Diesseits: Erzählungen - 08

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eine gewisse dankbare Rührung die Teilnahme und Fürsorge eines guten
Frauengemütes, zum ersten Mal seit den heimatlichen Knabenjahren, denn
er war schon früh in Pension getan worden, da seine Eltern auf dem Lande
wohnten. An jene Heimatjahre ward er auch oft erinnert, denn die Babett
bewachte und verwöhnte ihn ganz wie eine Mutter, was sie ihren Jahren
nach auch annähernd hätte sein können. Sie war gegen vierzig und im
Grunde eine eiserne, unbeugsame, energische Natur; aber Gelegenheit
macht Diebe, und da sie so unerwartet an dem Jüngling einen dankbaren
Freund und Schützling und Futtervogel gefunden hatte, trat mehr und mehr
aus dem bisher schlummernden Grunde ihres gehärteten Gemütes ein fast
zaghafter Hang zu einiger Weichheit und selbstlosen Milde an den Tag.
Diese Regung kam dem Karl Bauer zugute und verwöhnte ihn schnell, wie
denn so junge Knaben alles Dargebotene, sei es auch die seltenste
Frucht, mit ruhiger Bereitwilligkeit und fast wie ein gutes Recht
hinnehmen. So kam es auch, daß er schon nach wenigen Tagen jene so
beschämende erste Begegnung bei der Kellertüre völlig vergessen hatte
und jeden Abend seine >Güldne Abendsonne< auf der Treppe erschallen
ließ, als wäre es nie anders gewesen.
* * * * *
Trotz aller Dankbarkeit wäre vielleicht Karls Erinnerung an die Babett
nicht so unverwüstlich lebendig geblieben, wenn ihre Wohltaten sich
dauernd auf das Eßbare beschränkt hätten. Jugend ist hungrig, aber sie
ist nicht weniger schwärmerisch, und ein Verhältnis zu Jünglingen läßt
sich mit Käse und Schinken, ja selbst mit Kellerobst und Wein nicht auf
die Dauer warmhalten.
Die Babett war nicht nur im Hause Kusterer hochgeachtet und
unentbehrlich, sondern genoß in der ganzen Nachbarschaft den Ruf einer
tadelfreien und doch wieder nicht zu herben Ehrbarkeit. Wo sie dabei
war, ging es auf eine anständige Weise heiter zu. Das wußten die
Nachbarinnen, und sie sahen es daher gern, wenn ihre Dienstmägde,
namentlich die jungen, mit ihr Umgang hatten. Wen sie empfahl, der fand
gute Aufnahme, und wer ihren vertrauteren Verkehr genoß, der war besser
aufgehoben als im Mägdestift oder Jungfrauenverein.
Feierabends und an den Sonntagnachmittagen war also die Babett selten
allein, sondern stets von einem Kränzlein jüngerer Mägde umgeben, denen
sie die Zeit herumbringen half und mit allerlei Rat zur Hand ging, aber
gar nicht kühl und streng, sondern mit Witz und kräftigen Sprüchen.
Dabei wurden Spiele gespielt, Lieder gesungen, Scherzfragen und Rätsel
aufgegeben, und wer etwa einen Bräutigam oder einen ordentlichen Bruder
besaß, durfte ihn gern mitbringen. Freilich geschah das nur sehr selten,
denn die Bräute wurden dem Kreise meistens bald untreu, und die jungen
Gesellen und Knechte hatten es mit der Babett nicht so freundschaftlich
wie die Mädchen. Denn lockere Liebesgeschichten duldete sie nicht; wenn
von ihren Schützlingen eine auf solche Wege geriet und durch ernstes
Vermahnen nicht zu bessern war, so blieb sie ausgeschlossen.
In diese muntere Jungferngesellschaft ward der Lateinschüler als
harmloser Gast aufgenommen, und vielleicht hat er dort mehr gelernt als
im Gymnasium, wenn auch nicht in den offiziellen Lehrfächern. Den Abend
seines Eintritts hat er nicht vergessen. Es war im Hinterhof, die
Mädchen saßen auf Treppenstaffeln und leeren Kisten, es war dunkel und
oben floß der viereckig abgeschnittene Abendhimmel noch in schwachem
mildblauem Licht. Die Babett saß vor der halbrunden Kellereinfahrt auf
einem Fäßchen, und Karl stand schüchtern neben ihr an den Torbalken
gelehnt, sagte nichts und schaute in der Dämmerung die ruhigen Gesichter
der Mädchen an. Zugleich dachte er ein wenig ängstlich daran, was wohl
seine Kameraden zu diesem abendlichen Verkehr sagen würden, wenn sie
davon erführen.
