Die Chronik der Sperlingsgasse - 08

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Zwitschernd hüpft Flämmchen auf Elisens Hand. Sie nimmt ihm den Zettel
ab, und in einer weitbeinigen Knabenhandschrift lautet die Botschaft:
»Lise!
Da ich mich vor morgen bei Euch nicht zu zeigen wage und noch
dazu leider gezwungen bin (scheußlich!) 3 Seiten, schreibe drei
Seiten, voll lateinischen Unsinns zu übersetzen (ich möchte nur
wissen, wozu ein Maler, und ich _will_ einer werden, Latein
braucht?????) so bitte ich Dich, den Onkel (_Du brauchst ihm
diesen Brief nicht zu zeigen_) ebenso auf seinem Lehnstuhl
festzubinden, wie ich die alte Martha festgebunden habe und
#sobald als möglich# vor die Tür zu kommen. -- Ich will Dir mal
was Wichtiges sagen.
Gustav.
^P. Scr.^ Ich passe auf, und wenn ich Deine Nasenspitze sehe,
schleiche ich an den Häusern hin zu Euerer Tür! Komme bald!!
^P. Scr.^ Bring Deine Korbtasche mit!«
»Was mag er nur wollen?« fragt Lischen, die schon nach dem Nagel guckt,
an welchem ihre Tasche hängt, während ich trotz des warnenden Passus den
Brief des Übeltäters und seine echte Tertianerlogik studiere. Es ist
prächtig: _weil_ ich ein Exerzitium von bedenklichster Länge machen muß
-- _so komme sobald als möglich!_ Und dann die kleine Heuchlerin, die
recht gut weiß, was der Faulpelz will!
»Was für einen Tag haben wir heute, Lischen?«
»Ah -- Sonnabend!« ruft Elise. »Jetzt weiß ich's! Er hat sein
Taschengeld gekriegt.«
»Welches eigentlich die alte Martha konfiszieren müßte. Höre, Lischen;
schreib ihm als Bedingung Deines Kommens vor, daß die >scheußliche<
Arbeit fertig sein müsse.«
»Wie lange dauert das wohl, Onkel?« fragte die Lise ganz bedenklich; sie
zöge das »Sobald als möglich« unbedingt vor.
»Nun -- zwei Stunden, mindestens.«
»Oh, oh zwei Stunden?!«
»Ja, und dann wimmelt sie doch noch von Fehlern, einer immer schlimmer
als der andre.«
»Onkel, Gustav sagt aber: je länger er an einer Arbeit säße, desto mehr
Böcke mache er.«
»Nun denn, wenn er das sagt, so soll er sie fürs erste nur fertig machen
und mit herüberbringen. Schreib ihm das.«
Elise stellt jetzt eine große Auswahl unter meinen Federn an und beklagt
sich sehr über »unsere« schlechte Tinte; während Flämmchen, auf einer
Stuhllehne sitzend, anfangs geduldig wartet, dann aber, als ihm die
Sache zu lange dauert, sich bemüht, über dem Tisch flatternd, ebenfalls
in das Tintenfaß zu schauen, um den Grund der Zögerung zu erfahren.
Endlich jedoch ist Elise mit ihren Vorbereitungen fertig und schreibt:
»Lieber Gustav!
Dein Brief ist glücklich angekommen. Flämmchen hat ihn gebracht.
Die alte Martha hat einen nassen Waschlappen im Fenster liegen;
sie will Dich tüchtig waschen, wenn Du kommst. Den Onkel kann
ich nicht festbinden, er rennt heute immer in der Stube auf und
ab und sitzt keinen Augenblick still. Du sollst erst Dein
Exerzitium fertig machen und es mitbringen, eher soll ich nicht
kommen! Mach schnell!!! Meine Tasche bringe ich mit!
Elise.«
Auch diese Botschaft wird dem Flämmchen umgehängt; die Praxis hat es
gelehrig gemacht; zwitschernd schüttelt es das Köpfchen, als wolle es
sagen, nun ist's aber genug, jetzt komme ich nicht wieder, und --
verschwunden ist's. Elise sitzt wartend vor ihrem Nähtischchen unter der
Efeulaube, ich vertiefe mich wieder in meine Bücher, aber keine halbe
Stunde vergeht, da ertönt unterm Fenster ein heller Pfiff, und Elise
springt auf und schaut hinaus.
