Diesseits: Erzählungen - 05

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Gesträuche ein leichtes Fortkommen hatten.
Als nun später von neuem Menschen herkamen und den einstigen Garten zu
Rast und Lustbarkeit gebrauchen wollten, war er ein kleiner Wald
geworden. Man mußte sich bescheiden. Zwar wurde der alte Weg zwischen
den zwei Platanenreihen wiederhergestellt, sonst aber begnügte man sich
damit, schmale und gewundene Fußwege durch das Dickicht zu ziehen, die
heidigen Lichtungen mit Rasen zu besäen und an guten Plätzen grüne
Sitzbänke aufzustellen. Die Bäume konnten damit zufrieden sein und noch
mehr die Singvögel, welchen nun eine gute Pflege ward. Man versuchte
sogar Nachtigallen einzugewöhnen, aber sie konnten sich nicht halten.
Und die Leute, deren Großväter die Platanen nach der Schnur gepflanzt
und beschnitten und nach Gutdünken gestellt und geformt hatten, kamen
nun mit ihren Kindern zu ihnen zu Gast und waren froh, daß in der langen
Verwahrlosung aus den Alleen ein Wald geworden war, in welchem Sonne und
Winde ruhen und Vögel singen und Menschen ihren Gedanken, Träumen und
Gelüsten nachhängen konnten.
* * * * *
Paul Abderegg lag im Halbschatten zwischen Gehölz und Wiese und hatte
ein weiß und rot gebundenes Buch in der Hand. Bald las er darin, bald
sah er übers Gras hinweg den flatternden Bläulingen nach. Er stand eben
da, wo Frithjof über Meer fährt, Frithjof der Liebende, der
Tempelräuber, der von der Heimat Verbannte. Groll und Reue in der Brust
segelt er über die ungastliche See, am Steuer stehend; Sturm und Gewoge
bedrängen das schnelle Drachenschiff und bitteres Heimweh bezwingt den
starken Steuermann.
Über der Wiese brütete die Wärme, hoch und gellend sangen die Grillen
und im Innern des Wäldchens sangen tiefer und süßer die Vögel. Es war
herrlich, in dieser einsamen Wirrnis von Düften und Tönen und
Sonnenlichtern hingestreckt in den heißen Himmel zu blinzeln, oder
rückwärts in die dunkeln Bäume hinein zu lauschen, oder mit
geschlossenen Augen sich auszurecken und das tiefe, warme Wohlsein durch
alle Glieder zu spüren. Aber Frithjof fuhr über Meer, und morgen kam
Besuch, und wenn er nicht heute noch das Buch zu Ende las, war es
vielleicht wieder nichts damit, wie im vorigen Herbst. Da war er auch
hier gelegen und hatte die Frithjofsage angefangen, und es war auch
Besuch gekommen und mit dem Lesen hatte es ein Ende gehabt. Das Buch war
dageblieben, er aber ging in der Stadt in seine Schule und dachte
zwischen Homer und Tacitus beständig an das angefangene Buch und was im
Tempel geschehen würde, mit dem Ring und der Bildsäule.
Er las mit neuem Eifer, halblaut, und über ihm lief ein schwacher Wind
durch die Ulmenkronen, sang das Gevögel und flogen die gleißenden
Falter, Mücken und Bienen. Und als er zuklappte und in die Höhe sprang,
hatte er das Buch zu Ende gelesen, und die Wiese war voll Schatten und
am hellroten Himmel erlosch der Abend. Eine müde Biene setzte sich auf
seinen Ärmel und ließ sich tragen. Die Grillen sangen noch immer. Paul
ging schnell davon, durchs Gebüsch und den Platanenweg und dann über die
Straße und den stillen Vorplatz ins Haus. Er war schön anzusehen, in der
schlanken Kraft seiner sechzehn Jahre, und den Kopf hatte er mit stillen
Augen gesenkt, noch von den Schicksalen des nordischen Helden erfüllt
und zum Nachdenken genötigt.
Die Sommerstube, wo man die Mahlzeiten hielt, lag zu hinterst im Hause.
Sie war eigentlich eine Halle, vom Garten nur durch eine Glaswand
getrennt, und sprang geräumig als ein kleiner Flügel aus dem Hause vor.
