Die Chronik der Sperlingsgasse - 03

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zur Treppe. Dort sagte er, mir die Hand drückend und lächelnd:
»Ich will aber doch Mitarbeiter Ihrer Chronik werden, Signor!«
So endete mein erster Besuch bei dem Karikaturenzeichner Ulrich Strobel.


Am 10. Dezember.

Es ist jetzt vollständig Winter geworden; der Schnee liegt zu hoch in
den Straßen, als daß man den Schritt der verspäteten Fußgänger, das
Rollen der Wagen hören könnte. Es ist tiefe Nacht.
Was ist das für ein bleiches, verfallenes Gesicht, welches da vor mir
auftaucht? Ist das Franz -- der lebensmutige, lebensglühende Franz
Ralff, den ich einst kannte?
Drei Monate waren hingegangen, seit man die tote Marie zu ihrer stillen
Ruhestätte hinausgetragen hatte. Ich saß neben meinem Freunde, der, auf
die graugrundierte Leinwand vor ihm starrend, plötzlich begann:
»Höre, Johannes, ich muß Dir eine Geschichte erzählen. Es wird gut sein,
daß Du sie kennst; auch könnte wohl der Fall eintreten, daß mein Kind
sie erfahren müßte. Letzteres will ich dann Dir überlassen, Johannes.
Ich muß weit dazu ausholen, ich muß in unsere früheste Jugendzeit
zurückgehen, wo wir glückliche, ahnungslose Kinder waren. O Johannes,
laß mich sie zurückrufen, diese seligen Tage! Klingt es Dir nicht auch
bei jeder Erinnerung daran, wie das Läuten jener im Wald verlorenen
Kirche? O, mein Jugend-Waldleben! -- Wie ich es jetzt vor mir sehe,
dieses alte, braune, verfallende Jägerhaus, mitten in der grünen,
duftenden Einsamkeit! Vorbei plätschernd der klare Bach, der dann tiefer
im Walde den stillen Teich bildet, welchen die Sage so wundersam
umschlungen hat! Wie oft bin ich, das Kinderherz voll geheimnisvollen
Bebens, an funkelnden Mondscheinabenden, wenn die Bewohner des
Jägerhauses vor der Tür saßen und der alte Burchhard das Waldhorn -- Du
weißt wie schön -- blies, dem durch das Dunkel glitzernden Bach
nachgeschlichen, dem stillen Wasser zu, das Treiben der Nixen und Elfen
zu belauschen. Wie fuhr ich zusammen, wenn eine Eidechse im Grase
raschelte, oder ein Nachtvogel schwerfälligen Flugs über den glänzenden
Spiegel des Teichs hinflatterte, indem ich dachte, jetzt müsse das
wundersame Geheimnis ans Licht treten und sein Wesen und Weben beginnen
um die volle Scheibe des Mondes, die in der klaren, stillen Flut
widergespiegelt lag. Erst später erfuhr ich, woher der tiefe, geheime
Zug in mir nach diesem Waldwasser stamme.
Wie oft bin ich, wenn der Sturm in den Bäumen rauschte, hinaufgestiegen
in eine hohe Tanne, um mich, die Arme fest um den rauhen, harzigen Stamm
geschlungen, das Herz gepreßt von Angst und unsäglicher Seligkeit -- hin
und her schleudern zu lassen vom Winde.
Und dann, wenn draußen die heiße Julisonne, die in diese Waldnacht nur
vorsichtig neugierig hinein zu lugen wagte, auf der Welt lag: welch ein
Träumen war das! Welch eine Wonne war's, im Grase zu liegen, während der
Rauhbach an meiner Seite rauschte und murmelte und seine Kiesel langsam
weiterschob, während die Sonnenlichter an den schlanken Buchenstämmen
oder über den Wellchen des Baches spielten und zitterten; die
Wasserjungfer über mich hinschoß; ringsumher die Glockenblumen ihre
blauen Kelche der Erde zuneigten, und der stolze Fingerhut sich trotzend
in seiner Pracht erhob, als spreche er jeden verirrten Strahl der Sonne
für sein Eigentum an.
Welche Winterabende waren das, wenn ich dem alten weißbärtigen Mann, den
ich Oheim nannte, auf dem Knie saß, mit den Quasten seiner kurzen
Jägerpfeife spielte und seinen Geschichten und Sagen lauschte, während
die Hunde zu unsern Füßen schliefen und träumten und nur von Zeit zu
Zeit aufhorchten, wenn der alte Karo draußen anschlug.
