Die Chronik der Sperlingsgasse - 01

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Grote'sche Sammlung
von
Werken zeitgenössischer Schriftsteller
Neunter Band
Wilhelm Raabe, Die Chronik der Sperlingsgasse


Die Chronik der
Sperlingsgasse
von
Wilhelm Raabe

Neue Ausgabe
Mit Illustrationen von _Ernst Bosch_ und einem Bildnis
des Dichters von _Hanns Fechner_.
155. Auflage
G. Grote'sche Verlagsbuchhandlung
Berlin 1922
Alle Rechte, besonders das
der Übersetzung in fremde
Sprachen, vorbehalten.
Druck von Fischer & Wittig
in Leipzig.
Die
Chronik der Sperlingsgasse


^Pro domo^
Vorrede zur dritten Auflage

Wenn es gewittert, verkriechen sich die Vögel unter dem Busch. Das wäre
fast als ein gutes und warnendes Beispiel auch für dieses kleine Buch zu
nehmen; es will sich aber nicht warnen lassen, und vielleicht darf es
auch nicht.
Als vor zehn Jahren hinten in der Türkei die Völker aufeinanderschlugen,
da regte es zum ersten Male seine Flügel und flatterte unbesorgt aus,
wie finster auch der Himmel sein mochte. Mancherlei Wechsel der Zeit
erfuhr es, und es wäre kein Wunder, wenn so viele fallende Trümmer es
längst mit tausend Genossen unter berghohem Schutt begraben hätten; aber
es fand seinen Weg, kam zu vielen Leuten, und sie nahmen es gut auf mit
allen seinen Fehlern und Wunderlichkeiten.
Wenn es aber auch nur unter _einem_ Dach eine trübe Stunde verscheucht,
eine schwere Stunde sanfter gemacht hätte, wie Herr Hartmann von der Aue
sagt; wenn es nur ein Lächeln, nur eine Träne hervorgerufen hätte, so
wäre sein Wirken und Sein nicht vergeblich gewesen.
Nun hängen wieder die Wolken drohend herab; der Krieg schlägt mit
gewappneter Faust dröhnend an die Pforten unseres eigenen Volkes, und es
ist niemand, so hoch oder niedrig ihn das Leben gestellt habe, der sagen
kann, welch ein Schicksal ihm die nächste Stunde bringen werde. Es steht
zu keiner Zeit ein Glück so fest, daß es nicht von einem Windhauch oder
dem Hauch eines Kindes umgestürzt werden könnte; wieviel weniger jetzt!
In solcher Zeit ständen die Menschen am liebsten mit leeren, müßigen
Händen, horchend und wartend; aber das ist nicht das Rechte. Es soll
niemand sein Handwerksgerät, die Waffen, mit welchen er das Leben
bezwingt, in dumpfer Betäubung fallen lassen. Ein Geschlecht gebe seine
Arbeit an das folgende ab, und, gottlob, jener Epochen, in welchen die
Menschheit ihre Mühen ganz von neuem aufnehmen mußte, weil die Sturmflut
alles vorige fortgespült hatte, sind wenige.
Auch in diesem Sinne ist nichts zu hoch und nichts zu gering, und in
diesem Sinne finden auch diese Blätter die Berechtigung, ihren Flug
durch die stürmische Welt abermals vertrauensvoll zu beginnen. Mögen sie
neue Freunde zu den alten gewonnen haben, wenn wieder zehn Jahre ihres
flüchtigen Daseins dahingegangen sind!
_Stuttgart_, im Februar 1864.
#Der Verfasser.#


Am 15. November.