Ach, diese Mädchengesichter! Fast alle kannte er vom Sehen schon, aber
nun waren sie, so im Halblicht zusammengerückt, ganz verändert und sahen
ihn wie lauter Rätsel an. Er weiß auch heute noch alle Namen und alle
Gesichter, und von vielen die Geschichte dazu. Was für Geschichten!
Wieviel Schicksal, Ernst, Wucht und auch Anmut in den paar kleinen
Mägdeleben!
Es war die Anna vom Grünen Baum da, die hatte als ganz junges Ding in
ihrem ersten Dienst einmal gestohlen und war einen Monat gesessen. Nun
war sie seit Jahren treu und ehrlich und galt für ein Kleinod. Sie hatte
große braune Augen und einen herben Mund, saß schweigsam da und sah den
Jüngling mit kühler Neugierde an. Aber ihr Schatz, der ihr damals bei
der Polizeigeschichte untreu geworden war, hatte inzwischen geheiratet
und war schon wieder Witwer geworden. Er lief ihr jetzt wieder nach und
wollte sie durchaus noch haben, aber sie machte sich hart und tat, als
wollte sie nichts mehr von ihm wissen, obwohl sie ihn heimlich noch so
lieb hatte wie je.
Die Margret aus der Binderei war immer fröhlich, sang und klang und
hatte Sonne in den rotblonden Kraushaaren. Sie war beständig sauber
gekleidet und hatte immer etwas Schönes und Heiteres an sich, ein blaues
Band oder ein paar Blumen, und doch gab sie niemals Geld aus, sondern
schickte jeden Pfennig ihrem Stiefvater heim, der's versoff und ihr
nicht danke sagte. Sie hat dann später ein schweres Leben gehabt,
ungeschickt geheiratet und sonst vielerlei Pech und Not, aber auch dann
ging sie noch leicht und hübsch einher, hielt sich rein und schmuck und
lächelte zwar seltener, aber desto schöner.
Und so fast alle, eine um die andre, wie wenig Freude und Geld und
Freundliches haben sie gehabt und wieviel Arbeit, Sorge und Ärger, und
wie haben sie sich durchgebracht und sind obenan geblieben, mit wenig
Ausnahmen lauter wackere und unverwüstliche Kämpferinnen! Und wie haben
sie in den paar freien Stunden gelacht und sich fröhlich gemacht mit
nichts, mit einem Witz und einem Lied, mit einer Handvoll Walnüsse und
einem roten Bandrestchen! Wie haben sie vor Lust gezittert, wenn eine
recht grausame Martergeschichte erzählt wurde, und wie haben sie bei
traurigen Liedern mitgesungen und geseufzt und große Tränen in den guten
Augen gehabt!
Ein paar von ihnen waren ja auch widerwärtig, krittelig und stets zum
Nörgeln und Klatschen bereit, aber die Babett fuhr ihnen, wenn es not
tat, schon übers Maul. Und auch sie trugen ja ihre Last und hatten es
nicht leicht. Die Gret vom Bischofseck namentlich war eine Unglückliche.
Sie trug schwer am Leben und schwer an ihrer großen Tugend, sogar im
Jungfrauenverein war es ihr nicht fromm und streng genug, und bei jedem
kräftigen Wort, das an sie kam, seufzte sie tief in sich hinein, biß die
Lippen zusammen und sagte leise: »Der Gerechte muß viel leiden.« Sie
litt jahraus jahrein und gedieh am Ende doch dabei, aber wenn sie ihren
Strumpf voll ersparter Taler überzählte, wurde sie gerührt und fing zu
weinen an. Zweimal konnte sie einen Meister heiraten, aber sie tat es
beide Mal nicht, denn der eine war ein Leichtfuß und der andere war
selber so gerecht und edel, daß sie bei ihm das Seufzen und
Unverstandensein hätte entbehren müssen.