Es war ein glückliches Leben, dieses Leben im Walde, und es ist von
großem Einfluß auf meine spätere, künstlerische Entwickelung gewesen.
Noch gar gut erinnere ich mich des Tages, an welchem ich mein erstes
Kunstwerk an der Stalltür zustande brachte. Es war ein Porträt unseres
alten Burchhards und seines treuen Begleiters, des kleinen Dachshundes,
der die Eigentümlichkeit hatte, gar keinen Namen zu besitzen, sondern
nur auf einen besonderen Pfiff seines Herrn hörte.
Der folgende Zeitraum meiner Geschichte, Johannes, ist Dir fast so gut
als mir bekannt, und ich könnte schneller darüber weggehen, wenn es mich
nicht überall, wo _ihr_ Bild auftaucht, so gewaltig festhielte.
Wie viele heimliche Tränen -- der Oheim liebte das Weinen nicht --
wischte ich mir aus den Augen, als der Tag kam, an welchem ich meiner
grünen Waldesnacht Ade sagen mußte. Gern hätte ich mich an jeden Baum,
an jeden Strauch, an welchem der Weg aus dem Walde heraus vorbeiführte,
festgeklammert. Wie unermeßlich weit und groß kam mir die Welt vor. Wie
eine Eule, die man aus ihrer dunkeln Höhle in den Sonnenschein gezerrt
hat, schien ich mir anfangs in Ulfelden. Ich war unglücklich, wie ein
Kind von zwölf Jahren es nur sein kann, ehe ich mich in das ungewohnte
Leben hineinfand.
Wie deutlich steht mir der erste Abend in unserer Kindheitsstadt noch
vor dem Gedächtnis! Der Oheim war zurückgekehrt in sein einsames
Waldhaus, die Frau Rektorin wirtschaftete in der Küche, der alte Rektor
saß oben in seinem kleinen Studierstübchen über dem Tacitus, seinem
Lieblingsschriftsteller, wie ich später erfuhr, und -- ich kauerte
einsam mit verquollenen tränenden Augen auf der grünen Bank vor dem
Hause und blickte in dumpfem Hinbrüten den vorbeischießenden Schwalben
nach: als auf einmal ein kleines, etwas schmutziges Händchen mir einen
angebissenen rotbäckigen Apfel hinhielt, ein Lockenköpfchen sich unter
meine Nase drängte und ein feines Stimmchen sagte:
»Nicht weinen ... Junge ... Mama auch Eierkuchen backen.«
Ich hatte damals große Lust, die kleine Trösterin zurückzustoßen, sie
ließ sich aber nicht abweisen, und als ich über ihr Mitgefühl stärker zu
schluchzen anfing, fing auch sie an zu weinen. Unter diesem Tränenstrom
wurden wir von dem alten Rektor überrascht, welcher plötzlich in seinem
rotgeblümten Schlafrock -- ein Porträt von ihm gibt es dort unter meinen
Skizzen -- und mit der langen Pfeife im Munde hinter uns stand.
»Nun, kleines Volk,« sagte er lächelnd, »das ist ja eine prächtige
Freundschaft zwischen Euch, die so mit Heulen anfängt! Wer hat denn dem
andern etwas zuleide getan?«
Diese diplomatische Wendung der Sache brachte auf einmal meinen
Tränenstrom zum Stehen, und auch die kleine Marie lächelte sogleich
wieder durch die hellen Tropfen, die ihr über beide Backen rollten.
»Wird schon gehen, wird schon gehen!« brummte der alte Scholarch, fuhr
mit der Hand über meine Haare und ging dann zurück ins Haus, um seiner
Frau beim Eierkuchenbacken zuzusehen.
Die kleine Marie aber führte mich zu ihrem Garten im Winkel, grub eine
keimende Bohne hervor, zeigte sie mir jubelnd und versprach mir ein
ähnliches Feld für meine Tätigkeit. Dann zogen wir uns in die
Geisblattlaube zurück, wo der Tisch gedeckt war. Da fand ich neben dem
Nähzeuge der Frau Rektorin ein Buch auf der Bank -- ein Bilderbuch,
welches mich den Wald, das Jägerhaus, den Ohm, den alten Burchhard, mein
ganzes Heimweh zuerst vergessen ließ. Es war ein zerlesener und
zerblätterter Band des welt- und kinderbekannten Bertuchschen Werks!