Es ist eigentlich eine böse Zeit! Das Lachen ist teuer geworden in der
Welt, Stirnrunzeln und Seufzen gar wohlfeil. Auf der Ferne liegen blutig
dunkel die Donnerwolken des Krieges, und über die Nähe haben Krankheit,
Hunger und Not ihren unheimlichen Schleier gelegt; -- es ist eine böse
Zeit! Dazu ist's Herbst, trauriger, melancholischer Herbst, und ein
feiner kalter Vorwinterregen rieselt schon wochenlang herab auf die
große Stadt; es ist eine böse Zeit! Die Menschen haben lange Gesichter
und schwere Herzen, und wenn sich zwei Bekannte begegnen, zucken sie die
Achsel und eilen fast ohne Gruß aneinander vorüber; -- es ist eine böse
Zeit! -- Mißmutig hatte ich die Zeitung weggeworfen, eine frische Pfeife
gestopft und ein Buch herabgenommen und aufgeschlagen. Es war ein
einfaches altes Buch, in welches Meister Daniel Chodowiecki gar hübsche
Bilder gezeichnet hatte: ^Asmus omnia sua secum portans^, der prächtige
Wandsbecker Bote des alten Matthias Claudius, weiland ^Homme de lettres^
zu Wandsbeck, und recht ein Tag war's, darin zu blättern. Der Regen, das
Brummen und Poltern des Feuers im Ofen, der Widerschein desselben auf
dem Boden und an den Wänden, -- alles trug dazu bei, mich die Welt da
draußen ganz vergessen zu machen und mich ganz in die Welt von Herz und
Gemüt auf den Blättern vor mir zu versenken.
Aufs Geratewohl schlug ich eine Seite auf: Sieh! -- da ist der
herbstliche Garten zu Wandsbeck. Es ist ebenso nebelig und trübe wie
heute; leise sinken die gelben Blätter zur Erde, als bräche eine
unsichtbare Hand sie ab, eins nach dem andern. Wer kommt da den Gang
herauf im geblümten bunten Schlafrock, die weiße Zipfelmütze über dem
Ohr? -- Er ist's -- Matthias Claudius, der wackere Asmus selbst! --
Bedächtiglich schreitet er einher, von Zeit zu Zeit stehenbleibend;
jetzt ein welkes Blatt aufnehmend und das zierliche Geäder desselben
betrachtend; jetzt in die nebelige Luft hinaufschauend. Er scheint in
Gedanken versunken zu sein. Denkt er vielleicht an den Vetter oder den
Freund Hain, an den Invaliden Görgel mit der Pudelmütze und dem neuen
Stelzbein; denkt er an die neue Kanone oder an das Ohr des schuftigen
Hofmarschalls Albiboghoi? Wer weiß! -- Sieh! wieder bleibt er stehen.
Was fällt ihm ein?! Lustig wirft er die weiße Zipfelmütze in die Luft
und tut einen kleinen Sprung: ein großer Gedanke ist ihm »aufs Herz
geschossen« -- das große neue Fest _der Herbstling_ ist erfunden -- der
Herbstling, so anmutig zu feiern, wenn der _erste Schnee fällt_, mit
Kinderjubel und Bratäpfeln und Lächeln auf den Gesichtern von jung und
alt! --
Wenn der erste Schnee fällt -- -- -- wie ich in diesem Augenblick wieder
einmal einen Blick zur grauen Himmelsdecke hinaufwerfe, da -- kommt er
herunter -- wirklich herunter, _der erste Schnee_!
Schnee! Schnee! der erste Schnee! --
In großen wäßrigen Flocken, dem Regen untermischt, schlägt er an die
Scheiben, grüßend wie ein alter Bekannter, der aus weiter Ferne nach
langer Abwesenheit zurückkommt. Schnell springe ich auf und ans Fenster.
Welche Veränderung da draußen! Die Leute, die eben noch mürrisch und
unzufrieden mit sich und der Welt umherschlichen, sehen jetzt ganz
anders aus. Gegen den Regen suchte jeder sich durch Mäntel und Schirme
auf alle Weise zu schützen, dem Schnee aber kehrt man lustig und
verwegen das Gesicht zu.
Der erste Schnee! der erste Schnee!
An den Fenstern erscheinen lachende Kindergesichter, kleine Händchen
klatschen fröhlich zusammen: welche Gedanken an weiße Dächer und grüne
funkelnde Tannenbäume! Wie phantastisch die Sperlingsgasse in dem
wirbelnden weißen Gestöber aussieht! Wie die wasserholenden
Dienstmädchen am Brunnen kichern! Der fatale Wind! --
»Gehorsamster Diener, Herr Professor Niepeguk! Auch im ersten Schnee?«
»Ärztliche Verordnung!« brummt der Weise und lächelt herauf zu mir, so
gut es Würde und Hypochondrie erlauben.