»Da ist er schon!« ruft sie halb zurück mir zu.
»Komm herauf, Gustav!« ruft sie hinunter.
»Dieses weniger!« erschallt unten die Schülerredensart, und mich wundert
wirklich, daß der Bengel diesmal nicht die noch dazu gehörende weise
Benachrichtigung damit verbindet: Aber mein Bruder bläst die Flöte.
»Hast Du Dein Exer?« (^scilicet citium^) ruft Elise.
»Versteht sich; fix und fertig, komm herunter, Du kannst es _ihm_
hinaufbringen.«
Elise sieht mich fragend an, und ich nicke. Herunter ist sie wie der
Blitz, und ich gehe ans offene Fenster, hüte mich aber wohl, etwas von
meiner werten Persönlichkeit sehen zu lassen.
»Du bist aber schnell damit fertig geworden, Gustav!« sagt Elise, und
ich stelle mir eben lebhaft vor, wie der Schlingel grinst, als er ihr
sein Machwerk einhändigt.
»Mit Geduld und Spucke
Fängt man jede Mucke!«
lautet die Antwort: »Hier, nimm Dich in acht, es ist noch naß; und höre,
Lischen -- komm schnell wieder herunter, eh er hineingeguckt hat; er
könnte mich noch zurückrufen!«
»Taugenichts! das mag was schönes sein!« moralisiert Elise, die ich nun
die Treppe heraufkommen höre.
»Da ist's, Onkel!« ruft sie in die kaum handbreit geöffnete Tür, wirft
das edle Manuskript auf den nächsten Stuhl, schlägt die Tür zu, und --
in drei Sätzen ist sie die Treppe hinunter.
»Lise, Lischen, Elise!« rufe ich, aber wer nicht hört, ist Fräulein
Elise Johanne Ralff.
»Komm schnell, er ruft schon!« sagt unten der Schlingel, sie am Arm
fassend, und fort sind sie um die Ecke!
Da liegt nun das blaue Heft, auf dem Umschlag: »Gustav Berg« und drunter
die geniale Übersetzung ^Gustavus Mons^ mit Angabe von Wohnort, Datum
und Jahreszahl. Ich schlage es auf, und es ist in der Tat zweifelhaft,
ob der Kollaborator Besenmeier es mit roter Tinte, oder ob es Meister
^Gustavus Mons^ mit schwarzer geschrieben hat. -- Hier sind die neuesten
Seiten. Reizend! ^Ita uno tempore quatuor locibus^ (Schlingel!)
^pugnabatur etc. etc.^ Als Schulmeister müßte ich ausrufen: »Was _soll_
aus dem Jungen werden?« Als Nichtschulmeister aber halte ich mich an das
-- Löschblatt und rufe aus: »Was _kann_ aus dem Jungen werden!« -- Hier
»an vier Orten« schlagen sie ebenfalls Römer, Karthager, Mazedonier,
Sarden, und zwar besser als im Latein: Pferde, Menschen, ^Hannibal ante
portas^, Triarier, Veliten, Prinzipes! Ausgezeichnet! Ich werde dem
Schlingel eine tüchtige Rede halten sowohl über seine »^locibus^« als
auch über die Unverschämtheit, ein Heft mit solch beschmiertem
Löschblatt drin »abliefern« zu wollen. Das letztere aber werde ich
konfiszieren, und Zeichenstunde soll der Junge auch haben; dieser
Signifer hat doch etwas zu lange Arme.
Eine halbe Stunde sitze ich nun noch arbeitend, dann schlägt es auf der
Sophienkirche Sechs. Ich weiß nicht, ist es das schlechte Beispiel,
welches mir da eben gegeben wurde, oder der blaue Sommerhimmel und die
Sonne draußen; auf meinem Papier rücke ich nicht weiter, wohl aber
unruhig auf dem Stuhle hin und her. Elise hat übrigens auch recht:
»unsere« Tinte ist wirklich abscheulich. Ich schlage meine Bücher zu,
ziehe den Rock an und gehe den Tönen eines Fortepianos nach, welche von
drüben herüberklingen. Wenn ich in Nr. Zwölf die Treppe hinaufgestiegen
bin, so finde ich dort in dem einfach aber hübsch ausgestatteten Zimmer
des ersten Stockes eine Dame vor dem Klavier sitzen, die mir freundlich
zunickt, ohne sich in ihren Phantasien stören zu lassen. Ich setze mich
neben die Rosen- und Resedatöpfe im Fenster, der Musik lauschend, und
kann dabei zugleich einen musternden Blick über das Zimmer gleiten
lassen. Hier gleich neben mir unter den Blumen steht Flämmchens
Messingbauer, in welchem der kleine Vogel bereits auf der Stange sitzt,
und das Köpfchen unter den Flügel gezogen hat. Müde von den
Anstrengungen des Tages, ist er früh zu Bett gegangen. Im zweiten
Fenster, mir gegenüber, steht ein ähnliches Nähtischchen wie das, vor
welchem ich sitze; ein Stickrahmen mit angefangener Arbeit liegt darauf.