Welch eine neue Welt ging mir da auf! -- Und die kleine Marie lehnte
neben mir; lachte, erklärte und kitzelte mich mit Strohhalmen; dann kam
die Frau Rektorin mit dem Eierkuchen, und der Rektor verließ seinen
Tacitus; die Glocken der alten Stadtkirche läuteten den morgenden
Sonntag ein; -- ich hatte mich gefunden! -- Erinnerst Du Dich wohl noch,
Hans, dieses Sonntagmorgens, der auf meinen ersten Tag in Ulfelden
folgte? Weißt Du wohl noch, wie Du mir in der Kirche zunicktest, und
beim Nachhausegehen unsere Freundschaft ihren Anfang nahm durch eine
Handvoll Kletten, welche Du mir in die Haare warfest? Weißt Du wohl,
Johannes, wie ich aus dem blöden Waldjungen zu dem tollsten,
verwegensten Schlingel der ganzen Gegend heranwuchs und nur duckte, wenn
mich die kleine Marie aus ihren großen Augen so traurig ansah? Es war
eine prächtige Zeit, -- und das Latein war durchaus keine so böse
Krankheit wie das Scharlachfriesel; -- ich hatte diese Vorstellung aus
dem Walde mitgebracht -- sondern höchstens ein leichter Schnupfen, der
bald wieder auszuschwitzen war.
Dann kamen die Zeichenstunden bei dem alten Maler Gruner, der mir zuerst
die Welt des Schönen deutlicher vor die Augen legte, der in seiner
trockenen kaustischen Weise das Leben, welches er sehr wohl kannte, an
mir vorübergleiten ließ, daß ich verlangte und mich hinaussehnte in
diese so schön blühende Welt, wo man nur die Hand auszustrecken
brauchte, um Glück, Ruhm und Reichtum zu erfassen.
Den Wald hatte ich fast ganz vergessen; ich sehnte mich gar nicht
zurück; hinaus wollte ich in die Welt, Maler werden, tausend Träume
hatte ich, und in allen schwebte Mariens holdes Bild!
Da wurde ich eines Tags zurückgerufen in das einsame Jägerhaus und fand
meinen alten Oheim auf dem Sterbebette. Eine Erkältung, die er sich
zugezogen und nicht beachtete, hatte bei seinem vorgerückten Alter eine
tödliche Wendung genommen. Alle ärztliche und geistliche Hilfe
verschmähend, hatte er nur nach mir verlangt. Eine schreckliche
Enthüllung erwartete mich am Bette des Mannes, an dessen Seite ich nur
den alten Burchhard traf, während die Waldgrete, die bejahrte Magd des
Försterhauses, ab- und zuging.
Als ich -- jetzt ein neunzehnjähriger Jüngling -- an das Lager meines
Ohms trat, sah mich dieser, eben aus einem kurzen unruhigen Schlummer
erwachend, starr an.
»Er gleicht ihm immer mehr,« murmelte er. Als ich mich über ihn beugte,
küßte mich der alte strenge Mann und sagte mit erloschener Stimme:
»Franz, -- Du siehst, es ist vorbei mit mir: ich brauche den Jagdranzen
nicht zu füllen und nicht für Schießzeug zu sorgen für den Gang, den ich
jetzt gehen muß. Heule nicht, Junge; weißt, ich hab's nie leiden können.
Ist Weibermode! Ich möchte Dir aber noch etwas sagen, eh ich
abmarschiere vom Anstand; kannst dann daraus machen, was Du willst.