Auf der Sophienkirche schlägt's jetzt! -- Erst vier? und schon fast
Nacht! -- »Vier!« wiederholen die Glocken dumpf über die ganze Stadt.
Jetzt sind die Schulen zu Ende! Hurra -- hinaus in den beginnenden
Winter: die Buben wild und unbändig, die Mädchen ängstlich und
trippelnd, dicht sich an den Häuserwänden hinwindend.
Hier und dort blitzt nun schon in einem dunkeln Laden ein Licht auf,
immer geisterhafter wird das Aussehen der Sperlingsgasse.
Da kommt der Lehrer selbst, seine Bücher unter dem Arm; aufmerksam
betrachtet er das Zerschmelzen einer Flocke auf seinem fadenscheinigen
schwarzen Rockärmel. Jetzt ist die Zeit für einen Märchenerzähler, für
einen Dichter. -- Ganz aufgeregt schritt ich hin und her; vergessen war
die böse Zeit; auch mir war, wie weiland dem ehrlichen Matthias, ein
großer Gedanke »aufs Herz geschossen«. »Ich führe ihn aus, ich führe ihn
aus!« brummte ich vor mich hin, während ich auf und ab lief; wie
verwundert mich auch alle meine Quartanten und Folianten
von den Büchergestellen anglotzten, wie spöttisch auch das
Allongeperückengesicht auf dem Titelblatt der dort aufgeschlagenen
Schwarte hergrinzte!
»Ein Bilderbuch der Sperlingsgasse!«
»Eine _Chronik der Sperlingsgasse_!«
Ein Kinderkopf drückt sich drüben im Hause gegen die Scheibe, und der
Lampenschein dahinter wirft den runden Schatten über die Gasse in mein
dunkles Fenster und über die Büchergestelle an der entgegengesetzten
Wand. Ein gutes, ein glückliches Omen! Grinzt nur, ihr Meister in Folio
und Quarto, ihr Aldinen und Elzeviere! Ein Bilderbuch der
Sperlingsgasse; eine Chronik der Sperlingsgasse! Ich mußte mich wirklich
setzen, so arg war mir die Aufregung in die alten Beine gefahren, und
benutzte das gleich, um ein Buch Papier zu falzen für meinen großen
Gedanken und einen letzten Blick hinauszuwerfen in den ersten Schnee.
Bah! -- Wo war er geblieben? Wie ein guter Diener war er, nachdem er die
Ankunft seines Meisters, des gestrengen Herrn Winters verkündet hatte,
zurückgekehrt, ohne eine Spur zu hinterlassen.
Ich bin ein einsamer alter Mann geworden! Die bunten, ewig wechselnden,
ewig neuen Bilder dieses großen Bilderbuches, _Welt_ genannt, werden
meinen alten Augen dunkler und dunkler; mehr und mehr verschwimmen sie,
mehr und mehr fließen sie ineinander. Ich bin mit meinem Leben da
angelangt, wo, wie in jenem Übergang vom Wachen zum Schlaf, die
Erlebnisse des Tages sich noch dumpf im Gehirn des Müden kreuzen, wo
aber bereits die dunkle, traum- und geistervolle Nacht über alles, Gutes
und Böses, ihren Schleier breitet. Ich bin alt und müde; es ist die
Zeit, wo die Erinnerung an die Stelle der Hoffnung tritt.
Schaue ich auf aus meinen Träumen, so sehe ich zwar dasselbe Lächeln,
dasselbe Schmerzenszucken auf den Menschengesichtern um mich her, wie
vor langen blühenderen Jahren, aber wenn auch Freude und Leid dieselben
geblieben sind auf der alten Mutter Erde: die Gesichter selbst sind mir
fremd -- ich bin allein! -- Allein -- und doch nicht allein. Aus der
dämmerigen Nacht des Vergessens taucht es auf und klingt es; Gestalten,
Töne, Stimmen, die ich kannte, die ich vernahm, die ich einst gern sah
und hörte in vergangenen bösen und guten Tagen, werden wieder wach und
lebendig; tote, begrabene Frühlinge fangen wieder an zu grünen und zu
blühen; vergessener Kindermärchen entsinne ich mich; ich werde jung und
-- fahre auf und -- erwache!