Das ist Elisens Platz; auch sie hat wie Flämmchen hier eine zweite
Behausung. Zwischen beiden Fenstern, gegen das Licht gezogen, macht sich
ein einst rot bemalt gewesener Tisch breit; bedeckt mit Büchern,
Schreibzeug, Heften, Federmessern usw. usw.; bekritzelt, zerschnitten,
zerhackt, ist er der Schauplatz von Gustavs »stillen Freuden«.
Hier brütet das Genie über seinen »^locibus^«, den Kopf auf beide Fäuste
gestützt und in den Haaren wühlend; hier füllen sich die Blätter mit
Fratzen aller Art, statt mit lateinischen Phrasen; hier werden alle die
Dummheiten ausgebrütet, welche die Gasse in Verwunderung und Verwirrung
setzen sollen; hier werden mit dem demütigsten Gesicht, der reuevollsten
Miene, die Ermahnungen und Vorwürfe, welche die Mutter von ihrem Thron
herab auf das Haupt des Taugenichts der Sperlingsgasse schüttet, in
Empfang genommen und richtig quittiert durch -- einen tollen Streich,
eine Viertelstunde nachher; hier, kurz hier -- ist Gustav Bergs
Schreibtisch!
Als die Tante Helene ihr Spiel beendet hat, erzähle ich ihr die
Geschichte des Katzendiners, von dem sie natürlich noch nicht das
mindeste weiß.
»Ich kann ihn nicht bändigen!« ruft sie halb lachend, halb in
Verzweiflung aus. »Und die Elise verdirbt er mir auch ganz! Statt zu
sticken und Vokabeln aufzuschlagen, schießen sie sich mit Papierkugeln;
wenn er ihr einen Käfer in den Nacken gleiten läßt, bin ich sicher, daß
sie ihm einen Zopf ansteckt oder einen Eselskopf auf den Rücken malt.
Ich spreche und schelte mich heiser und müde, aber es hilft nichts!
>Tante, er hat angefangen, ich saß ganz ruhig!< >Mutter, 's ist nicht
wahr, sie hat zuerst geschossen!< So geht das den ganzen lieben Tag! Wo
mögen sie nur jetzt wieder stecken?«
»Wenn man den Wolf an die Wand malt, so kommt er um die Ecke!« sagt das
Sprichwort, und unsere Altvordern wußten, was sie taten, als sie es
aufbrachten. Mit Helenens Frage öffnet sich die Tür, oder vielmehr, sie
wird aufgerissen, und herein, hochrot, stürzen -- Windbeutel und
Wildfang! Kaum erblickt mich aber Freund Gustav, so macht er Kehrt und
sucht schleunigst die Tür wiederzugewinnen, glücklicherweise aber bin
ich diesmal schneller.
»Halt, Meister! hiergeblieben!«
»Ja, hiergeblieben, Gustav!« ruft die Mutter.
Ich beginne nun das Verhör.
»Wie alt bist Du jetzt, Gustav? Antwort!«
»Vierzehn und ein halb!«
»Welchen Platz in der Klasse hast Du jetzt?«
»Ich bin der Vierundzwanzigste von oben!«
»Und von unten?«
»Der -- der -- der Fünfte!« -- (Pause.)