Setze Dich und höre zu! Schau, da hinten,« -- der Alte zeigte durch das
offene Fenster, in welches grüne Zweige schlugen, und die Abendsonne
zitterte, während ein Buchfink davor sang; -- »da hinten hinter dem
Walde kommst Du in die große Ebene, wo Du tagelang gehen kannst, ohne
einen Berg zu sehen. Die Leute nennen's ein schönes Land; -- mag sein,
hab's aber nie leiden können, und mag den Wald lieber. Einen Hügel
gibt's aber doch da, mitten in dem flachen Lande und den Kornfeldern,
mit einem Schloß, Seeburg geheißen, und am Fuße des Hügels ein Dorf
desselbigen Namens. Daher stammt unsere Familie, da bin ich geboren, da
ist auch Burchhard her.«
Der Letzterwähnte nickte hier mit dem Kopfe und brummte vor sich hin:
»Beides ne gute Art, die Ralffs und Burchhards!«
»Hast recht, Alter,« fuhr mein Oheim fort, »hoffe auch, der da (er wies
auf mich) soll nicht aus der Art schlagen, wenn er gleich unrecht Blut
in den Adern hat. Höre weiter, Junge: War ein stolz Volk, die Grafen
Seeburg, die da seit alter Zeit auf dem Neste saßen. Hab's gelesen in
alten Chroniken, wie sie die Leute plagten und die Kaufleute fingen.
Trieb's auch die neue Art, die damals in seidenen Strümpfen und Schuhen
ging, nicht viel besser, wenn auch anders. Halt's Maul, Burchhard, weiß,
was Du sagen willst. -- Ich war damals ein schmucker Bursch, wußte
trefflich mit der Büchse umzugehen, und war Andreas Ralff bekannt als
Meisterschütze auf Kirchweihen und Vogelschießen weit und breit, wie
Deine Mutter, Franz, meine Schwester, als das schönste Mädchen im Lande.
Sagte mir damals der junge Graf, der eben von Reisen zurückkam: >Hör',
Andreas, tritt in meinen Dienst, will Dich gut halten, und soll es Dein
Schaden nicht sein.< Da faßte mich der Satan, daß ich's für mein Glück
hielt und einschlug.«
Der Alte stöhnte hier laut auf und barg den Kopf in den Kissen, während
Burchhard aufstand und leise eine Jägerweise aus dem Fenster pfiff. Ich
beschwor den Ohm, seine Erzählung abzubrechen und zu verschieben.
»Hab das nie getan,« sagte der alte eiserne Mann, »ist nicht rechte
Jägermanier, eine Kreatur angeschossen umherlaufen zu lassen. Reine
Büchse, reiner Schuß. Schuf's der böse Feind, daß der Graf die Luise zu
sehen kriegte, und -- Burchhard, erzähl's dem Jungen weiter ...«
Dieser, der wieder neben dem Bette seines alten Freundes saß, nickte
finster und fuhr fort in der unterbrochenen Erzählung, den Blick auf den
Boden geheftet.
»Waren wir zusammen aufgewachsen, und hatte ich sie gar lieb die Luise
mit ihren schwarzen Haaren und schwarzen Augen. Hatte aber nicht den
Mut, ihr zu sagen: Herzlieb, wolltest Du mich nicht zum Manne nehmen?
Wollte Dich auch auf'n Händen tragen! Stand ich also immer und guckte
ihr nach auf den Kirchwegen und allenthalben, wenn sie durch das Dorf
hüpfte, lachend und schäkernd, flink wie ein Reh, lustig wie eine Amsel!
...«
Der Kranke seufzte tief auf, Burchhard legte ihm das Kopfkissen zurecht
und schwieg dann, von seiner Erinnerung überwältigt, einige Minuten;
während draußen die Vögel gar lustig zwitscherten, und die Sonne immer
glühender dem Untergange zusank.
Plötzlich fuhr der Erzähler fast barsch auf:
»Was ist da weiter zu berichten! War sie ein jung Blut, und hatte ihr
der Pastor mehr Gutes als Böses von den Menschen erzählt ... Wurde
Andreas in den Wald geschickt auf Antrieb des Grafen; jubelte er
mächtig, denn von je war's sein Wunsch gewesen, ein Jägersmann zu sein,
und zog er sogleich fort von Seeburg, das alte verfallene Haus, so man
ihm gab, instand zu setzen, daß die Luise nachfolgen könne. War ich
damals nicht daheim, sondern im fremden Franzosenland, wo das Volk der
Plackerei und Adelswirtschaft müde geworden war und reinen Tisch
machte; schlug ich mich herum in der Champagne in dem Regiment
Weimar-Kürassiere, bis der Herzog von Braunschweig und die Preußen und
alle retirieren mußten durch Dreck und Regen. Kam ich zurück auf Urlaub,
putzte den Staub von den hohen Stiefeln, rieb den Harnisch so blank als
möglich, setzte den Dreimaster verwegen aufs Ohr und faßte mir ein Herz
-- war ich nicht Wachtmeister in der sechsten Schwadron? -- meinen
heimlichen Schatz zu bitten um seine hübsche weiße Hand. Sahen mich die
Leute so sonderbar an, als ich durch das Dorf schritt dem kleinen Häusel
zu, wo mein Schatz wohnte, und begegnete mir auch der Kastellan vom
Schloß, der mich nicht leiden konnte, und grinzte er mich so höhnisch
an, daß ich den Pallasch fester faßte und einen welschen Fluch brummte.