Hier war nun der eigentliche Garten, der von alters her »am See« genannt
wurde, wenngleich statt eines Sees nur ein kleiner, länglicher Teich
zwischen den Beeten, Spalierwänden, Rabatten, Wegen und Obstpflanzungen
lag. Die aus der Halle ins Freie führende Treppe war von Oleandern und
Palmen eingefaßt, im übrigen sah es »am See« nicht herrschaftlich,
sondern behaglich ländlich aus.
»Also morgen kommen die Leutchen,« sagte der Vater. »Du freust dich
hoffentlich, Paul?«
»Ja, schon.«
»Aber nicht von Herzen? Ja, mein Junge, da ist nichts zu machen. Für uns
paar Leute ist ja Haus und Garten viel zu groß, und für niemand soll
doch die ganze Herrlichkeit nicht da sein! Ein Landhaus und ein Park
sind dazu da, daß fröhliche Menschen drin herumlaufen und je mehr desto
besser. Übrigens kommst du mit solenner Verspätung. Suppe ist nimmer
da.«
Dann wandte er sich an den Hauslehrer.
»Verehrtester, man sieht Sie ja gar nie im Garten. Ich hatte immer
gedacht, Sie schwärmen fürs Landleben.«
Herr Homburger runzelte die Stirn.
»Sie haben vielleicht recht. Aber ich möchte die Ferienzeit doch
möglichst zu meinen Privatstudien verwenden.«
»Alle Hochachtung, Herr Homburger! Wenn einmal Ihr Ruhm die Welt
erfüllt, lasse ich eine Tafel unter Ihrem Fenster anbringen. Ich hoffe
bestimmt es noch zu erleben.«
Der Hauslehrer verzog das Gesicht. Er war sehr nervös.
»Sie überschätzen meinen Ehrgeiz,« sagte er frostig. »Es ist mir
durchaus einerlei, ob mein Name einmal bekannt wird oder nicht. Was die
Tafel betrifft --«
»O, seien Sie unbesorgt, lieber Herr! Aber Sie sind entschieden zu
bescheiden. Paul, nimm dir ein Muster!«
Der Tante schien es nun an der Zeit, den Kandidaten zu erretten. Sie
kannte diese Art von höflichen Dialogen, die dem Hausherrn so viel
Vergnügen machten, und sie fürchtete sie. Indem sie Wein anbot, lenkte
sie das Gespräch in andere Gleise und hielt es darin fest.
Es war hauptsächlich von den erwarteten Gästen die Rede. Paul hörte kaum
darauf. Er aß nach Kräften und besann sich nebenher wieder einmal
darüber, wie es käme, daß der junge Hauslehrer neben dem fast
grauhaarigen Vater immer aussah, als sei er der Ältere.
Vor den Fenstern und Glastüren begann Garten, Baumland, Teich und Himmel
sich zu verwandeln, vom ersten Schauer der heraufkommenden Nacht
berührt. Die Gebüsche wurden schwarz und rannen in dunkle Wogen
zusammen, und die Bäume, deren Wipfel die ferne Hügellinie
überschnitten, reckten sich mit ungeahnten, bei Tage nie gesehenen
Formen dunkel und mit einer stummen Leidenschaft und Großartigkeit in
den lichteren Himmel. Die vielfältige fruchtbare Landschaft verlor ihr
friedlich buntes zerstreutes Wesen mehr und mehr und rückte in großen,
fest geschlossenen Massen zusammen. Die entfernten Berge sprangen kühner
und entschlossener empor, die Ebene lag schwärzlich hingebreitet und
ließ nur noch die stärkeren Schwellungen des Bodens durchfühlen. Vor den
Fenstern kämpfte das noch vorhandene Tageslicht müde mit dem
herabfallenden Lampenschimmer.
Paul stand in dem offenen Türflügel und schaute zu, ohne viel
Aufmerksamkeit und ohne viel dabei zu denken. Er dachte wohl, aber nicht
an das was er sah. Er sah es Nacht werden. Aber er konnte nicht fühlen,
wie schön es war. Er war zu jung und lebendig, um so etwas hinzunehmen
und zu betrachten und sein Genüge daran zu finden. Woran er dachte, das
war eine Nacht am nordischen Meer. Am Strande zwischen schwarzen Bäumen
wälzt der düster lodernde Tempelbrand Glut und Rauch gen Himmel, an den
Felsen bricht sich die See und spiegelt wilde rote Lichter, im Dunkel
enteilt mit vollen Segeln ein Wikingerschiff.