Ich lege nun ein Gesicht an wie Zeus Kronion, wenn's lange heiß gewesen
ist, und er donnern will, und beginne eine Rede, die anfängt: Als ich in
Deinem Alter war (wie ^Nota bene^ alle Väter und Erzieher beginnen, seit
Adam seinen Erstgeborenen »rüffelte«); ich flechte die Milchgeschichte
ein, gehe dann zu den »^locibus^« in der letzten Arbeit über, bringe
einen kleinen Seitenhieb auf Elise an und ende, indem ich die
rührend-pathetische Seite -- den Kummer der Mutter -- herauskehre.
Während der ganzen Dauer dieser »Pauke« hat mein Missetäter, bald
auf dem einen, bald auf dem andern Fuß stehend, mit einem
dummpfiffigreuigwehmütigen Gesicht angestrengt einen Punkt oben an der
Decke, der ihm sehr merkwürdig erscheinen muß, ins Auge gefaßt. Kaum
aber habe ich geendet, so verliert auch besagter Punkt alles Interesse
für den Schlingel, »die Erde hat ihn wieder«, er schiebt sich hinter
Elise, die fortwährend mit ihrer Schürze zu tun gehabt hat, und dann zu
seiner Mutter, die ihm bemerkt:
»Siehst Du; ich hab's Dir oft gesagt, aber auf _mich_ hörst Du nicht.
Wie heiß Ihr seid! Geh' aus dem Zugwind, Elise, Kind, Du erkältest Dich!
Wo habt Ihr eigentlich gesteckt?«
»Wir sind nur auf dem Fontänenplatz gewesen!« sagt Elise, mit dem Rücken
der Hand über den Mund fahrend.
»So! -- Und was habt Ihr da gemacht?«
»Wir haben die Goldfische gefüttert!«
»Die Goldfische?! -- Gustav, wieviel von Deinem Taschengeld hast Du
noch?«
Bei dieser Wendung des Gesprächs steht Gustav auf einmal wieder auf
einem Bein und scheint sehr zu bedauern, daß er sich nicht wie die Gänse
mit dem andern hinterm Ohr kratzen kann. Langsam fährt er mit der Hand
in die Tasche, besinnt sich aber und zieht sie schnell zurück.
»Nun?!«
»Hast Du's mir zum Ausgeben gegeben, Mama?« fragt der Schlingel, den
seine Erziehung Weiberlogik kennen gelehrt hat.
»Freilich -- aber -- aber« -- -- --
»Nun, ausgegeben hab' ich's! Lise kann es bezeugen!«
»Ja, das _kann ich_!« ruft Lischen ganz eifrig. »Darüber braucht Ihr ihn
nicht auszuschelten!«
Ich komme jetzt der bedrängten Tante zu Hilfe.
»Ausgeben kann er's freilich, aber das >Wie< ist jetzt die Frage. Was
habt Ihr mit dem Gelde angefangen?«
Das Paar sieht sich stumm an. Plötzlich greift Lise in die Tasche, zieht
einen Kirschkern hervor und schnellt ihn Gustav an die Nase. Die Frage
ist gelöst.
»Ach so!« ruft die Tante Berg. »Nun, es ist gut, daß es fort ist, so
kann er wenigstens nicht wieder Zigarren dafür kaufen, wie in der
vorigen Woche.«
Auch ich bin ganz damit einverstanden, während Elise den Vetter mit dem
Ellenbogen in die Seite stößt und ihm zuflüstert: »Warte nur, morgen
kriege ich meins!«
* * * * *
Glückliche Kindheit! Alle späteren Lebensalter, die eine einsame Minute
fröhlich verträumen wollen, lassen dich vor sich aufsteigen, und ich --
der alternde Greis fülle diese Bogen mit längst vergangenen, längst
vergessenen Kindergedanken und Kindersorgen! Träumt nicht sogar die
Menschheit von einem »goldenen Zeitalter«, einer längst untergegangenen
glücklichen Kinder-Welt?


Am 28. Februar.