Die alle saßen da in der Ecke des dunkeln Hofes, erzählten einander ihre
Begebenheiten und warteten darauf, was der Abend nun Gutes und
Fröhliches bringen würde. Ihre Reden und Gebärden wollten dem gelehrten
Jüngling anfänglich nicht die klügsten und nicht die feinsten scheinen,
aber bald wurde ihm, da seine Verlegenheit wich, freier und wohler, und
er blickte nun auf die im Dunkel beisammen kauernden Mädchen wie auf ein
ungewöhnliches, sonderbar schönes Bild.
»Ja, das wäre also der Herr Lateinschüler,« sagte die Babett und wollte
sogleich die Geschichte seines kläglichen Hungerleidens vortragen, doch
da zog er sie flehend am Ärmel, und sie schonte ihn gutmütig.
»Da müssen Sie sicher schrecklich viel lernen?« fragte die rotblonde
Margret aus der Binderei, und sie fuhr sogleich fort: »Auf was wollen
Sie denn studieren?«
»Ja, das ist noch nicht ganz bestimmt. Vielleicht Doktor.«
Das erweckte Ehrfurcht, und alle sahen ihn aufmerksam an.
»Da müssen Sie aber doch zuerst noch einen Schnurrbart kriegen,« meinte
die Lene vom Apotheker, und nun lachten sie teils leise kichernd, teils
kreischend auf und kamen mit hundert Neckereien, deren er sich ohne
Babetts Hilfe schwerlich erwehrt hätte. Schließlich verlangten sie, er
solle ihnen eine Geschichte erzählen. Ihm wollte, so viel er auch
gelesen hatte, keine einfallen als das Märchen von dem, der auszog, das
Gruseln zu lernen; doch hatte er kaum recht angefangen, da lachten sie
und riefen: »Das wissen wir schon lang,« und die Grete vom Bischofseck
sagte geringschätzig: »Das ist bloß für Kinder.« Da hörte er auf und
schämte sich, und die Babett versprach an seiner Stelle: »Nächstes Mal
erzählt er was andres, er hat ja so viel Bücher daheim!« Das war ihm
auch recht und er beschloß, sie glänzend zufriedenzustellen.
Unterdessen hatte der Himmel den letzten blauen Schimmer verloren, und
auf seiner matten Schwärze schwamm ein Stern.
»Jetzt müsset ihr aber heim,« ermahnte die Babett, und sie standen auf,
schüttelten und rückten die Zöpfe und Schürzen zurecht, nickten einander
zu und gingen davon, die einen durchs hintere Hoftürlein, die andern
durch den Gang und die Haustüre.
Auch Karl Bauer sagte Gutenacht und stieg in seine hohe Kammer hinauf,
befriedigt und auch nicht, mit unklarem Gefühl. Denn so tief er in
Jugendhochmut und Lateinschülertorheiten steckte, so hatte er doch
gemerkt, daß unter diesen seinen neuen Bekannten ein andres Leben gelebt
ward als das seinige und daß fast alle diese Mädchen, mit fester Kette
ans rührige Alltagsleben gebunden, Kräfte in sich trugen und Dinge
wußten, die für ihn so fremd wie ein Märchen waren. Nicht ohne einen
kleinen Forscherdünkel gedachte er möglichst tief in die interessante
Poesie dieses naiven Lebens, in die Welt des Urvolkstümlichen, der
Moritaten und Soldatenlieder hineinzublicken. Aber doch fühlte er diese
Welt der seinigen in gewissen Dingen unheimlich überlegen und fürchtete
heimlich allerlei Tyrannei und Überwältigung von ihr.
Einstweilen ließ sich jedoch keine derartige Gefahr blicken, auch wurden
die abendlichen Zusammenkünfte der Mägde immer kürzer, denn es ging
schon stark in den Winter hinein, und man machte sich, wenn es auch noch
mild war, jeden Tag auf den ersten Schnee gefaßt. Immerhin fand Karl
noch Gelegenheit, seine Geschichte loszuwerden. Es war die vom
Zundelheiner und Zundelfrieder, die er im Schatzkästlein gelesen hatte,
und sie fand keinen geringen Beifall. Die Moral am Schlusse ließ er weg,
aber die Babett fügte eine solche aus eignem Bedürfnis und Vermögen
hinzu. Die Mädchen, mit Ausnahme der Gret, lobten den Erzähler über
Verdienst, wiederholten abwechselnd die Hauptszenen und baten sehr, er
möge nächstens wieder so etwas zum besten geben. Er versprach es auch,
aber schon am andern Tag wurde es so kalt, daß an kein Herumstehen im
Freien mehr zu denken war, und dann kamen, je näher die Weihnacht
rückte, andre Gedanken und Freuden über ihn.