Versunken ist dann die Welt der Erinnerung, mich fröstelt in der kalten
traurigen Gegenwart, drückender fühle ich meine Einsamkeit, und weder
meine Folianten, noch meine andern mühsam aufgestapelten gelehrten
Schätze vermögen es, die aufsteigenden Kobolde und Quälgeister des
Greisenalters zu verscheuchen. Sie zu bannen schreibe ich die folgenden
Blätter, und ich schreibe, wie das Alter schwatzt. Für einen Freund will
ich diese Bogen ansehen, für einen Freund, mit dem ich plaudere, der
Geduld mit mir hat und nicht spöttelt über Wiederholungen -- ach, das
Alter wiederholt ja so gern -- der nicht zum Aufbruch treibt, wo die
vertrocknete Blume irgend einer süßen Erinnerung mich fesselt, der nicht
zum Bleiben nötigt, wo ein trübes Angedenken unter der Asche der
Vergessenheit noch leise fortglimmt. Eine _Chronik_ aber nenne ich diese
Bogen, weil ihr Inhalt, was den Zusammenhang betrifft, gar sehr jenen
alten naiven Aufzeichnungen gleichen wird, welche in bunter Folge die
Begebenheiten aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft erzählen; die
jetzt eine Schlacht mitliefern, jetzt das Erscheinen eines wundersamen
Himmelszeichens beobachten, die bald über den nahen Weltuntergang
predigen, bald wieder sich über ein Stachelschwein, welches die deutsche
Kaiserin im Klostergarten vorführen läßt, wundern und freuen. Und wie
die alten Mönche hier und da zwischen die Pergamentblätter ihrer
Historien und Meßbücher hübsche, farbige, zierlich ausgeschnittene
Heiligenbilder legten, so will auch ich ähnliche Blätter einflechten und
durch die eintönigen farblosen Aufzeichnungen meiner alten Tage
frischere blütenvollere Ranken schlingen.
Ich, der Greis -- der zweiten Kindheit nahe, will von einem Kinde
erzählen, dessen Leben durch das meinige ging wie ein Sonnenstrahl, den
an einem Regentage Wind und Wolken über die Fluren jagen; der im
Vorbeigleiten Blumen und Steine küßt, und in derselben Minute das
glückliche Gesicht der Mutter über der Wiege, die heiße Stirn des
Denkers über seinem Buche und die bleichen Züge des Sterbenden streifen
kann. Ich schreibe keinen Roman und kann mich wenig um den
schriftstellerischen Kontrapunkt bekümmern; was mir die Vergangenheit
gebracht hat, was mir die Gegenwart gibt, will ich hier, in hübsche
Rahmen gefaßt, zusammenheften, und bin ich müde -- nun so schlage ich
dieses Heft zu, wühle weiter in meiner schweinsledernen Gelehrsamkeit
und kompiliere lustig fort an meinem wichtigen Werke ^De vanitate
hominum^, einem ausnehmend -- dicken Gegenstande.


Am 20. November.