Ahnte ich aber nichts und schob alles auf die Verwunderung über mein
martialisch Ansehen und schritt mit einem Herzen, das halb freudig, halb
furchtsam klopfte, der kleinen Türe in dem Zaune zu, der das Ralffsche
Haus umgab. Hörte ich aus dem kleinen Stübchen eine Stimme singen, die
mir gar fremd und doch gar bekannt vorkam. Sang die Stimme immer nur den
Anfang eines alten Liedes:
>Es trägt mein Lieb ein schwarzes Kleid,
Darunter trägt sie groß Herzeleid
In ihren jungen Tagen ...<
Nahm ich den Hut ab und trat in die Hausflur: Grüß Gott, Jungfer
Lieschen, bin zurück aus Franzosenland, -- wollte ich sagen, sprach aber
kein Wort, sondern fiel mir der Hut zur Erde, und mußte ich mich am
Pfosten halten, um nicht selbst zu fallen. Da saß ein bleiches Wesen mit
eingefallenen Wangen im Winkel, hatte die Hände im Schoß gefaltet und
zitterte, als ob ein heftiger Frost es schüttle.
>Luise, Luise!< schrie ich auf, in die Knie vor ihr stürzend, in
unmenschlicher Angst.
Die Gestalt erhob sich, kam schwankend auf mich zu und sagte, indem sie
mit eiskalter Hand mir über die Stirne strich:
>Ei, mein schön's Lieb, bist zurück aus fremdem Land? Hab lange auf dich
gewartet, mein blankes Herz!<
Schlug mir das Herz, daß mir der Harnisch zu springen drohte, den
betastete sie, und über dessen Glanz schien sie sich zu freuen.
Was weiter vorging, weiß ich nicht; noch eine Zeitlang hörte ich den
Gesang wie aus weiter Ferne:
>Es trägt mein Lieb ein schwarzes Kleid,
Darunter trägt sie groß Herzeleid<
-- dann vergingen mir die Sinne, -- das war meine Heimkehr aus dem
Franzosenkrieg. Ich erwachte am Abend in meinem eigenen Häuschen, das
ich vermietet hatte, und die alte Frau, die damals drinnen wohnte, saß
neben mir. Glaubte ich geträumt zu haben, -- einen bösen, bösen Traum;
besann mich erst allmählich wieder, und fügte es Gott, daß ich weinen
konnte. Erzählte mir die gute Frau den Eingang und Ausgang des Leidens,
und schaute ich nach meinen Pistolen, den bübischen Grafen hinzuschicken
vor Gottes Richterstuhl; erfuhr aber, daß er auf und davon sei in ferne
Länder; habe es ihn nicht mehr rasten und ruhen lassen, und sei er auf
einmal spurlos verschwunden gewesen, ohne über sein Verbleiben etwas zu
hinterlassen ...«
»Und hat ihn Gott davor behütet, uns vor die Augen zu kommen,« fiel mein
Oheim mit abgewandtem Gesicht ein.
»Schrieb ich dem Andreas am andern Morgen das Geschehene, denn er wußte
noch nichts davon; es war ein feiges Volk, so ihm auf vier Meilen Weges
nichts vermeldet hatte.«
Der Kranke im Bett stöhnte, als ob ihm das Herz zerbreche, während ich
schwindelnd und wortlos dasaß ...