»Nun Junge,« rief der Vater, »was hast du denn heut wieder für einen
Schmöker draußen gehabt?«
»O, den Frithjof!«
»So so, lesen das die jungen Leute noch immer? Herr Homburger, wie
denken Sie darüber? Was hält man heutzutage von diesem alten Schweden?
Gilt er noch?«
»Sie meinen Esajas Tegner?«
»Ja, richtig, Esajas. Nun?«
»Ist tot, Herr Abderegg, vollkommen tot.«
»Das glaub' ich gerne! Gelebt hat der Mann schon zu meinen Zeiten
nimmer, ich meine damals, als ich ihn las. Ich wollte fragen, ob er noch
Mode ist.«
»Ich bedaure, über Mode und Moden bin ich nicht unterrichtet. Was die
wissenschaftlich-ästhetische Wertung betrifft --«
»Nun ja, das meinte ich. Also die Wissenschaft -- --?«
»Die Literaturgeschichte verzeichnet jenen Tegner lediglich noch als
Namen. Er war, wie Sie sehr richtig sagten, eine Mode. Damit ist ja
alles gesagt. Das Echte, Gute ist nie Mode gewesen, aber es lebt. Und
Tegner ist, wie ich sagte, tot. Er existiert für uns nicht mehr. Er
scheint uns unecht, geschraubt, süßlich . . . .«
Paul wandte sich heftig um.
»Das kann doch nicht sein, Herr Homburger!«
»Darf ich fragen, warum nicht?«
»Weil es schön ist! Ja, es ist einfach schön.«
»So? Das ist aber doch kein Grund, sich so aufzuregen.«
»Aber Sie sagen, es sei süßlich und habe keinen Wert. Und es ist doch
wirklich schön.«
»Meinen Sie? Ja, wenn Sie so felsenfest wissen, was schön ist, sollte
man Ihnen einen Lehrstuhl einräumen. Aber wie Sie sehen, Paul -- diesmal
stimmt Ihr Urteil nicht mit der Ästhetik. Sehen Sie, es ist gerade
umgekehrt wie mit Thucydides. Den findet die Wissenschaft schön, und Sie
finden ihn schrecklich. Und den Frithjof --«
»Ach, das hat doch mit der Wissenschaft nichts zu tun.«
»Es gibt nichts, schlechterdings nichts in der Welt, womit die
Wissenschaft nicht zu tun hätte. -- Aber, Herr Abderegg, Sie erlauben
wohl, daß ich mich empfehle.«
»Schon?«
»Ich sollte noch etwas schreiben.«
»Schade, wir wären gerade so nett ins Plaudern gekommen. Aber über alles
die Freiheit! Also gute Nacht!«
Herr Homburger verließ das Zimmer höflich und steif und verlor sich
geräuschlos im Korridor.
»Also die alten Abenteuer haben dir gefallen, Paul?« lachte der
Hausherr. »Dann laß sie dir von keiner Wissenschaft verhunzen, sonst
geschieht's dir recht. Du wirst doch nicht verstimmt sein?«
»Ach, es ist nichts. Aber weißt du, ich hatte doch gehofft, der Herr
Homburger würde nicht mit aufs Land kommen. Du hast ja gesagt, ich
brauche in diesen Ferien nicht zu büffeln.«
»Ja, wenn ich das gesagt habe, ist's auch so und du kannst froh sein.
Und der Herr Lehrer beißt dich ja nicht.«
»Warum mußte er denn mitkommen?«
»Ja siehst du, Junge, wo hätt' er denn sonst bleiben sollen? Da wo er
daheim ist, hat er's leider nicht sonderlich schön. Und ich will doch
auch mein Vergnügen haben! Mit unterrichteten und gelehrten Männern
verkehren ist Gewinn, das merke dir. Ich möchte unsern Herrn Homburger
nicht gern entbehren.«
»Ach, Papa, bei dir weiß man nie, was Spaß und was Ernst ist.«
»So lerne es unterscheiden, mein Sohn. Es wird dir nützlich sein. Aber
jetzt wollen wir noch ein bißchen Musik machen, nicht?«
Paul zog den Vater sogleich freudig ins nächste Zimmer. Es geschah nicht
so häufig, daß Papa unaufgefordert mit ihm spielte. Und das war kein
Wunder, denn er war ein Meister auf dem Klavier und der Junge konnte,
mit ihm verglichen, nur eben so ein wenig klimpern.
