Diesseits: Erzählungen - 12

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So, ja.«
Es war ihm offenbar nicht sonderlich wohl, und mir auch nicht. Wir
traten in ein kleines Zimmer, wo auf dem weißgedeckten Tisch eine Lampe
brannte und zum Abendessen serviert war.
»Hier also. Meine Bekanntschaft von heute morgen, Julie. Darf ich
vorstellen, Herr -- --«
»Ich kenne Sie,« sagte Julie und erwiderte meine Verbeugung durch ein
Nicken, ohne mir die Hand zu geben.
»Nehmen Sie Platz.«
Ich saß auf einem Rohrsessel, sie auf dem Diwan. Ich sah sie an. Sie war
kräftiger, schien aber kleiner als früher. Ihre Hände waren noch jung
und fein, das Gesicht frisch, aber voller und härter, noch immer stolz,
aber gröber und glanzlos. Ein Schimmer von der ehemaligen Schönheit und
zarten Anmut war noch vorhanden, an den Schläfen und in den Bewegungen
der Arme, ein leiser Schimmer -- --
»Wie kommen Sie denn nach Ilgenberg?«
»Zu Fuß, gnädige Frau.«
»Haben Sie Geschäfte hier?«
»Nein, ich wollte nur die Stadt wieder einmal sehen.«
»Wann waren Sie denn zuletzt hier?«
»Vor zehn Jahren. Sie wissen ja. Übrigens fand ich die Stadt nicht
allzusehr verändert.«
»Wirklich? Sie hätte ich kaum wieder erkannt.«
»Ich Sie sofort, gnädige Frau.«
Herr Herschel hustete.
»Wollen Sie nicht zum Abendessen bei uns vorlieb nehmen?«
»Wenn es Sie gar nicht stört --«
»Bitte sehr, nur ein Butterbrot.«
Es gab jedoch kalten Braten mit Gallerte, Bohnensalat, Reis und gekochte
Birnen. Getrunken wurde Tee und Milch. Der Hausherr bediente mich und
machte ein wenig Konversation. Julie sprach kaum ein Wort, sah mich aber
zuweilen hochmütig und mißtrauisch an als möchte sie herausbringen,
warum ich eigentlich gekommen sei. Wenn ich es nur selber gewußt hätte!
»Haben Sie Kinder?« fragte ich, und nun wurde sie ein wenig
gesprächiger. Schulsorgen, Krankheiten, Erziehungssorgen, alles im
besseren Philisterstil.
»Ein Segen ist ja die Schule trotz alledem doch,« sagte Herschel
dazwischen.
»Wirklich? Ich dachte immer, ein Kind sollte möglichst lange
ausschließlich von den Eltern erzogen werden.«
»Man sieht, Sie selber haben keine Kinder.«
»Ich bin nicht so glücklich.«
»Aber Sie sind verheiratet?«
»Nein, Herr Herschel, ich lebe allein.«
Die Bohnen würgten mich elend, sie waren schlecht entfädet.
Als das Essen abgetragen war, schlug der Mann eine Flasche Wein vor, was
ich nicht ablehnte. Wie ich gehofft hatte, ging er selber in den Keller,
und ich blieb eine Weile mit der Frau allein.
»Julie,« sagte ich.
»Was beliebt?«
»Sie haben mir noch nicht einmal die Hand gegeben.«
»Ich hielt es für richtiger --«
»Wie Sie wollen. -- Es freut mich zu sehen, daß es Ihnen gut geht. Es
geht Ihnen doch gut?«
»O ja, wir können zufrieden sein.«
»Und damals -- sagen Sie mir, Julie, denken Sie nie mehr an damals?«
»Was wollen Sie von mir? Lassen wir doch die alten Geschichten ruhen! Es
ist gekommen, wie es kommen mußte und wie es für uns alle gut war, meine
ich. Sie haben schon damals nicht recht nach Ilgenberg hereingepaßt, mit
allen Ihren Ideen, und es wäre nicht das Richtige gewesen --«
»Gewiß, Julie. Ich will nichts Geschehenes ungeschehen wünschen. Ich
wollte nur irgend ein Wort von damals hören, eine Erinnerung. Sie sollen
nicht an mich denken, gewiß nicht, aber an alles andere, was dazumal
schön und lieb war. Es ist doch unsere Jugendzeit gewesen, und die
wollte ich noch einmal aufsuchen und ihr ins Auge sehen.«
»Bitte, reden Sie von anderem. Für Sie mag es anders sein, aber für mich
liegt zu viel dazwischen.«
Ich sah sie an. Alle Schönheit von damals hatte sie verlassen, sie war
nur noch Frau Herschel.