»Verkauften wir unsere Liegenschaften und brachten wir die Luise und
Dich, Franz, ihr kleines Kind, hierher in den grünen Wald, allwo uns des
Fürsten Durchlaucht einen Unterschlupf gab. Die Luise war immer still
vor sich hin und ward immer stiller; sie sang nicht mehr ihre alten
Liederverse und saß am liebsten in der Sonne und hielt ihre armen
mageren Finger gegen das Sonnenlicht. Dann lachte sie wohl und sagte:
>Noch immer, -- noch immer, -- wie es rinnt, rinnt!<
Und eines Morgens -- -- -- Ja, wie war's denn, was ich einmal im
Franzosenland von einem den Offizieren vorlesen hörte, als ich Wache vor
dem Zelt stand. Ich glaube, Herr Goethe oder so nannten sie ihn, der es
las (er zog mit des Herzogs Durchlaucht) und es handelte von einer
dänischen Prinzessin, die wahnsinnig wurde, weil ihr Liebster sich
wahnsinnig gestellt hatte ...«
»Bleib bei der Stange, Burchhard,« rief mein Oheim plötzlich, sich
aufrichtend, -- »eines Morgens lag sie am Rande des Hungerteiches
ertrunken im Wasser!«
Laut aufschreiend stürzte ich auf die Knie und verbarg den Kopf in dem
Kissen des alten sterbenden Mannes. Dieser saß jetzt auf den Ellenbogen
gelehnt aufrecht, unterstützt von der weinenden Waldgrete, seine Augen
funkelten; er legte mir die Hand auf den Kopf und sagte leise:
»Er war jünger als Burchhard und ich; er wird leben; -- -- -- such ihn!«
Damit sank er erschöpft zurück, während ich betäubt liegen blieb.
Endlich legte mir der alte Burchhard die Hand auf die Schulter und
führte mich hinaus.
»Ich will Dir ein Wahrzeichen geben,« sagte er, als wir unter den grünen
Bäumen waren, die auf jene Tragödie ebenso grün und lustig herabgesehen
hatten. Wieder einmal folgte ich dem Laufe des Baches durch die freudige
Wildnis. Mit welchen Gefühlen?! -- Jetzt wußte ich, woher der tiefinnere
Zug nach dem stillen Waldteiche in mir kam! Da lag die klare Fläche in
der Abendglut vor uns, der leise Wind flüsterte in den Binsen, schlug
die gelben Irisglocken aneinander und schaukelte die auf ihren breiten
saftigen Blättern schwimmenden Wasserrosen; das war alles so friedlich,
so heimlich, so schön, und doch -- welch unnennbares Grauen gewährte mir
der Anblick!
»Als ich sie da fand,« sagte Burchhard, »hielt sie die eine Hand fest
zu, und das Gold eines Ringes schimmerte durch die starren Finger. Komm
mit!«
Der Alte führte mich seitab in den Wald, wo ein Stein mit einem Kreuz
bezeichnet im Moose lag. Er kniete nieder, hob ihn weg und wühlte eine
Zeitlang in der Erde.
»Da!« rief er plötzlich und schleuderte den kleinen goldenen Reif, als
habe er eine Schlange berührt, ins Gras. Es war auch eine Schlange, die
einen wappengeschmückten Rubin mit Kopf und Schweifende umschlang. Du
wirst ihn in diesem Kästchen finden, Johannes!
An jenem Abend noch starb mein Oheim, und ich führte seine Leiche, wie
Du weißt, Johannes, nach Ulfelden. Ich weiß nicht, der Tod des alten
Mannes erschien mir als gleichgültig im Vergleich mit dem Schrecklichen,
welches mir enthüllt war. -- Es war übrigens ein seltsamer Zug; wir
hatten den schwarzen Sarg auf einen niedern Wagen, mit Zweigen und
Waldblumen geschmückt, gestellt; die Holzhauer mit ihren Äxten, die
umwohnenden Köhler mit ihren Schürstangen gaben ihm das Geleit. Dicht
hinter dem Sarge schritt der alte Burchhard, die Büchse und das Waldhorn
über der Schulter, die Hunde um ihn her. Von Zeit zu Zeit blies er eine
lustige schmetternde Jägerweise, welche er dann ergreifend und seltsam
in einen Choral übergehen ließ. Unter den letzten Bäumen hielt er an,
die Holzhauer und Köhler um ihn her; noch einmal blies er einen
fröhlichen Jagdgruß, dann drückte er mir schweigend die Hand und sagte
dumpf: Lebe wohl, Franz Ralff! und schritt langsam in den Wald zurück,
und immer ferner hörte ich die Töne seines Hornes verklingen. Der Ohm
wurde auf dem Ulfeldener Kirchhof, dicht neben seiner Schwester, meiner
Mutter, begraben. Den alten Burchhard habe ich nicht wieder gesehen; ich
hielt's nun gar nicht mehr aus in der engen Welt um mich her, ich ging
nach Italien. Burchhard aber zog nach dem Harz, wo Verwandte von ihm
lebten, und wo er auch bald gestorben ist.