Tante Grete blieb allein zurück. Vater und Sohn gehörten zu den
Musikanten, die nicht gerne einen Zuhörer vor der Nase haben, aber gerne
einen unsichtbaren, von dem sie wissen, daß er nebenan sitzt und
lauscht. Das wußte die Tante wohl. Wie sollte sie es auch nicht wissen?
Wie sollte ihr irgend ein kleiner, zarter Zug an den beiden fremd sein,
die sie seit Jahren mit Liebe umgab und behütete und die sie beide wie
Kinder ansah.
Sie saß ruhend in einem der biegsamen Rohrsessel und horchte. Was sie
hörte, war eine vierhändig gespielte Ouvertüre, die sie gewiß nicht zum
ersten Mal vernahm, deren Namen sie aber nicht hätte sagen können; denn
so gern sie Musik hörte, verstand sie doch wenig davon. Sie wußte,
nachher würde der Alte oder der Bub beim Herauskommen fragen: »Tante,
was war das für ein Stück?« Dann würde sie sagen »von Mozart« oder »aus
Carmen«, und dafür ausgelacht werden, denn es war immer etwas anderes
gewesen.
Sie horchte, lehnte sich zurück und lächelte. Es war schade, daß niemand
es sehen konnte, denn ihr Lächeln war von der echten, schönen,
gottgeschenkten Art. Es geschah weniger mit den Lippen als mit den
Augen; das ganze Gesicht, Stirn und Wangen glänzten innig mit, und es
sah aus wie ein tiefes Verstehen und Liebhaben.
Sie lächelte und horchte. Es war eine schöne Musik und sie gefiel ihr
höchlich. Doch hörte sie keineswegs die Ouvertüre allein, obwohl sie ihr
zu folgen versuchte. Zuerst bemühte sie sich herauszubringen, wer oben
sitze und wer unten. Paul saß unten, das hatte sie bald erhorcht. Nicht
daß es gehapert hätte, aber die oberen Stimmen klangen so leicht und
kühn und sangen so von innen heraus, wie kein Schüler spielen kann. Und
nun konnte sich die Tante alles vorstellen. Sie sah die zwei am Flügel
sitzen. Bei prächtigen Stellen sah sie den Vater zärtlich schmunzeln.
Paul aber sah sie bei solchen Stellen mit geöffneten Lippen und
flammenden Augen sich auf dem Sessel höher recken. Bei besonders
heiteren, fidelen Wendungen paßte sie auf, ob Paul nicht lachen müsse.
Dann schnitt nämlich der Alte manchmal eine Grimasse oder machte so eine
burschikose Armbewegung, daß es für junge Leute nicht leicht war an sich
zu halten.
Je weiter die Ouvertüre vorwärts gedieh, desto deutlicher sah das
Fräulein ihre beiden vor sich, desto inniger las sie in ihren vom
Spielen erregten Gesichtern. Und mit der raschen Musik lief ein großes
Stück Leben, Erfahrung und Liebe an ihr vorbei.
* * * * *
Es war Nacht, man hatte einander schon Schlafwohl gesagt und jeder war
in sein Zimmer gegangen. Hier und dort ging noch eine Türe, ein Fenster
auf oder zu. Dann ward es still.
Was auf dem Lande sich von selber versteht, die Stille der Nacht, ist
doch für den Städter immer wieder ein Wunder. Wer aus seiner Stadt
heraus auf ein Landgut oder in einen Bauernhof kommt und den ersten
Abend am Fenster steht oder im Bette liegt, den umfängt diese Stille wie
ein Heimatzauber und Ruheport, als wäre er dem Wahren und Gesunden näher
gekommen und spüre ein Wehen des Ewigen.