Er schnitzelte alle Abend an einem Tabakskasten für seinen Papa und dann
an einem lateinischen Vers dazu. Der Vers wollte jedoch niemals jenen
klassischen Adel bekommen, ohne welchen ein lateinisches Distichon gar
nicht auf seinen Füßen stehen kann, und so schrieb er schließlich nur
>Wohl bekomm's!< in großen Schnörkelbuchstaben auf den Deckel, zog die
Linien mit dem Schnitzmesser nach und polierte den Kasten mit Bimsstein
und Wachs. Alsdann reiste er wohlgemut in die Ferien.
* * * * *
Der Januar war kalt und klar, und Karl ging, so oft er eine freie Stunde
hatte, auf den Eisplatz zum Schlittschuhlaufen. Dabei ging ihm eines
Tages sein bißchen eingebildeter Liebe zu jenem schönen Bürgermädchen
verloren. Seine Kameraden umwarben sie mit hundert kleinen
Kavalierdiensten, und er konnte wohl sehen, daß sie einen wie den andern
mit derselben kühlen, ein wenig neckischen Höflichkeit und Koketterie
behandelte. Da wagte er es einmal und forderte sie zum Fahren auf, ohne
allzusehr zu erröten und zu stottern, aber immerhin mit einigem
Herzklopfen. Sie legte eine kleine, in weiches, feines Leder gekleidete
Linke in seine frostrote Rechte, fuhr mit ihm dahin und verhehlte kaum
ihre Belustigung über seine hilflosen Anläufe zu einer galanten
Konversation. Schließlich machte sie sich mit leichtem Dank und
Kopfnicken los, und gleich darauf hörte er sie mit ihren Freundinnen,
von denen manche listig nach ihm herüberschielten, so herzlich hell und
boshaft lachen, wie es nur hübsche und verwöhnte kleine Mädchen können.
Das war ihm zu viel, er tat von da an diese ohnehin nicht echte
Schwärmerei entrüstet von sich ab und machte sich ein Vergnügen daraus,
künftighin den Fratz, wie er sie jetzt nannte, weder auf dem Eisplatz
noch auf der Straße mehr zu grüßen.
Seine Freude darüber, dieser unwürdigen Fesseln einer faden Galanterie
wieder ledig zu sein, suchte er dadurch zum Ausdruck zu bringen und
womöglich zu erhöhen, daß er häufig in den Abendstunden mit einigen
verwegenen Kameraden auf Abenteuer auszog. Sie hänselten die
Polizeidiener, klopften an erleuchtete Parterrefenster, zogen an
Glockensträngen und klemmten elektrische Drücker mit Zündholzspänen
fest, brachten angekettete Hofhunde zur Raserei und erschreckten Mädchen
und Frauen in entlegenen Vorstadtgassen durch Pfiffe, Knallerbsen und
Kleinfeuerwerk.
Karl Bauer fühlte sich bei diesen Unternehmungen im winterlichen
Abenddunkel eine Zeitlang überaus wohl; ein fröhlicher Übermut und
zugleich ein fast ängstlich beklemmendes Erlebensfieber machte ihn dann
wild und kühn und bereitete ihm ein köstliches Herzklopfen, das er
niemand eingestand und das er doch wie einen Rausch genoß. Nachher
spielte er dann zu Hause noch lange auf der Geige oder las spannende
Bücher und kam sich dabei vor wie ein vom Beutezug heimgekehrter
Raubritter, der seinen Säbel abgewischt und an die Wand gehängt und
einen friedlich leuchtenden Kienspan entzündet hat, um sich noch ein
stilles Feierabendvergnügen zu gönnen.