Das, Johannes, ist _der_ Teil meiner Geschichte, welchen selbst Du, mein
_Freund_, nicht kanntest. Ich überlasse Dir nun, welche Anwendung Du
davon einst für mein Kind wirst machen können; von _jenem_ Mann habe ich
nie eine Spur entdecken können. Versunken und vergessen! Das Schloß
Seeburg ist jetzt eine Fabrik!«
Da liegt das alte vergilbte Heft vor mir, aus welchem ich diese Bogen
der Chronik der Sperlingsgasse abgeschrieben habe. Lange saß ich noch an
jenem Tage neben meinem Freunde; er sprach viel von seinem Tode und
lächelte oft trübe vor sich hin. Während seiner Erzählung hatte er mit
der Reißkohle die Umrisse eines Kopfes auf der Leinwand vor ihm gezogen.
»_Das_ Bild male ich Dir erst noch, Johannes,« sagte er. Ich kannte die
milden Züge zu wohl, um sie nicht selbst in diesen leichten Linien zu
erkennen.
Und so geschah es! Je heller und sonniger die Farben auf der Leinwand
aufblühten, je lieblicher der Lockenkopf Mariens aus dem Grau
auftauchte, desto bleicher wurden die Wangen meines Freundes, und eines
Morgens -- war er ihr hinabgefolgt und hatte sein kleines Kind und
seinen Freund allein zurückgelassen.
^Have, pia anima!^


Am 24. Dezember.

Weihnachten! -- Welch ein prächtiges Wort! -- Immer höher türmt sich der
Schnee in den Straßen; immer länger werden die Eiszapfen an den
Dachtraufen; immer schwerer tauen am Morgen die gefrorenen
Fensterscheiben auf! Ach in vielen armen Wohnungen tun sie es gar nicht
mehr. -- Hinter den meisten Fenstern lugen erwartungsvolle
Kindergesichter hervor; da und dort liegt auf der weißen Decke des
Pflasters ein verlorner Tannenzweig. Es wird viel Goldschaum verkauft,
und bedeckte Platten von Eisenblech, die vorbeigetragen werden,
verbreiten einen wundervollen Duft.
»Was ist ein echter Hamburger Seelöwe?« fragte Strobel, der bei mir
eintrat und beim Abnehmen des Hutes ein Miniaturschneegestöber
hervorbrachte.
»Ein Hamburger Seelöwe?« fragte ich verwundert. »Doch nicht etwa ein
Mitglied des Rats der Oberalten?«
»Beinahe!« lachte der Zeichner. »Ein Hamburger Seelöwe ist eine
Hasenpfote, auf welche oben ein menschenähnliches Gesicht geleimt ist.
Ein solches Individuum versteht an einem Tischrande gar anmutige
Bewegungen zu machen. Sehen Sie hier!«
Dabei zog er den Gegenstand unseres Gesprächs hervor, hing ihn an meinen
Schreibtisch und brachte ihn durch eine Art Pendel in Bewegung.
»Ist das nicht eine wundervolle Erfindung?«
»Prächtig,« sagte ich, »in meiner Jugend brachte man aber denselben
Effekt durch den abgenagten Brustknochen eines Gänsebratens, in welchen
man eine Gabel steckte, hervor; aber die Kultur muß ja fortschreiten.«
»Ja, die Kultur schreitet fort!« seufzte der Zeichner. »Sogar die
einfachen Tannen machen allmählich diesen Pyramiden von bunten
Papierschnitzeln Platz. Papier, Papier überall! Aber was ich sagen
wollte: wäre es nicht eigentlich die Pflicht zweier Mitarbeiter der
>Welken Blätter<, jetzt auf die Weihnachtswanderung zu gehen?«
»Auch ich wollte Sie eben dazu auffordern,« sagte ich.
»Vorwärts!« rief Strobel und stülpte seinen Filz wieder auf, während ich
meinen Mantel und roten baumwollenen Regenschirm hervorsuchte.