Es ist ja keine vollkommene Stille. Sie ist voll von Lauten, aber es
sind dunkle, gedämpfte, geheimnisvolle Laute der Nacht, während in der
Stadt die Nachtgeräusche sich von denen des Tages so bitter wenig
unterscheiden. Es ist das Singen der Frösche, das Rauschen der Bäume,
das Plätschern des Baches, der Flug eines Nachtvogels, einer Fledermaus.
Und wenn etwa einmal ein verspäteter Leiterwagen vorüberjagt oder ein
Hofhund anschlägt, so ist es ein erwünschter Gruß des Lebens und wird
majestätisch von der großen Weite des Luftraums gedämpft und
verschlungen.
Wer an Unruhe und schnelles Leben gewöhnt ist und nun einmal in diese
Stille hinein lauschen darf, der empfindet tief das Wesen der Nacht, der
Trösterin und Königin, die aus unerschöpften Quellen Rast und Einkehr,
Trost und Träume, Selbstvergessen, Schlummer und neue Kräfte spendet.
Und der wunderliche Mensch, zumal wenn er jung ist, meint eine solche
Nacht nicht besser feiern zu können als durch ein recht langes
Wachbleiben. Der Hauslehrer hatte noch Licht brennen und ging unruhig
und müde in der Stube auf und ab. Er hatte den ganzen Abend bis gegen
Mitternacht gelesen.
Dieser junge Herr Homburger war nicht, was er schien oder scheinen
wollte. Er war kein Denker. Er war nicht einmal ein wissenschaftlicher
Kopf. Aber er hatte einige Gaben und er war jung. So konnte es ihm, in
dessen Wesen es keinen befehlenden und unausweichlichen Schwerpunkt gab,
an Idealen nicht fehlen.
Zur Zeit beschäftigten ihn einige Bücher, in welchen merkwürdig
schmiegsame Jünglinge sich einbildeten, Bausteine zu einer neuen Kultur
aufzutürmen, indem sie in einer weichen, wohllauten Sprache bald Ruskin,
bald Nietzsche um allerlei kleine, schöne, leicht tragbare Kleinode
bestahlen. Diese Bücher waren viel amüsanter zu lesen als Ruskin und
Nietzsche selber, sie waren von koketter Grazie, groß in kleinen Nuancen
und von seidig vornehmem Glanze. Und wo es auf einen großen Wurf, auf
Machtworte und Leidenschaft ankam, zitierten sie Dante oder Zarathustra.
Deshalb war auch Homburgers Stirn umwölkt, sein Auge müde wie vom
Durchmessen ungeheurer Räume und sein Schritt erregt und ungleich. Er
fühlte, daß an die ihn umgebende schale Alltagswelt allenthalben
Mauerbrecher gelegt waren und daß es galt, sich an die Propheten und
Bringer der neuen Seligkeit zu halten. Schönheit und Geist würde ihre
Welt durchfluten und jeder Schritt in ihr würde von Poesie und Weisheit
triefen.
Vor seinen Fenstern lag und wartete der gestirnte Himmel, die schwebende
Wolke, der träumende Park, das schlafend atmende Feld und die ganze
Schönheit der Nacht. Sie wartete darauf, daß er ans Fenster trete und
sie schaue. Sie wartete darauf, sein Herz mit Sehnsucht und Heimweh zu
verwunden, seine Augen kühl zu baden, seiner Seele gebundene Flügel zu
lösen. Er legte sich aber ins Bett, zog die Lampe näher und las im
Liegen weiter.
Paul Abderegg hatte kein Licht mehr brennen, schlief aber noch nicht,
sondern saß im Hemde auf dem Fensterbrett und schaute in die ruhigen
Baumkronen hinein. Den Helden Frithjof hatte er vergessen. Er dachte
überhaupt an nichts Bestimmtes, er genoß nur die späte Stunde, deren
reges Glücksgefühl ihn noch nicht schlafen ließ. Wie schön die Sterne in
der Schwärze standen! Und wie der Vater heute wieder gespielt hatte! Und
wie still und märchenhaft der Garten da im Dunkeln lag!
Die Juninacht umschloß den Knaben zart und dicht, sie kam ihm still
entgegen, sie kühlte, was noch in ihm heiß und flammend war. Sie nahm
ihm leise den Überfluß seiner unbändigen Jugend ab, bis seine Augen
ruhig und seine Schläfen kühl wurden, und dann blickte sie ihm lächelnd
als eine gute Mutter in die Augen. Er wußte nicht mehr, wer ihn anschaue
und wo er sei, er lag schlummernd auf dem Lager, atmete tief und schaute
gedankenlos hingegeben in große, stille Augen, in deren Spiegel Gestern
und Heute zu wunderlich verschlungenen Bildern und schwer zu
entwirrenden Sagen wurden.