Als aber bei diesen Dämmerungsfahrten allmählich alles immer wieder auf
die gleichen kleinen Streiche und Ergötzungen hinauslief und als niemals
etwas von den heimlich erwarteten richtigen Abenteuern passieren wollte,
fing das Vergnügen allmählich an ihm zu verleiden, und er zog sich von
der ausgelassenen Kameradschaft enttäuscht mehr und mehr zurück. Und
gerade an jenem Abend, da er zum letzten Mal mitmachte und nur mit
halbem Herzen noch dabei war, mußte ihm dennoch ein kleines Erlebnis
blühen.
Die Buben liefen zu viert in der Brühelgasse hin und her, spielten mit
kleinen Spazierstöckchen und sannen auf Schandtaten. Der eine hatte
einen blechernen Zwicker mit Fenstergläsern auf der Nase, und alle vier
trugen ihre Hüte und Mützen mit burschikoser Leichtfertigkeit schief auf
dem Hinterkopf. Nach einer Weile wurden sie von einem eilig
daherkommenden Dienstmädchen überholt, sie streifte rasch an ihnen
vorbei und trug einen großen Henkelkorb am Arm. Aus dem Korbe hing ein
langes Stück schwarzes Band herunter, flatterte bald lustig auf und
berührte bald mit dem schon beschmutzten Ende den Boden.
Ohne eigentlich etwas dabei zu denken, faßte Karl Bauer im Übermut nach
dem Bändel und hielt ihn fest. Während die junge Magd sorglos
weiterging, rollte das Band sich immer länger ab, und die Buben brachen
in ein frohlockendes Gelächter aus. Da drehte das Mädchen sich um, stand
wie der Blitz vor den lachenden Jünglingen, schön und jung und blond,
gab dem Bauer eine Ohrfeige, nahm das verlorene Band hastig auf und
eilte schnell davon.
Der Spott ging nun über den Gezüchtigten her, aber Karl war ganz
schweigsam geworden und nahm an der nächsten Straßenecke kurzen
Abschied.
Es war ihm sonderbar ums Herz. Das Mädchen, dessen Gesicht er nur einen
Augenblick in der halbdunkeln Gasse gesehen hatte, war ihm sehr schön
und lieb erschienen, und der Schlag von ihrer Hand, so sehr er sich
seiner schämte, hatte ihm mehr wohl als weh getan. Aber wenn er daran
dachte, daß er dem lieben Geschöpf einen dummen Bubenstreich gespielt
hatte und daß sie ihm nun zürnen und ihn für einen einfältigen Ulkmacher
ansehen müsse, dann brannte ihn Reue und Scham so heftig, als hätte er
mindestens einen Brudermord verübt.
Langsam ging er heim und pfiff auf der steilen Treppe diesmal kein Lied,
sondern stieg still und bedrückt in seine Kammer hinauf. Eine halbe
Stunde lang saß er in dem dunkeln und kalten Stüblein, die Stirn an der
Fensterscheibe. Dann langte er die Geige hervor und spielte lang und
viel, aber keine heftigen Phantasieen, sondern lauter sanfte, alte
Lieder aus seiner Kinderzeit und darunter manche, die er seit vier und
fünf Jahren nimmer gesungen oder gegeigt hatte. Er dachte an seine
Schwester und an den Garten daheim, an den Kastanienbaum und an die rote
Kapuzinerblüte an der Veranda, und an seine Mutter. Und als er dann müde
und verwirrt zu Bett gegangen war und doch nicht gleich schlafen konnte,
da geschah es dem trotzigen Abenteurer und Gassenhelden, daß er ganz
leise und sanft zu weinen begann und stille weiter weinte, bis er
eingeschlummert war.
* * * * *
Karl kam nun bei den bisherigen Genossen seiner abendlichen Streifzüge
in den Ruf eines Feiglings und Deserteurs, denn er nahm nie wieder an
diesen Gängen teil. Statt dessen las er den Don Carlos, die Gedichte
Emanuel Geibels und die Hallig von Biernatzki, fing ein Tagebuch an und
nahm die Hilfsbereitschaft der guten Babett nur selten mehr in Anspruch.