Es ist gar kein übler Monat dieser Februar, man muß ihn nur zu nehmen
wissen! -- Da ist erstlich die ungeheuere Merkwürdigkeit der fehlenden
Tage. Wie habe ich mir einst, vor langen Jahren, den Kopf über ihr
Verbleiben zerbrochen. Jeder andere Monat paßte aufs Haar mit
Einunddreißig auf den Knöchel der Hand, mit Dreißig in das Grübchen, und
nur dieser eine Februar -- 's war zu merkwürdig! -- Das ist ein Stück
aus der formellen Seite der Vorzüge dieses Monats, jetzt wollen wir aber
auch die inhaltvolle in Betrachtung ziehen. Was ist an diesem Regen
auszusetzen? Tut er nicht sein möglichstes, die Pflicht eines braven
Regens zu erfüllen? Macht er nicht naß, was das Zeug halten will und
mehr? Der alte Marquart in seinem Keller ist freilich übel daran, seine
Barrikaden und Dämme, die er brummend errichtet, werden weggeschwemmt,
seine Treppe verwandelt sich in einen Niagarafall. Alles, was Loch
heißt, nimmt der Regen von Gottes Gnaden in Besitz. Immer ist er da;
seine Ausdauer grenzt fast an Hartnäckigkeit! Man sollte meinen, nachts
würde er sich doch wohl etwas Ruhe gönnen. Bewahre! Da pladdert und
plätschert er erst recht. Da wäscht er Nachtschwärmer von außen, nachdem
sie sich von innen gewaschen haben; da wäscht er Doktoren und Hebammen
auf ihren Berufswegen; da wäscht er Kutscher und Pferde, Herren und
Damen -- maskiert und unmaskiert, da wäscht er Katzen auf den Dächern
und Ratten in den Rinnsteinen; da wäscht er Nachtwächter und
Schildwachen selbst in ihrem Schilderhaus. Alles was er erreichen kann,
wäscht er! Kurz: »Bei Tag und Nacht allgemeiner Scheuertag, und
Hausmütterchen Natur so unliebenswürdig, wie nur eine Hausfrau um drei
Uhr nachmittags an einem Sonnabend sein kann.« Das ist das Bulletin des
Februars, den man einst ^mensis purgatorius^ nannte. -- Jetzt finde ich
auch einen Vergleich für das Aussehen der großen Stadt. Lange genug hab'
ich mich besonnen, keiner schien passend. Nun aber hab' ich's! Aufs Haar
gleicht sie einem unglücklichen Hausvater, welchen die Fluten des
sonnabendlichen Scheuerns auf einen Stuhl am kalten Ofen geschwemmt
haben, wo er sitzt -- ein neuer Robinson Crusoe -- mit Kind, Hund, Katze
und Dompfaffenbauer, die Beine auf einen hohen Schemel stehend und die
Schlafrockenden herabhängend in die Wogen.
Brr! -- Das ist mal wieder ein Wetter, um in alten Mappen zu wühlen, und
ich wühle auch darin schon seit geraumer Zeit! Da muß ein Brief sein,
den ich trotz aller Mühe nicht finden kann, und der doch eigentlich
schon früher der Chronik hätte eingelegt werden sollen. Briefe mit
späterem Datum von derselben Hand finde ich genug; sie berichten von
Kindtaufen, und einer auch von dem Hinscheiden eines ehrwürdigen Pudels,
»Rezensent« genannt. Ich möchte aber gern ein älteres Schreiben haben,
welches noch nicht von Kindtaufen erzählt! Gottlob, hier ist's! Die
Chronik hätte es, wie gesagt, viel früher aufnehmen müssen, aber was
tut's. Je älter _solche_ Briefe werden, je älter ihr Schreiber selbst
geworden ist, desto frischer klingen sie!