Auch des Kandidaten Fenster war nun dunkel. Wenn jetzt etwa ein
Nachtwanderer auf der Landstraße vorüberkam und Haus und Vorplatz, Park
und Garten lautlos im Schlummer liegen sah, konnte er wohl mit einem
Heimweh herüberblicken und sich des ruhevollen Anblicks mit halbem Neide
freuen. Und wenn es ein armer, obdachloser Fechtbruder war, konnte er
unbesorgt in den arglos offenstehenden Park eintreten und sich die
längste Bank zum Nachtlager aussuchen.
* * * * *
Am Morgen war diesmal gegen seine Gewohnheit der Hauslehrer vor allen
andern wach. Munter war er darum nicht. Er hatte sich mit dem langen
Lesen bei Lampenlicht Kopfweh geholt; als er dann endlich die Lampe
gelöscht hatte, war das Bett schon zu warmgelegen und zerwühlt zum
Schlafen, und nun stand er nüchtern und fröstelnd mit matten Augen auf.
Er fühlte deutlicher als je die Notwendigkeit einer neuen Renaissance,
hatte aber für den Augenblick zur Fortsetzung seiner Studien keine Lust,
sondern spürte ein heftiges Bedürfnis nach frischer Luft. So verließ er
leise das Haus und wandelte langsam feldeinwärts.
Überall waren schon die Bauern an der Arbeit und blickten dem ernst
Dahinschreitenden flüchtig und, wie es ihm zuweilen scheinen wollte,
spöttisch nach. Dies tat ihm weh und er beeilte sich, den nahen Wald zu
erreichen, wo ihn Kühle und mildes Halblicht umfloß. Eine halbe Stunde
trieb er sich verdrossen dort umher. Dann fühlte er eine innere Öde und
begann zu erwägen, ob es nun wohl bald einen Kaffee geben werde. Er
kehrte um und lief an den schon warm besonnten Feldern und unermüdlichen
Bauersleuten vorüber wieder heimwärts.
Unter der Haustür kam es ihm plötzlich unfein vor, so heftig und happig
zum Frühstück zu eilen. Er wandte um, tat sich Gewalt an und beschloß,
vorher noch gemäßigten Schrittes einen Gang durch die Parkwege zu tun,
um nicht atemlos am Tisch zu erscheinen. Mit künstlich bequemem
Schlenderschritt lief er durch die Platanenallee und wollte soeben gegen
den Ulmenwinkel umwenden, als ein unvermuteter Anblick ihn erschreckte.
Auf der letzten, durch Holundergebüsche etwas versteckten Bank lag
ausgestreckt ein Mensch. Er lag bäuchlings und hatte das Gesicht auf die
Ellbogen und Hände gelegt. Herr Homburger war im ersten Schrecken
geneigt, an eine Greueltat zu denken, doch belehrte ihn bald das feste
tiefe Atmen des Daliegenden, daß er vor einem ruhig Schlafenden stehe.
Dieser sah abgerissen und windig aus und je mehr der Lehrersmann
erkannte, daß er es mit einem vermutlich ganz jungen und unkräftigen
Bürschlein zu tun habe, desto höher stieg der Mut und die Entrüstung in
seiner beleidigten Seele. Überlegenheit und schöner Mannesstolz
erfüllten ihn, als er nach kurzem Zögern entschlossen näher trat und den
Schläfer wachschüttelte.
»Stehen Sie auf, Kerl! Was machen Sie denn hier?«
Das Handwerksbürschlein taumelte erschrocken empor und starrte
verständnislos und ängstlich in die Welt. Er sah einen Herrn im Gehrock
befehlend vor sich stehen und besann sich eine Weile, was das bedeuten
könne, bis ihm einfiel, daß er zu Nacht in einen offenen Garten
eingetreten sei und dort genächtigt habe. Er hatte mit Tagesanbruch
weiter wollen, nun war er verschlafen und wurde zur Rechenschaft
gezogen.