Diese gewann den Eindruck, es müsse etwas bei dem jungen Manne nicht in
Ordnung sein, und da sie nun einmal eine Art mütterlicher Fürsorge um
ihn übernommen hatte, erschien sie eines Tages an seiner Kammertür, um
nach dem Rechten zu sehen. Sie kam nicht mit leeren Händen, sondern
brachte ein schönes Stück Lyonerwurst mit und drang darauf, daß Karl es
sofort vor ihren Augen verzehre.
»Ach laß nur, Babett,« meinte er, »jetzt hab' ich gerade keinen Hunger.«
Sie war jedoch der Ansicht, junge Leute müßten zu jeder Stunde essen
können, und ließ nicht nach, bis er ihren Willen erfüllt hatte. Sie
hatte einmal von der Überbürdung der Jugend an den Gymnasien gehört und
wußte nicht, wie fern ihr Schützling sich von jeder Überanstrengung im
Studieren hielt. Nun sah sie in der auffallenden Abnahme seiner Eßlust
eine beginnende Krankheit, redete ihm ernstlich ins Gewissen, erkundigte
sich nach den Einzelheiten seines Befindens und bot ihm am Ende ein
bewährtes volkstümliches Laxiermittel an. Da mußte Karl doch lachen und
erklärte ihr, daß er völlig gesund sei und daß sein geringerer Appetit
nur von einer Laune oder Verstimmung herrühre. Das begriff sie sofort.
»Pfeifen hört man dich auch fast gar nimmer,« sagte sie lebhaft, »und es
ist dir doch niemand gestorben. Sag, du wirst doch nicht gar verliebt
sein?«
Karl konnte nicht verhindern, daß er ein wenig rot wurde, doch wies er
diesen Verdacht mit Entrüstung zurück und behauptete, ihm fehle nichts
als ein wenig Zerstreuung, er habe Langeweile.
»Dann weiß ich dir gleich etwas,« rief Babett fröhlich. »Morgen hat die
kleine Lies vom unteren Eck Hochzeit. Sie war ja schon lang genug
verlobt, mit einem Arbeiter. Eine bessere Partie hätte sie schon machen
können, sollte man denken, aber der Mann ist nicht unrecht, und das Geld
allein macht auch nicht selig. Und zu der Hochzeit mußt du kommen, die
Lies kennt dich ja schon, und alle haben eine Freude, wenn du kommst und
zeigst, daß du nicht zu stolz bist. Die Anna vom Grünen Baum und die
Gret vom Bischofseck sind auch da, und ich, sonst nicht viel Leute. Wer
sollt's auch zahlen? Es ist halt nur so eine stille Hochzeit, im Haus,
und kein großes Essen und kein Tanz und nichts dergleichen. Man kann
ohne das vergnügt sein.«
»Ich bin aber doch nicht eingeladen,« meinte Karl zweifelnd, da die
Sache ihm nicht gar so verlockend vorkam. Aber die Babett lachte nur.
»Ach was, das besorg' ich schon, und es handelt sich ja auch bloß um
eine Stunde oder zwei am Abend. Und jetzt fällt mir noch das Allerbeste
ein! Du bringst deine Geige mit. -- Warum nicht gar! Ach, dumme
Ausreden! Du bringst sie mit, gelt ja, das gibt eine Unterhaltung, und
man dankt dir noch dafür.«
Es dauerte nicht lange, so hatte der junge Herr zugesagt.
Am andern Tage holte ihn die Babett gegen Abend ab; sie hatte ein
wohlerhaltenes Prachtkleid aus ihren jüngeren Jahren angelegt, das sie
stark beengte und erhitzte, und sie war ganz aufgeregt und rot vor
Festfreude. Doch duldete sie nicht, daß Karl sich umkleide, nur einen
frischen Kragen solle er umlegen, und die Stiefel bürstete sie trotz des
Staatskleides ihm sogleich an den Füßen ab. Dann gingen sie miteinander
in das ärmliche Vorstadthaus, wo jenes junge Ehepaar eine Stube nebst
Küche und Kammer gemietet hatte. Und Karl nahm seine Geige mit.
Sie gingen langsam und vorsichtig, denn seit gestern war Tauwetter
eingetreten, und sie wollten doch mit reinen Stiefeln draußen ankommen.
Babett trug einen ungeheuer großen und massiven Regenschirm unter den
Arm geklemmt und hielt ihren rotbraunen Rock mit beiden Händen hoch
heraufgezogen, nicht zu Karls Freude, der sich ein wenig schämte, mit
ihr gesehen zu werden.
