir lärmend aus den Klassenzimmern hervorbrachen, stand sie bescheiden
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