»Können Sie nicht reden, was tun Sie hier?«
»Nur geschlafen hab' ich,« seufzte der Angedonnerte und erhob sich
vollends. Als er auf den Beinen stand, bestätigte sein schmächtiges
Gliedergerüste den unfertig jugendlichen Ausdruck seines fast noch
kindlichen Gesichts. Er konnte höchstens achtzehn Jahr alt sein.
»Kommen Sie mit mir!« gebot der Kandidat und nahm den willenlos
folgenden Fremdling mit zum Hause hinüber, wo ihm gleich unter der Türe
Herr Abderegg begegnete.
»Guten Morgen, Herr Homburger, Sie sind ja früh auf! Aber was bringen
Sie da für merkwürdige Gesellschaft?«
»Dieser Bursche hat Ihren Park als Nachtherberge benützt. Ich glaubte
Sie davon unterrichten zu müssen.«
Der Hausherr begriff sofort. Er schmunzelte.
»Ich danke Ihnen, lieber Herr. Offen gestanden, ich hätte kaum ein so
weiches Herz bei Ihnen vermutet. Aber Sie haben recht, es ist ja klar,
daß der arme Kerl zum mindesten einen Kaffee bekommen muß. Vielleicht
sagen Sie drinnen dem Fräulein, sie möchte ein Frühstück für ihn
herausschicken? Oder warten Sie, wir bringen ihn gleich in die Küche. --
Kommen Sie mit, Kleiner, es ist schon was übrig.«
Am Kaffeetisch umgab sich der Mitbegründer einer neuen Kultur mit einer
majestätischen Wolke von Ernst und Schweigsamkeit, was den alten Herrn
nicht wenig freute. Es kam jedoch zu keiner Neckerei, schon weil die
heute erwarteten Gäste alle Gedanken in Anspruch nahmen.
Die Tante hüpfte immer wieder sorgend und lächelnd von einer Gaststube
in die andere, die Dienstboten nahmen maßvoll an der Aufregung teil oder
grinsten zuschauend, und gegen Mittag setzte sich der Hausherr mit Paul
in den Wagen, um zur nahen Bahnstation zu fahren.
* * * * *
Wenn es in Pauls Wesen lag, daß er die Unterbrechungen seines gewohnten
stillen Ferienlebens durch Gastbesuche fürchtete, so war es ihm ebenso
natürlich, die einmal Angekommenen nach seiner Weise möglichst kennen zu
lernen, ihr Wesen zu beobachten und sie sich irgendwie zu eigen zu
machen. So betrachtete er auf der Heimfahrt im etwas überfüllten Wagen
die drei Fremden mit stiller Aufmerksamkeit, zuerst den lebhaft redenden
Professor, dann mit einiger Scheu die beiden Frauensleute.
Der Professor gefiel ihm, schon weil er wußte, daß er ein Duzfreund
seines Vaters war. Im übrigen fand er ihn ein wenig streng und ältlich,
aber nicht zuwider und jedenfalls unsäglich gescheit. Viel schwerer war
es, über die Mädchen ins reine zu kommen. Die eine war eben schlechthin
ein junges Mädchen, ein Backfisch, jedenfalls ziemlich gleich alt wie er
selber. Es würde nur darauf ankommen, ob sie von der spöttischen oder
gutmütigen Art war, je nachdem würde es Krieg oder Freundschaft zwischen
ihm und ihr geben. Im Grunde waren ja alle jungen Mädchen dieses Alters
gleich und es war mit allen gleich schwer zu reden und auszukommen. Es
gefiel ihm, daß sie wenigstens still war und nicht gleich einen Sack
voll Fragen auskramte.
Die andere gab ihm mehr zu raten. Sie war, was er freilich nicht zu
berechnen verstand, vielleicht drei- oder vierundzwanzig und gehörte zu
der Art von Damen, welche Paul zwar sehr gerne sah und von weitem
betrachtete, deren näherer Umgang ihn aber scheu machte und meist in
unzählige Verlegenheiten verwickelte. Er wußte an solchen Wesen die
natürliche Schönheit durchaus nicht von der eleganten Haltung und
Kleidung zu trennen, fand ihre Gesten und ihre Frisuren meist affektiert
und vermutete bei ihnen eine Menge von überlegenen Kenntnissen über
Dinge, die ihm tiefe Rätsel waren.