Ich liebe in großen Städten diese ältern Stadtteile mit ihren engen,
krummen, dunkeln Gassen, in welche der Sonnenschein nur verstohlen
hineinzublicken wagt; ich liebe sie mit ihren Giebelhäusern und
wundersamen Dachtraufen, mit ihren alten Kartaunen und Feldschlangen,
welche man als Prellsteine an die Ecken gesetzt hat. Ich liebe diesen
Mittelpunkt einer vergangenen Zeit, um welchen sich ein neues Leben in
liniengraden, parademäßig aufmarschierten Straßen und Plätzen angesetzt
hat, und nie kann ich um die Ecke meiner Sperlingsgasse biegen, ohne den
alten Geschützlauf mit der Jahreszahl 1589, der dort lehnt, liebkosend
mit der Hand zu berühren. Selbst die Bewohner des ältern Stadtteils
scheinen noch ein originelleres, sonderbareres Völkchen zu sein, als die
Leute der modernen Viertel. Hier in diesen winkligen Gassen wohnt das
Volk des Leichtsinns dicht neben dem der Arbeit und des Ernstes, und der
zusammengedrängtere Verkehr reibt die Menschen in tolleren,
ergötzlicheren Szenen aneinander, als in den vornehmeren, aber auch
öderen Straßen. Hier gibt es noch die alten Patrizierhäuser, -- die
Geschlechter selbst sind freilich meistens lange dahin -- welche nach
einer Eigentümlichkeit ihrer Bauart, oder sonst einem Wahrzeichen unter
irgend einer naiven merkwürdigen Benennung im Munde des Volkes
fortleben. Hier sind die dunkeln, verrauchten Kontore der alten
gewichtigen Handelsfirmen, hier ist das wahre Reich der Keller- und
Dachwohnungen. Die Dämmerung, die Nacht produzieren hier wundersamere
Beleuchtungen durch Lampenlicht und Mondschein, seltsamere Töne als
anderswo. Das Klirren und Ächzen der verrosteten Wetterfahnen, das
Klappern des Windes mit den Dachziegeln, das Weinen der Kinder, das
Miauen der Katzen, das Gekeif der Weiber, wo klingt es passender -- man
möchte sagen dem Ort angemessener, als hier in diesen engen Gassen,
zwischen diesen hohen Häusern, wo jeder Winkel, jede Ecke, jeder
Vorsprung den Ton auffängt, bricht und verändert zurückwirft! --
Horch, wie in dem Augenblick, wo ich dieses niederschreibe, drunten in
jenem gewölbten Torwege die Drehorgel beginnt; wie sie ihre klagenden,
an diesem Ort wahrhaftig melodischen Tonwogen über das dumpfe Murren und
Rollen der Arbeit hinwälzt! -- Die Stimme Gottes spricht zwar
vernehmlich genug im Rauschen des Windes, im Brausen der Wellen und im
Donner; aber nicht vernehmlicher als in diesen unbestimmten Tönen,
welche das Getriebe der Menschenwelt hervorbringt. Ich behaupte, ein
angehender Dichter oder Maler -- ein Musiker, das ist freilich eine
andre Sache -- dürfe nirgends anders wohnen als hier! Und fragst du
auch, wo die frischesten, originellsten Schöpfungen in allen Künsten
entstanden sind, so wird meistens die Antwort sein: in einer
_Dachstube_! -- In einer Dachstube im Wine-office Court war es, wo
Oliver Goldsmith, von seiner Wirtin wegen der rückständigen Miete
eingesperrt, dem Dr. Johnson unter alten Papieren, abgetragenen Röcken,
geleerten Madeiraflaschen und Plunder aller Art ein besudeltes
Manuskript hervorsuchte mit der Überschrift: Der Landprediger von
Wakefield.
In einer Dachstube schrieb Jean Jacques Rousseau seine glühendsten,
erschütterndsten Bücher. In einer Dachstube lernte Jean Paul den
Armenadvokat Siebenkäs zeichnen und das Schulmeisterlein Wuz und das
Leben Fibels!
* * * * *
Die Sperlingsgasse ist ein kurzer enger Durchgang, welcher die
Kronenstraße mit einem Ufer des Flusses verknüpft, der in vielen Armen
und Kanälen die große Stadt durchwindet. Sie ist bevölkert und lebendig
genug, einen mit nervösem Kopfweh Behafteten wahnsinnig zu machen und
ihn im Irrenhause enden zu lassen; mir aber ist sie seit vielen Jahren
eine unschätzbare Bühne des Weltlebens, wo Krieg und Friede, Elend und
Glück, Hunger und Überfluß, alle Antinomien des Daseins sich
widerspiegeln.
In der Natur liegt alles ins Unendliche auseinander, im Geist
konzentriert sich das Universum in einem Punkt, dozierte einst mein
alter Professor der Logik. Ich schrieb das damals zwar gewissenhaft nach
in meinem Heft, bekümmerte mich aber nicht viel um die Wahrheit dieses
Satzes. Damals war ich jung, und Marie, die niedliche kleine
Putzmacherin, wohnte mir gegenüber und nähte gewöhnlich am Fenster,
während ich, Kants Kritik der reinen Vernunft vor der Nase, die Augen --
nur bei ihr hatte. Sehr kurzsichtig und zu arm, mir für diese
Fensterstudien eine Brille, ein Fernglas oder einen Operngucker
zuzulegen, war ich in Verzweiflung. Ich begriff, was es heißt: Alles
liegt ins Unendliche auseinander.