In dem sehr bescheidenen, weißgegipsten Wohnzimmer der Neuvermählten
saßen um den tannenen, sauber gedeckten Eßtisch sieben oder acht
Menschen in ehrbarer Fröhlichkeit beieinander, außer dem Paare selbst
zwei Kollegen des Hochzeiters und ein paar Basen oder Freundinnen der
jungen Frau. Es hatte einen Schweinebraten mit Salat zum Festmahl
gegeben, und nun stand ein Kuchen auf dem Tisch und daneben am Boden
zwei große Bierkrüge. Als die Babett mit Karl Bauer ankam, standen alle
auf, der Hausherr machte zwei schamhafte Verbeugungen, die redegewandte
Frau übernahm die Begrüßung und Vorstellung und jeder von den Gästen gab
den Angekommenen die Hand.
»Nehmet vom Kuchen,« sagte die Wirtin. Und der Mann stellte schweigend
zwei neue Gläser hin und schenkte Bier hinein.
Karl hatte, da noch keine Lampe angezündet war, bei der Begrüßung
niemand als die Gret vom Bischofseck erkannt. Auf einen Wink Babetts
drückte er ein in Papier gewickeltes Geldstück, das sie ihm zu diesem
Zwecke vorher übergeben hatte, der Hausfrau in die Hand und sagte einen
Glückwunsch dazu. Dann wurde ihm ein Stuhl hingeschoben, und er kam vor
sein Bierglas zu sitzen.
In diesem Augenblick sah er mit plötzlichem Erschrecken neben sich das
Gesicht jener jungen Magd, die ihm neulich in der Brühelgasse die
Ohrfeige versetzt hatte. Sie schien ihn jedoch nicht zu erkennen,
wenigstens sah sie ihm gleichmütig ins Gesicht und hielt ihm, als jetzt
auf den Vorschlag des Wirtes alle miteinander anstießen, ruhig und
freundlich ihr Glas entgegen. Hierdurch ein wenig beruhigt, wagte Karl
sie offen anzusehen. Er hatte in letzter Zeit jeden Tag oft genug an
dies Gesicht gedacht, das er damals nur einen Augenblick und seither
nicht wieder gesehen hatte, und nun wunderte er sich, wie anders sie
aussah. Sie war sanfter und zarter, auch etwas schlanker und leichter
als das Bild, das er von ihr herumgetragen hatte. Aber sie war nicht
weniger hübsch und noch viel liebreizender, und es wollte ihm scheinen,
sie sei kaum älter als er.
Während die andern, namentlich Babett und die Anna, sich lebhaft
unterhielten, wußte Karl nichts zu sagen und saß stille da, drehte sein
Bierglas in der Hand und ließ die Junge, Blonde nicht aus den Augen.
Wenn er daran dachte, wie oft es ihn verlangt hatte, diesen Mund zu
küssen, erschrak er beinahe, denn das schien ihm nun, je länger er sie
ansah, desto schwieriger und verwegener, ja ganz unmöglich zu sein.
Er wurde kleinlaut und blieb eine Weile schweigsam und unfroh sitzen. Da
rief ihn die Babett auf, er solle seine Geige nehmen, und etwas spielen.
Der Junge sträubte und zierte sich ein wenig, griff dann aber schnell in
den Kasten, zupfte, stimmte und spielte alsdann ein beliebtes Lied, das,
obwohl er zu hoch angestimmt hatte, die ganze Gesellschaft sogleich
mitsang.
Damit war das Eis gebrochen, und es entstand eine laute, wennschon sehr
ehrbare Fröhlichkeit um den Tisch. Eine nagelneue kleine Stehlampe ward
vorgezeigt, mit Öl gefüllt und angezündet, Lied um Lied klang in der
Stube auf, ein frischer Krug Bier wurde aufgestellt, und als Karl Bauer
einen der wenigen Tänze, die er konnte, anstimmte, waren im Augenblick
drei Paare auf dem Plan und drehten sich lachend durch den viel zu engen
Raum.
Gegen neun Uhr brachen die Gäste auf. Die Blonde hatte eine Straße lang
denselben Weg wie Karl und Babett, und auf diesem Wege wagte er es, ein
Gespräch mit dem Mädchen zu führen.