»Allerdings,« sagte ich grob und hatte nichts dagegen, als nun der Mann
mit zwei Flaschen Wein zurückkam. Die erste Flasche wurde aufgemacht und
ich war nicht verletzt, als Julie das Mittrinken ablehnte.
Es war schwerer Burgunder, und Herschel, der sichtlich kein Weintrinker
war, begann schon beim zweiten Glase anders zu werden. Er fing an, seine
Frau mit mir zu necken. Als sie nicht darauf einging, lachte er und
stieß sein Glas an meines.
»Zuerst wollte sie Sie gar nicht ins Haus haben,« vertraute er mir an.
Julie stand auf.
»Entschuldigen Sie, ich muß nach den Kindern sehen. Das Mädel ist noch
immer nicht ganz wohl.«
Damit ging sie hinaus, und ich wußte, sie würde nicht zurückkommen. Ihr
Mann machte zwinkernd die zweite Flasche auf.
»Sie hätten das vorher nicht sagen dürfen,« warf ich ihm vor.
Er lachte nur.
»Lieber Gott, so grätig ist sie schließlich nicht, daß sie das
übelnimmt. Trinken Sie doch! Oder schmeckt Ihnen der Wein nicht?«
»Der Wein ist gut.«
»Nicht wahr? Ja, sagen Sie, wie war denn das nun damals mit Ihnen und
meiner Frau? Kindereien, was?«
»Kindereien. Doch tun Sie besser, nicht davon zu reden.«
»Gewiß -- freilich -- ich will ja nicht indiskret sein. Zehn Jahre ist
es her, nicht?«
»Verzeihen Sie, ich muß es vorziehen jetzt zu gehen.«
»Warum denn schon?«
»Es ist besser. Vielleicht sehen wir uns ja morgen noch.«
»Na, wenn Sie durchaus gehen wollen --. Warten Sie, ich leuchte Ihnen.
Und wann kommen Sie morgen?«
»Nach Mittag, denke ich.«
»Also gut, zum schwarzen Kaffee. Ich begleite Sie ins Hotel. Nein, ich
bestehe darauf. Wir können ja dort noch etwas zusammen nehmen.«
»Danke, ich will zu Bett, ich bin müde. Empfehlen Sie mich Ihrer Frau,
bis morgen.«
Vor der Haustür schob ich ihn ab und ging allein davon, über den großen
Marktplatz und durch die stillen dunkeln Straßen. Ich lief noch lange in
der kleinen Stadt herum, und wenn von irgend einem alten Dach ein Ziegel
gefallen wäre und hätte mich erschlagen, so wäre es mir auch recht
gewesen. Ich Narr! Ich Narr!

Nebel
Am Morgen wachte ich zeitig auf und beschloß, sogleich weiter zu
wandern. Es war kalt und ein Nebel lag so dicht, daß man kaum über die
Straße sah. Frierend trank ich Kaffee, bezahlte Zeche und Nachtlager und
ging mit langen Schritten in die dämmernde Morgenstille hinein.