Da stand ich eines schönen Nachmittags wie gewöhnlich am Fenster, die
Nase gegen die Scheibe drückend, und drüben unter Blumen, in einem
lustigen, hellen Sonnenstrahl, saß meine, in Wahrheit ^ombra adorata^.
Was hätte ich darum gegeben, zu wissen, ob sie herüberlächele!
Auf einmal fiel mein Blick auf eines jener kleinen Bläschen, die sich
oft in den Glasscheiben finden. Zufällig schaute ich hindurch, nach
meiner kleinen Putzmacherin, und -- ich begriff, daß das Universum sich
in einem Punkt konzentrieren könne.
So ist es auch mit diesem Traum- und Bilderbuch der Sperlingsgasse. Die
Bühne ist klein, der darauf Erscheinenden sind wenig, und doch können
sie eine Welt von Interesse in sich begreifen für den Schreiber, und
eine Welt von Langeweile für den Fremden, den Unberufenen, welchem
einmal diese Blätter in die Hände fallen sollten.


Am 30. November.

Der Regen schlägt leise an meine Scheiben. Was und wer der sonderbare
lange Gesell ist, der vorgestern da drüben in Nr. Elf eingezogen ist, in
jene Wohnung, wo auch ich einmal hauste, wo einst auch der Doktor Wimmer
sein Wesen trieb, hab ich noch nicht herausgebracht. -- Es ist recht
eine Zeit, zu träumen. Ich sitze, den Kopf auf die Hand gestützt, am
Fenster und lasse mich allmählich immer mehr einlullen von der monotonen
Musik des Regens da draußen, bis ich endlich der Gegenwart vollständig
entrückt bin. Ein Bild nach dem andern zieht wie in einer Laterna magica
an mir vorbei, verschwindend, wenn ich mich bestrebe, es festzuhalten.
O, es ist wahrlich nicht das, was mich am meisten fesselt und hinreißt,
was ich auf das Papier festbannen kann; ein ganz anderer Maler müßte ich
sein, um das zu vermögen.
Das verschlingt sich, um sich zu lösen; das verdichtet sich, um zu
verwehen; das leuchtet auf, um zu verfliegen, und jeder nächste
Augenblick bringt etwas Anderes. Oft ertappe ich mich auf Gedanken,
welche aufgeschrieben, kindisch, albern, trivial erscheinen würden, die
aber mir, dem alten Mann, in ihrem flüchtigen Vorübergehen so süß, so
heimlich, so beseligend sind, daß ich um keinen Preis mich ihnen
entreißen könnte.
Nur das Konkreteste vermag ich dann und wann festzuhalten, und diesmal
sind es Bilder aus meinem eigenen Leben, welche ich hier dem Papier
anvertraue.
* * * * *
Was ist das für eine kleine Stadt zwischen den grünen buchenbewachsenen
Bergen? Die roten Dächer schimmern in der Abendsonne; da und dort laufen
die Kornfelder an den Berghalden hinauf; aus einem Tal kommt rauschend
und plätschernd ein klarer Bach, der mitten durch die Stadt hüpft, einen
kleinen Teich bildet, bedeckt am Rande mit Binsen und gelben
Wasserlilien, und in einem andern Tal verschwindet. Ich kenne das alles;
ich kann die Bewohner der meisten Häuser mit Namen nennen; ich weiß, wie
es klingen wird, wenn man in dem spitzen schiefergedeckten Turm jener
hübschen alten Kirche anfangen wird zu läuten. Habe ich nicht oft genug
mich von den Glockenseilen hin und her schwingen lassen?
Das ist Ulfelden, die Stadt meiner Kindheit -- das ist meine Vaterstadt!