Hier ist das Skriptum:
»Unter Verantwortlichkeit der Redaktion.«
_Liebe und Getreue!_
Eben hatte ich diesen Anfang >Liebe und Getreue< gemacht, als sich auf
einmal ein kleines Patschhändchen auf meine Schulter legte, ein brauner
Lockenkopf sich vorbeugte, und ein Stimmchen ganz fein sagte:
>Erlaube, liebes Kind (>liebes Kind,< das bin ich, der Dr. Wimmer) --
erlaube, liebes Kind, an was für ein Frauenzimmer willst Du da
schreiben?< Ich sah verwundert auf und erblickte -- eine kleine runde
Dame (sie sitzt neben mir und zieht mich für das >rund< tüchtig am Ohr),
die ein allerliebstes Mäulchen machte:
>Liebes Kind ich möcht's halt gern wissen!<
>Sollst Du auch, Schatz,< sagte ich lachend. Gib acht, es ist eine
seltsame Geschichte! -- Es war einmal ein Mann, der lief in der Welt
herum, und die Leute nannten ihn Dr. Heinrich Wimmer; einige freilich
titulierten ihn auch >Esel< oder so. Das waren aber nur die, welchen er
dasselbe Epitheton gegeben hatte -- was er oft sogar schriftlich,
Schwarz auf Weiß, tat. Gut, dieser Mensch hatte eigentlich nur wenig
wahre Freunde (Bekannte genug), denn er war so eine Art von Vagabond,
wenn auch nicht in der schlimmsten Bedeutung des Worts. Er war ein
Literat. Zu den Freunden, die ihn ertrugen und nicht >Esel< nannten,
gehörte erstens ein Schulmeister Namens Roder, zweitens ein ältlicher
Herr, Wachholder genannt, und drittens -- ein junges Mädchen (beruhige
Dich, Nannette, sie war höchstens elf Jahre alt, als wir schieden),
Namens Elise Ralff. Wir wohnten in einer großen Stadt, wo es viel Staub
gibt, und aus der sie mich, höchst wahrscheinlich aus Sorge um meine
Gesundheit, wegjagten, weil jener Staub mich stets zum Husten brachte,
ziemlich dicht zusammen, und betrugen uns gegeneinander, wie gute
Freunde sich betragen müssen. Sogar der Pudel Rezensent, mein vierter
Freund, fühlte oft eine menschliche Rührung darüber; wie es in der Tat
ein vortreffliches Vieh ist, was Du auch dagegen sagen magst, Nannerl!
Und nun höre -- grimme Othelloin, das »Liebe und Getreue« gilt den
_drei_ Freunden und >halt< nicht einem Frauenzimmer, Du Eifersucht!
Da wir nun aber einmal dabei sind, so laß Dir auch weiter erzählen,
liebe Nannette. Mit diesen Freunden lag ich an dem Tage, an welchem ich
den letzten Staub von den Füßen über jene Sand-Stadt schüttelte, in
einem Holze, wo wir den ganzen Tag über Vogelnester gesucht, Blumen
gepflückt und Märchen erzählt hatten, als auf einmal ein Gefühl
bodenloser Einsamkeit und moralischen Katzenjammers u. s. w. u. s. w.
über mich kam. Da stieg plötzlich, mitten im grünen Walde, wo die Vögel
so lustig sangen, und die Sonne so hell und fröhlich durch die Zweige
schien, ein Gedanke in mir auf, ein Gedanke an ein kleines hübsches
Mädchen, mit welchem ich einst zusammen gespielt, und an das ich oft,
oft gedacht hatte in späteren Jahren. -- Daran aber dacht' ich in dem
Augenblick nicht, daß zwischen dem Kinderspiel und dem Waldtage so lange
Zeit lag; -- ich dachte -- ich dachte: Heinrich warum gehst du nicht
nach München, wo du geboren bist, wo dein Onkel Pümpel, wo dein --
kleines liebes Mühmchen Nannette wohnt?
Wie ein Lichtstrahl, viel heller und fröhlicher als die Sonne --
durchzuckte mich das, ich sprang auf, warf den Hut in die Luft und
schrie: >Hurra, ich gehe nach München zu meinem Onkel Pümpel, zu meiner
Cousine Nannerl!< -- Die Freunde sahen mich verwundert und lächelnd an,
und der Lehrer Roder sagte: >Junge, das wäre prächtig, wenn Du -- solide
würdest!<
(Gib mir einen Kuß, Schatz, und ich erzähle weiter.)
Sieh', da wand die kleine Lise Ralff dem Pudel einen hübschen
Waldblumenkranz um den Pelz, sie drückten mir alle die Hand -- das
kleine Mädchen weinte sogar -- und -- -- -- ich ging nach München.
Lange Jahre waren hingegangen, seit ich meine Vaterstadt nicht gesehen
hatte, und ganz wehmütig gestimmt, schritt ich in der Abenddämmerung
durch die alten bekannten Gassen der Altstadt. Da lag das Haus meiner
Eltern; -- Fremde wohnten darin. Ich lugte durch die Ritze eines
Fensterladens und sah zwei Kinder, die allein am Tische bei der Lampe
saßen; sie waren sehr eifrig in ein Gänsespiel vertieft, und ich dachte
an unsere Jugend, Nannerl, und das Herz ward mir immer schwerer, --
Seidelgasse Nr. 20, da stand ich nun vor einem andern Haus. Dort hing
ein altes wohlbekanntes Schild: >^Pümpel's Buchhandlung^< darauf gemalt.