Rasch erwarmend ließ ich Stadt und Gärten hinter mir und drang in die
schwimmende Nebelwelt. Das ist immer wunderlich ergreifend zu sehen, wie
der Nebel alles Benachbarte und scheinbar Zusammengehörige trennt, wie
er jede Gestalt umhüllt und abschließt und unentrinnbar einsam macht. Es
geht auf der Landstraße ein Mann an dir vorbei, er treibt eine Kuh oder
Ziege oder schiebt einen Karren oder trägt ein Bündel, und hinter ihm
her trabt wedelnd sein Hund. Du siehst ihn herkommen und sagst Grüß
Gott, und er dankt; aber kaum ist er an dir vorbei und du wendest dich
und schaust ihm nach, so siehst du ihn alsbald undeutlich werden und
spurlos ins Graue hinein verschwinden. Nicht anders ist es mit den
Häusern, Gartenzäunen, Bäumen und Weinberghecken. Du glaubtest die ganze
Umgebung auswendig zu kennen und bist nun eigentümlich erstaunt, wie
weit jene Mauer von der Straße entfernt steht, wie hoch dieser Baum und
wie niedrig jenes Häuschen ist. Hütten, die du eng benachbart glaubtest,
liegen einander nun so ferne, daß von der Türschwelle der einen die
andere dem Blick nicht mehr erreichbar ist. Und du hörst in nächster
Nähe Menschen und Tiere, die du nicht sehen kannst, gehen und arbeiten
und Rufe ausstoßen. Alles das hat etwas Märchenhaftes, Fremdes,
Entrücktes, und für Augenblicke empfindest du das Symbolische darin
erschreckend deutlich. Wie ein Ding dem andern und ein Mensch dem
andern, er sei wer er wolle, im Grunde unerbittlich fremd ist, und wie
unsere Wege immer nur für wenig Schritte und Augenblicke sich kreuzen
und den flüchtigen Anschein der Zusammengehörigkeit, Nachbarlichkeit und
Freundschaft gewinnen.
Verse fielen mir ein und ich sagte sie im Gehen leise vor mich hin:
Seltsam, im Nebel zu wandern!
Einsam ist jeder Busch und Stein,
kein Baum sieht den andern,
jeder ist allein.
Voll von Freunden war mir die Welt,
als noch mein Leben licht war;
nun, da der Nebel fällt,
ist keiner mehr sichtbar.
Wahrlich, keiner ist weise,
der nicht das Dunkel kennt,
das unentrinnbar und leise
von Allen ihn trennt.
Seltsam, im Nebel zu wandern!
Leben ist Einsamsein.
Kein Mensch kennt den andern,
jeder ist allein.
Ende
Buchdruckerei Roitzsch, G. m. b. H., Roitzsch


Anmerkungen zur Transkription
Der Originaltext ist in Fraktur gesetzt. Hervorhebungen, die im
Original g e s p e r r t sind, wurden mit Unterstrichen wie _hier_
gekennzeichnet. Fremdsprachige Textstellen, die im Original in Antiqua
gesetzt sind, wurden ^so^ markiert.
Einfache Anführungszeichen wurden durch ">" und "<" ersetzt.
Offensichtliche Druckfehler wurden korrigiert wie hier aufgeführt
(vorher/nachher):
[S. 14]:
... geschwisterlich hin und wieder. Das geht doch ...
... geschwisterlich hin und wider. Das geht doch ...
[S. 18]:
... mit der Mutter ...
... mit der Mutter. ...
[S. 46]:
... Am Nachmitag aber, während ihm auf seine ...
... Am Nachmittag aber, während ihm auf seine ...
[S. 52]:
... Staub fielen ...
... Staub fielen. ...
[S. 144]:
... ungleich und träumend hin und wieder, der Himmel ...
... ungleich und träumend hin und wider, der Himmel ...
[S. 150]:
... herzlich hatte lachen hören. Er war ein Esel gegewesen, ...
... herzlich hatte lachen hören. Er war ein Esel gewesen, ...
[S. 189]:
... wie das andre, sondern er zog die Märchen und und Sagen ...
... wie das andre, sondern er zog die Märchen und Sagen ...
[S. 198]:
... Abendhimmel noch in schwachem mildblauen ...
... Abendhimmel noch in schwachem mildblauem ...
[S. 204]:
... ließ er weg, aber die Babett fügte ein solche aus ...
... ließ er weg, aber die Babett fügte eine solche aus ...
[S. 211]:
... »Dann weiß ich dir gleich etwas,« rief Babette ...
... »Dann weiß ich dir gleich etwas,« rief Babett ...
[S. 213]:
... Babette trug einen ungeheuer großen und massiven ...
... Babett trug einen ungeheuer großen und massiven ...
[S. 243]:
... und Pflichten des alltäglichen Lebens teilnahmlos ...
... und Pflichten des alltäglichen Lebens teilnahmslos ...
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