Und schau, dort oben in dem Garten, der sich von jenem zerbröckelnden,
noch stehenden Teil der Stadtmauer aus den Berg hinanzieht, gelagert,
unter einem blühenden Holunderstrauch, die drei Kinder. Da sitzt ein
kleines Mädchen mit großen glänzenden Augen, dem wilden Franz aus dem
Walde zuhörend. Franz Ralff, aufgewachsen im Wald und jetzt in der Zucht
bei dem Vater der kleinen Marie, dem strengen lateinischen Stadtrektor
Volkmann, erzählt, ein gewaltiges angebissenes Butterbrot in der Hand,
kauend und zugleich durch seinen eigenen Vortrag gerührt, eine seiner
wunderbaren Geschichten, die er aus der Waldeinsamkeit mitgebracht hat,
und mit denen er uns kleines Volk stets zum »Gruseln« brachte oder zu
bringen versuchte.
Und nun sieh da, im Grase ausgestreckt, da bin auch ich, der kleine Hans
Wachholder, der Sohn aus dem Pfarrhause; blinzelnd zu dem blauen Himmel
hinaufschauend und den kleinen weißen »Schäfchen« in der reinen Luft
nachträumend.
Die Glocken der heimkehrenden Herden erklingen zwischen den Bergen,
ringsumher summt und tönt unendliches Leben, im Gras, in den Bäumen, in
der Luft; und das Kinderherz versteht alles, es ist ja noch eins mit der
Natur, eins mit -- Gott!
Aber warum öffnet sich nicht dort unten die braune Tür, die aus dem
hübschen, vom Weinstock übersponnenen Hause mit den hellglänzenden
Fenstern in den Garten führt?
Wo ist der alte Mann mit den ehrwürdigen grauen Haaren, welcher da
allabendlich seine Blumen zu begießen pflegt?
Wo ist -- wo ist meine Mutter? Meine Mutter!
Keine freundliche Stimme antwortet! Ich selbst habe ja graue Haare.
Vater und Mutter schlummern lange in ihren vergessenen, eingesunkenen
Gräbern auf dem kleinen Stadtkirchhof zu Ulfelden. Jüngere Geschlechter
sind seitdem hinabgegangen.
Plötzlich verändert sich das sonnige, sommerliche Bild.
Da ist schon die große Stadt! Diesmal ist es nicht Frühling, nicht
blühender Sommer, sondern eine stürmische, dunkle Herbstnacht --
vielleicht wird eine ähnliche auf den heutigen Tag folgen. -- In dieser
Nacht sitzt hoch oben in einem kleinen, mehr drei- als viereckigen
Dachstübchen ein Student vor einem gewaltigen schweinsledernen
Folianten, über welchen er hinwegstarrt. Wo wandern seine Gedanken?
Draußen jagt der Wind die Wolken vor dem Monde her, rüttelt an den
Dachziegeln, schüttelt den zerlumpten Schlafrock, welchen der
erfinderische Musensohn, um sich und seine Studien ganz von der
Außenwelt abzusperren, vor dem Fensterkreuz festgenagelt hat -- kurz,
gebärdet sich so unbändig, wie nur ein Wind, der den Auftrag hat, das
letzte Laub von den Bäumen in Gärten und Wäldern zu reißen, sich
gebärden kann. Lange hat der Musensohn in tiefe Gedanken versunken
dagesessen; jetzt springt er plötzlich auf und dreht mir das Gesicht zu
-- -- -- das bin ich wieder: Johannes Wachholder, ein Student der
Philosophie in der großen Haupt- und Universitätsstadt. Sehr aufgeregt
scheint der Doppelgänger meiner Jugend zu sein; mit so gewaltigen
Schritten, als das enge, wunderlich ausstaffierte Gemach nur erlaubt,
rennt er auf und ab.
Plötzlich springt er auf das Fenster zu, reißt den improvisierten
Vorhang herunter und läßt einen prächtigen Mondstrahl, welcher in diesem
Augenblick durch die zerrissenen Wolken fällt, herein.
»Marie! Marie!« flüstert mein Schattenbild leise, die Arme gegen ein
schwach erleuchtetes Fenster drüben ausstreckend, gegen dessen
herabgelassene Gardine der kaum bemerkbare Schatten einer menschlichen
Gestalt fällt, und --
Es ist eine gefährliche Sache, in den Momenten ungewöhnlicher Aufregung
-- sei es Freude oder Schmerz, Haß oder Liebe -- sich dem klaren, weißen
Licht des Mondes auszusetzen. Das Volk sagt: Man wird dumm davon.