Der Laden war bereits geschlossen, der Onkel jedenfalls schon im
Hofbräuhaus; ein Lichtschein erhellte noch die Fenster des obern
Stockwerks.
Ich wagte kaum die Klingel zu ziehen. Endlich tat ich's aber doch. Mein
Gott, ebenso jämmerlich klang die Glocke schon vor zehn Jahren.
Schlürfende Schritte näherten sich -- die Tür ging auf; wahrhaftig da
war sie noch, die dicke Waberl, eher jünger als älter! Der Pudel und ich
hätten sie beinahe über den Haufen geworfen; sie kannte mich nicht und
stand starr vor Schrecken und Verwunderung, als ich mit meinem
vierbeinigen Begleiter in zwei Sätzen die Treppe hinauf war.
Eine kleine runde ... (Au, mein Ohr! Hör' einmal, Nannette, das ist das
Ohr, in welches es bei mir >hineingeht<, was wird das für eine Ehe
abgeben, wenn Du mir das abkneifst. Nannette, ich würde in Deiner Stelle
mal das andere, zu welchem es >herausgeht<, nehmen!) Dame trat mir
entgegen:
>Der Vater ist nicht zu Haus, mein Herr!< -- -- -- Ich antwortete nicht,
sondern nahm ihr das Licht aus der Hand, -- die kleine runde Dame
erschrak ebenfalls gar sehr, -- und hielt es so, daß mir der Schein voll
ins Gesicht fiel.
>Herr Gott, der Vetter Heinrich!< rief die kleine rrr Dame (Nannette,
sag' mal, ich glaube, ich habe Dir in dem Augenblick einen Kuß gegeben?)
>O welch' abscheulicher Bart -- -- und eine Brille trägt er auch!
Waberl, Waberl, schnell nach dem Bräuhaus: der Vetter Wimmer sei da!<
Ja, er war da, der Vetter Heinrich Wimmer, und der alte Onkel kam auch;
er umarmte den Landläufer und steckte ihn in seinen Sonntagsschlafrock;
er wollte -- -- ja, was wollte er nicht alles! Der Pudel sprang wie toll
und machte sogleich, als ein vernünftiger Köter, Freundschaft mit dem
dicken Pümpelschen Kater Hinz.
Und dann -- dann ward ich Redakteur der >Knospen<, unter der Bedingung,
den fatalen politischen Husten vorher erst auszuschwitzen; dann ward ich
von Deinem Papa, meinem guten, dicken, vortrefflichen Onkel in den
deutschen Buchhandel >eingeschossen<, und dann -- -- -- Nun, Nannette,
und dann? -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- _Meine
Herren und Freunde, was hab' ich Ihnen da geschrieben!_ -- So geht's,
wenn man verlobt ist und neben seiner Braut einen Brief schreiben will!
Die reine Unmöglichkeit! Statt eines soliden, nach allen Regeln der
Logik und Briefschreibekunst abgefaßten Berichts, schmiere ich Ihnen
meine Unterhaltung mit dem Frauenzimmer. 's ist göttlich!
Nun -- was tut's? Die Hauptmomente meiner Geschichte habt Ihr doch bei
der Gelegenheit erfahren. Ich habe eine neue Seite meines Lebens
aufgeschlagen; und wer hat diese ^vita nuova^ bewirkt? Der edle
Polizeikommissar Stulpnase nebst seinen Myrmidonen und -- meine kleine
Beatrice, genannt Nannette Pümpel! Gesegnet sei das Haus ^Pümpel et
Comp.^ bis ins tausendste Glied!! --
Ich schließe. Meine ^gentilissima^ verlangt ebenfalls Platz auf diesem
Bogen. Mich soll's wundern, was sie schreiben wird, ihre Augen leuchten
gar arglistig.
Dr. Wimmer.