Wenn er genau darüber nachdachte, haßte er diese ganze Gattung. Sie
sahen alle schön aus, aber sie hatten auch alle die gleiche demütigende
Zierlichkeit und Sicherheit im Benehmen, die gleichen hochmütigen
Ansprüche und die gleiche geringschätzende Herablassung gegen Jünglinge
seines Alters. Und wenn sie lachten oder lächelten, was sie sehr häufig
taten, sah es oft so unleidlich maskenhaft und verlogen aus. Darin waren
die Backfische doch viel erträglicher.
Am Gespräch nahm außer den beiden Männern nur Fräulein Thusnelde -- das
war die ältere, elegante -- teil. Die kleine blonde Berta schwieg ebenso
scheu und beharrlich wie Paul, dem sie gegenüber saß. Sie trug einen
großen, weich gebogenen, ungefärbten Strohhut mit blauen Bändern und ein
ganz blaßblaues, dünnes Sommerkleid mit losem Gürtel und schmalen weißen
Säumen. Es schien, als sei sie ganz in den Anblick der sonnigen Felder
und heißen Heuwiesen verloren.
Aber zwischenein warf sie häufig einen schnellen Blick auf Paul. Sie
wäre noch einmal so gern mit nach Erlenhof gekommen, wenn nur der Junge
nicht gewesen wäre. Er sah ja sehr ordentlich aus, aber gescheit, und
die Gescheiten waren doch meistens die Widerwärtigsten. Da würde es
gelegentlich so heimtückische Fremdwörter geben und auch solche
herablassende Fragen, etwa nach dem Namen einer Feldblume, und dann,
wenn sie ihn nicht wußte, so ein unverschämtes Lächeln, und so weiter.
Sie kannte das von ihren zwei Vettern, von denen einer Student und der
andere Gymnasiast war, und der Gymnasiast war eher der schlimmere,
einmal bubenhaft ungezogen und ein andermal von jener unausstehlich
höhnischen Kavalierhöflichkeit, vor der sie so Angst hatte.
Eins wenigstens hatte Berta gelernt und sie hatte beschlossen, sich auch
jetzt auf alle Fälle daran zu halten: Weinen durfte sie nicht, unter
keinen Umständen. Nicht weinen und nicht zornig werden, sonst war sie
unterlegen. Und das wollte sie hier um keinen Preis. Es fiel ihr
tröstlich ein, daß für alle Fälle auch noch eine Tante da sein würde; an
die wollte sie sich dann um Schutz wenden, falls es nötig werden sollte.
»Paul, bist du stumm?« rief Herr Abderegg plötzlich.
»Nein, Papa. Warum?«
»Weil du vergißt, daß du nicht allein im Wagen sitzest. Du könntest dich
der Berta schon etwas freundlicher zeigen.«
Paul seufzte unhörbar. Also nun fing es an.
»Sehen Sie, Fräulein Berta, dort hinten ist dann unser Haus.«
»Aber Kinder, ihr werdet doch nicht Sie zueinander sagen!«
»Ich weiß nicht, Papa -- ich glaube doch.«
»Na, dann weiter! ist aber recht überflüssig.«
Berta war rot geworden und kaum sah es Paul, so ging es ihm nicht
anders. Die Unterhaltung zwischen ihnen war schon wieder zu Ende und
beide waren froh, daß die Alten es nicht merkten. Es wurde ihnen
unbehaglich und sie atmeten auf, als der Wagen mit plötzlichem Krachen
auf den Kiesweg einbog und am Hause vorfuhr.
»Bitte, Fräulein,« sagte Paul und half Berta beim Aussteigen. Damit war
er der Sorge um sie fürs erste entledigt, denn im Tor stand schon die
Tante und es schien als lächle das ganze Haus, öffne sich und fordere
zum Eintritt auf, so gastlich froh und herzlich nickte sie und streckte
die Hand entgegen und empfing eins um das andere und dann jedes noch ein
zweites Mal. Die Gäste wurden in ihre Stuben begleitet und gebeten,
recht bald und recht hungrig zu Tische zu kommen.
* * * * *
Auf der weißen Tafel standen zwei große Blumensträuße und dufteten
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