»Wo sind Sie denn hier im Dienst?« fragte er schüchtern.
»Beim Kaufmann Kolderer, in der Salzgasse am Eck.«
»So, so.«
»Ja.«
»Ja freilich. So . . .«
Dann gab es eine längere Pause. Aber er riskierte es und fing noch
einmal an.
»Sind Sie schon lange hier?«
»Ein halb Jahr.«
»Ich mein' immer, ich hätte Sie schon einmal gesehen.«
»Ich Sie aber nicht.«
»Einmal am Abend, in der Brühelgasse, nicht?«
»Ich weiß nichts davon. Liebe Zeit, man kann ja nicht alle Leute auf der
Gasse so genau angucken.«
Glücklich atmete er auf, daß sie den Übeltäter von damals nicht in ihm
erkannt hatte; er war schon entschlossen gewesen, sie um Verzeihung zu
bitten.
Da war sie an der Ecke ihrer Straße und blieb stehen, um Abschied zu
nehmen. Sie gab der Babett die Hand und zu Karl sagte sie: »Adieu, denn,
Herr Student. Und danke auch schön.«
»Für was denn?«
»Für die Musik, für die schöne. Also Gutnacht miteinander.«
Karl streckte ihr, als sie eben umdrehen wollte, die Hand hin, und sie
legte die ihre flüchtig darein. Dann war sie fort.
Als er nachher auf dem Treppenabsatz der Babett Gutnacht sagte, fragte
sie: »Nun, ist's schön gewesen oder nicht?«
»Schön ist's gewesen, wunderschön, jawohl,« sagte er glücklich und war
froh, daß es so dunkel war, denn er fühlte, wie ihm das warme Blut ins
Gesicht stieg.
* * * * *
Die Tage nahmen zu. Es wurde allmählich wärmer und blauer, auch in den
verstecktesten Gräben und Hofwinkeln schmolz das alte graue Grundeis
weg, und an hellen Nachmittagen wehte schon Vorfrühlingsahnung in den
Lüften.
Da eröffnete auch die Babett ihren abendlichen Hofzirkel wieder und saß,
so oft es die Witterung dulden wollte, vor der Kellereinfahrt im
Gespräch mit ihren Freundinnen und Schutzbefohlenen. Karl aber hielt
sich fern und lief in der Traumwolke seiner Verliebtheit herum. Das
Vivarium in seiner Stube hatte er eingehen lassen, auch das Schnitzen
und Schreinern trieb er nicht mehr. Dafür hatte er sich ein Paar eiserne
Hanteln von unmäßiger Größe und Schwere angeschafft und turnte damit,
wenn das Geigen nimmer helfen wollte, bis zur Erschöpfung in seiner
Kammer auf und ab.
Drei- oder viermal war er der hellblonden jungen Magd wieder auf der
Gasse begegnet und hatte sie jedesmal liebenswerter und schöner
gefunden. Aber mit ihr gesprochen hatte er nicht mehr und sah auch keine
Aussicht dazu offen.
Da geschah es an einem Sonntagnachmittag, dem ersten Sonntag im März,
daß er beim Verlassen des Hauses nebenan im Höflein die Stimmen der
versammelten Mägde erlauschte und in plötzlich erregter Neugierde sich
ans angelehnte Tor stellte und durch den Spalt hinausspähte. Er sah die
Gret und die fröhliche Margret aus der Binderei dasitzen und hinter
ihnen einen lichtblonden Kopf, der sich in diesem Augenblick ein wenig
erhob. Und Karl erkannte sein Mädchen, die blonde Tine, und mußte vor
frohem Schrecken erst veratmen und sich zusammenraffen, ehe er die Tür
aufstoßen und zu der Gesellschaft treten konnte.
»Wir haben schon gemeint, der Herr sei vielleicht zu stolz geworden,«
rief die Margret lachend und streckte ihm als erste die Hand entgegen.
Die Babett drohte ihm mit dem Finger, machte ihm aber zugleich einen
Platz frei und hieß ihn sitzen. Dann fuhren die Weiber in ihren vorigen
Gesprächen fort. Karl aber verließ sobald wie möglich, scheinbar um sich
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