_Liebe, kleine Elise!_
Obgleich wir uns noch nicht mit Augen gesehen haben, so kann ich doch
halt nicht unterlassen, Dir, Herz, diesen ganz kleinen Brief zu
schreiben, der böse Mensch hat nicht viel Raum übergelassen. So ganz
böse freilich ist er doch nicht, denn er hat mir viel Gutes und Schönes
von Dir erzählt, aber sage doch den beiden Herren, die ich auch nicht
kenne, daß sie das törichte Zeug, was er alles geschrieben hat, halt
nicht alles glauben. Ich hab' ihn durchaus nicht so viel ins Ohr
gekneift, als er sagt. -- Liebes Kind, Ihr müßt uns einmal alle
besuchen. Ich habe zwei Kanarienvögel und einen Stieglitz, der sich sein
Futter selbst herauf zieht. Ich hätte Dir gern eins von den Vögelchen
geschickt, aber der Onkel Doktor meint, sie könnten das Fahren nicht
vertragen, das könnte selbst sein häßlicher Puhdel nicht. Es ist nur
gut, daß das schwarze Tier sich so vor meinem schönen bunten Hinz
fürchtet; sie beißen sich zwar halt nicht, aber sie sehen sich oft
schief an von der Seite. Liebes Kind, besuche uns einmal und grüße den
Herrn Onkel Wachholder und den Herrn Lehrer recht schön;
Deine unbekannte Freundin
_Nannette P._
^P. Scr.^ Verehrtester, überreichen Sie doch meiner dicken Freundin, der
Madam Pimpernell, beifolgende drei Fünftalerscheine; da wird ein noch zu
tilgender Schuldenrest sein.
Dr. W.
^P. Scr.^ Ich muß in die Küche, sonst hätte ich mich eben noch recht
über den Doktor zu beklagen. Er ist recht böse. Gestern hat er sein
Tintenfaß über meine beste Tischdecke gegossen. Das geht mein Lebtag
nicht wieder heraus! -- Aber das ist das wenigste. -- 's ist nur gut,
daß ich den Tabaksdampf gewohnt bin, auch mein Papa macht furchtbare
Wolken, und die Gardinen müssen nun noch einmal so bald gewaschen
werden. Adieu!
_Nannette._
^P. Scr.^ Der Onkel Pümpel hat sich's in den Kopf gesetzt, dem armen
>Puhdel<, wie Nann'l schreibt -- auf seine alten Tag' noch das
»Todstellen« beizubringen.
Dr. W.
^P. Scr.^ Bier mag er schon! (Ich meine halt den Pudehl -- so wird's
wohl recht geschrieben sein) Gott, ich muß wirklich in die Küchen!
N.
^P. Scr.^ Nannette ist fort! Meine lieben Freunde, ich bin sehr
glücklich und fidel! Ich hoffe auf baldige Nachrichten von Euch allen.
Gruß und Brüderschaft!
Euer
_H. Wimmer._«
Welchen Jubel hatte einst dieser Doppelbrief mit seinen Postskripten in
der Sperlingsgasse erregt! Wie tanzte an jenem Augustnachmittag im Jahre
1841, als er ankam, der Lehrer Roder mit der kleinen Elise im Zimmer
herum! Heute, wo ich ihn wieder hervorsuchte, ist weder Roder bei mir,
-- sie haben ihn im Jahr Achtzehnhundertundneunundvierzig nach Amerika
gejagt, _sie fürchteten_ sich gewaltig vor ihm -- noch guckt das kleine
Lischen, auf einem Stuhl stehend, mir über die Schulter. Aber allein bin
ich doch nicht beim Wiederlesen; trotz dem Regen hat sich der Zeichner
Strobel herausgewagt und ist, da das Glück dem Kühnen lächelt,
wohlbehalten, wenn auch etwas durchnäßt, bei mir angekommen.
»Es ist ein prächtiges Ehepaar geworden,« sagte er lächelnd, indem er
mir die Nadel einfädelte, mit welcher ich das Dokument der Chronik
anheften wollte. »Seit der Doktor den bösen politischen Husten, der ihn
sonst plagte, losgeworden ist, hat er einen Umfang gewonnen, dem nur das
Embonpoint der kleinen fidelen Frau Doktorin Nannerl nahe kommt. Und
diese kleinen fetten Wimmerleins: Hansl, Fritzl und Eliserl, »das
jüngste Wurm«, wie der Doktor sagt! -- Und diese Nachkommenschaft des
edeln Rezensent! -- Für jedes Wimmerlein ein Pudel, einer immer
schwärzer und schnurrbärtiger als der andere. Wie heißen sie doch?
Richtig: Stulpnas (gewöhnlich Stulp abgekürzt), Tinte und Quirl. Es ist
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