Wir gingen. Den Hamburger Seelöwen ließen wir ruhig am Tische
fortbaumeln, nachdem ihm Strobel noch einen letzten Stoß gegeben hatte.
Zur Weihnachtszeit habe ich gern ein solches Spielzeug in der Nähe;
erfreute sich doch auch der alt und grau gewordene Jean Paul zu solcher
Zeit gern an dem Farbenduft einer hölzernen Kindertrompete.
Welch ein Gang war das, den ich mit dem tollen Karikaturenzeichner in
der Dämmerung des Abends machte! In wie viel Keller- und andere Fenster
mußte der Mensch gucken; in wie viel kleine frostgerötete Hände, die
sich an den Ecken und aus den Torwegen uns entgegenstreckten, ließ er
seine Viergroschenstücke gleiten! Welch ein Gang war das! Die Geister,
die den alten Scrooge des Meisters Boz über die Weihnachtswelt führten,
hätten mich nicht besser leiten können, als Herr Ulrich Strobel. Jetzt
betrachteten wir die phantastische Ausstellung eines Ladens, jetzt die
staunenden, verlangenden Gesichter davor; jetzt entdeckte Strobel eine
neue Idee in der Anfertigung eines Spielzeugs, jetzt ich; es war
wundervoll!
An der Ecke des Weihnachtsmarktes blieben wir stehen, in das fröhliche
Getümmel, welches sich dort umhertrieb, hineinblickend. Im
ununterbrochenen Zuge strömte das Volk an uns vorbei: Väter, auf jedem
Arme und an jedem Rockschoß ein Kind; Handwerksgesellen mit dem Schatz,
den sie aus der Küche der »Gnädigen« weggestohlen hatten; ehrliche,
unbeschreiblich gutmütig und dumm lächelnde Infanteristen, feine,
schmucke Garde-Schützen, schwere Dragoner und »klobige« Artillerie. --
Hier und da wanden sich junge Mädchen zierlich durch das Getümmel; jedes
Alter, jeder Stand war vertreten, ja sogar die vornehmste Welt
überschritt einmal ihre närrischen Grenzen und zeigte ihren Kindern die
-- Freude des Volks.
Der Zeichner war auf einmal sehr ernst geworden. »Sehen Sie,« sagte er,
»da strömt die Quelle, aus welcher die Kinderwelt ihr erstes Christentum
schöpft. Nicht dadurch, daß man ihnen von Gott und so weiter
Unverständliches vorräsoniert, sie Bibel- oder Gesangbuchverse auswendig
lernen läßt; nicht dadurch, daß man sie -- wo möglich in den Windeln --
in die Kirche schleppt, legt man den Keim der wunderbaren Religion in
ihre Herzen. An das Gewühl vor den Buden, an den grünen funkelnden
Tannenbaum knüpft das junge Gemüt seine ersten, wahren -- und was mehr
sagen will, wahrhaft kindlichen Begriffe davon!«
Ich wollte eben darauf etwas erwidern, als plötzlich eine Gestalt in
einen dunkeln Mantel gehüllt, ein Kind auf dem Arme tragend, an uns
vorbeischlüpfen wollte. Ein Strahl der nächsten Gaslaterne fiel auf ihr
Gesicht, es war die kleine Tänzerin aus der Sperlingsgasse. Ich freute
mich über die Begegnung und rief sie an:
»Das ist prächtig, Fräulein Rosalie, daß wir Sie treffen. Vielleicht
werden Sie uns erlauben, daß wir Sie begleiten; denn um die Mysterien
eines Weihnachtsmarktes zu durchdringen, ist es jedenfalls nötig, ein
Kind bei sich zu haben.«
Die Tänzerin knixte und sagte: »O, Sie sind zu gütig, meine Herren;
Alfred hat mir den ganzen Tag keine Ruhe gelassen, und da kein Theater
ist, so mußte ich ihm doch die Herrlichkeit zeigen.«
»Ja Mann,« -- sagte Alfred unter einer dicken Pudelmütze gar verwegen
hervorschauend -- »mitgehen!«
Ich stellte der Tänzerin den Nachbar Zeichner vor, und das vierblättrige
Kleeblatt war bald in der Stimmung, die ein Weihnachtsmarkt erfordert.
Was für ein Talent, Kinder vor Entzücken außer sich zu bringen,
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