Wirklich, wunderliche Gedanken bringt dieser reine Schein mit sich;
allerlei tolles Zeug gewinnt Macht, sich des Geistes zu bemächtigen und
ihn unfähig zu machen, fürderhin gemütlich auf der ausgetretenen Straße
des Alltagslebens weiterzutraben. »Man wird dumm davon!« -- Zauberhafte
Aussichten in phantastische, nebelhafte Gründe öffnen sich zu beiden
Seiten; nie gehörte Stimmen werden wach, locken mit Sirenensang,
flüstern unwiderstehlich, winken dem Wanderer ab vom sicheren Wege, und
bald irrt der Bezauberte in den unentrinnbaren Armidengärten der Fee
Phantasie.
»Ich liebe Dich,« flüstert mein Schattenbild, »ich will Dich reich, ich
will Dich glücklich, ich will Dich berühmt machen, ich will« -- der
schreibende Greis kann jetzt nur lächeln -- »die Welt für Dich gewinnen,
Marie!«
Mehr noch flüstert mein Doppelgänger, die Stirn an die Scheiben
drückend, hinüber nach dem kleinen Stübchen, wo die Jugendgespielin,
fortgerissen von dem kalten Arm des Lebens aus der waldumgebenen
friedlichen Heimat, einsam in der dunkeln, stürmischen Nacht arbeitet,
als ein anderer Schatten seine Träume von Glück und Ruhm durchkreuzt.
Da ist eine andere Gestalt; schwarze, dichte Locken umgeben ein
sonnverbranntes Gesicht, die Augen blitzen von Lebenslust und
Lebenskraft, es ist der Maler Franz Ralff, der aus Italien
zurückkehrend, voll der göttlichen Welt des Altertums und voll der
großen Gedanken einer ebenso göttlichen jüngern Zeit, den Freund umarmt.
Und weiter schweift mein Geist. -- Ich sehe noch immer die junge Waise
in ihrem kleinen Stübchen unter Blumen arbeitend. Ich sehe zwei Männer
im Strom des Lebens kämpfen, ein Lächeln von ihr zu gewinnen; und ich
sehe endlich den einen mit keuchender Brust sich ans Ufer ringen und den
schönen Preis erfassen, während der andere weiter getrieben, willenlos
und wissenlos auf einer kahlen, skeptischen Sandbank sich wiederfindet.
-- Ich sehe _mich_, einen blöden Grübler, der sich nur durch erborgte
und erheuchelte Stacheln zu schützen weiß, bis er endlich, nach langem
Umherschweifen in der Welt, hervorgeht aus dem Kampf, ein ernster
sehender Mann, der Freund seines Freundes und dessen jungen Weibes.
Ich lebe durch kurze Jahre von schmerzlich süßem Glück; ich sehe während
dieser Jahre eine feine, blondlockige Gestalt lächelnd, wie unser guter
Genius, Franz und mich umschweben und ihre schützende Hand ausstrecken
über seine leicht auflodernde Wildheit und meine hinbrütende Traurigkeit
-- ich sehe bald ein kleines Kind -- Elise genannt in den Blättern
dieser Chronik -- des Abends aus den Armen der Mutter in die des Vaters
und aus den Armen des Vaters in die des Freundes übergehen, mit großen,
verwunderten Augen zu uns aufschauend -- -- -- --
Plötzlich hört der Regen auf, an die Fenster zu schlagen; ich schrecke
empor -- es ist späte Nacht. Einen letzten Blick werfe ich noch in die
Gasse hinunter. Sie ist dunkel und öde; der unzureichende Schein der
einen Gaslaterne spiegelt sich in den Sümpfen des Pflasters, in den
Rinnsteinen wider. Eine verhüllte Gestalt schleicht langsam und
vorsichtig dicht an den Häusern hin. Von Zeit zu Zeit blickt sie sich
um. Geht sie zu einem Verbrechen, oder geht sie ein gutes Werk zu tun?
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