Die Chronik der Sperlingsgasse - 05

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auch über drei Dinge: das Schloß am Schranke, die Katze und sich selbst.
Ihren Schwanz hätte sie ebenfalls gern hin und her geschleudert, aber
sie konnte es leider nicht, denn sie besaß nur einen ganz kleinen
Stummel, nicht der Rede wert. Das machte sie fast noch ergrimmter als
Miez, denn die konnte doch wenigstens ihrem Zorn Luft machen.
Nun, wer mochte diese zweite Person wohl sein Lise?«
»Der Hund, Marquarts Bello!« schrie Elise ganz entzückt.
»Geraten, es war Bello, der Edle; ein weitläufiger Verwandter vom
Rezensenten und sonst auch ein ganz netter Kerl, aber -- wie gesagt --
vor dem Schrank hatte er nichts zu suchen!
>Nun?< sagte Miez, den Bello anguckend.
>Nun?< sagte Bello, die Miez anguckend.
>Miau!< klagte Miez, den Schrank anguckend.
>Wau!< heulte Bello, den Schrank anguckend.
So weit waren sie; sie wollten aber dabei nicht bleiben.
>Packen Sie sich auf den Hof,< sagte die Katze, >was haben Sie hier zu
gaffen?<
>_Sie_ hätte ich Lust zu packen,< schrie der Hund, >scheren Sie sich
gefälligst auf Ihren Boden und fangen Sie Mäuse. Aufkriegen _Sie_ ihn
doch nicht!<
>Pah!< sagte die Katze und schleuderte ihren schönen Schweif dem Hunde
zu, welches so viel heißen sollte, als: >Armer Kurzstummel, wenn ich nur
wollte!< Das war aber dem armen Bello zu viel, denn jede Anspielung auf
seinen Stummel machte ihn wütend, wie auch der Swinegel, der, wie Du
weißt, mit dem Hasen auf der Buxtehuder Heide um die Wette lief, nichts
auf seine krummen Beine kommen ließ.
Auf sprang also Bello, heulte furchtbar und wollte eben der Miez an ihr
schönes glattes Fell, als auf einmal ...
Piep, Piep, Piep! es im Schranke ertönte.
>Mause, Mi--ause, Mi--ause am Braten drinnen -- und ich dri--außen,
dri--außen, dri--i--i--außen!< jammerte die Katze.
>Wau, wau; das kommt von Ihrem albernen Betragen und Ihrer
Nachlässigkeit!< heulte der Hund, und dann -- kam Martha vom Markte
zurück, und Hund und Katze gingen hin, wo sie her gekommen waren.
Jetzt aber, mein Kind, schlaf ein und schwitze recht tüchtig, damit wir
morgen die Stelle besehen können, wo diese merkwürdige Geschichte
vorgefallen ist.« Und so geschah's; Lischen schlief ein, ich aber freute
mich, wieder einmal ein Märchen beendet zu haben, wie ein wahres Märchen
enden muß; nämlich ohne allzu klugen Schluß und Moral. Daß der Doktor
nicht bei meiner Erzählung zugegen war, konnte mir ebenfalls nur lieb
sein. Jedenfalls hätte er wieder schnöde politische Vergleiche und
Anspielungen losgelassen, was mir sehr unangenehm gewesen wäre.
»Herr Wachholder,« sagte Martha auf einmal ganz treuherzig -- »das Loch
im Schranke hat der Tischler Rudolf schon wieder zugemacht. Die Mäuse
können nun nicht mehr hinein.«
»Bis sie sich wieder durchgefressen haben, Martha!« Ich dachte an den
Doktor und seine Anspielungen.


Am 11. Januar.

Wie der Efeu aus dem Ulfeldener Walde höher und höher hinaufsteigt an
der Wand des Fensters, geküßt von der warmen Sonne, getränkt von kleinen
sorgenden Händen, welche alle verwelkten gelben Blätter abpflückten, daß
die Pflanze immer frisch und jung dastehe!
Aus Tagen werden Wochen, aus Wochen Monate, aus Monaten Jahre, und das
junge Menschenkind wächst und entfaltet sich schöner und blühender als
die köstlichste, wundersamste Pflanze. Die alte Martha wird immer älter
und gebückter, und graues Haar mischt sich mehr und mehr unter mein
braunes. Zum erstenmal ist der Tod an mein Kind herangetreten. Es hat
über der ersten Leiche geweint. Der hübsche goldgelbe Kanarienvogel, der
so zahm und lieb war, lag eines Morgens kalt und erstarrt auf dem Boden
seines kleinen Hauses.
So fand ihn Elise und schrie auf, nahm ihn in ihre Hände, hauchte ihn an
und suchte ihn zu erwärmen, -- ach, armes Kind: die Toten kommen nicht
wieder!
Leg ihn nieder, deinen kleinen Freund; auch dir jungem Wesen ist es
jetzt schon nicht mehr vergönnt, zu klagen und zu trauern, wie du wohl
möchtest; auch dich hat das Leben jetzt schon erfaßt und in seine Wirbel
gezogen; -- gehe hin mit deinem gedrückten kleinen Herzen, daß du die
Schule nicht versäumst! -- Elf Jahre alt ist mein Kind jetzt in den
Blättern der Chronik. Das runde Gesichtchen zieht sich schon mehr und
mehr zu jenem Oval, welches das Bild dort an der Wand so lieblich macht;
aus Lischens Kinderstimme klingt mir nun oftmals -- wenn sie sich
wundert, sich freut oder klagt -- ein Ton entgegen, der mich fast
erschreckt auffahren läßt. Es ist derselbe Ausruf, den _sie_ an sich
hatte! Wer hat ihn dich gelehrt, kleines Herz? Diesen Ton, den ich für
ewig verklungen hielt, und welcher jetzt nach so langen Jahren wieder
frisch und lebendig wird?
Weine nicht mehr, Lischen, sieh, ich will dich an ernstere Gräber
führen, draußen vor der Stadt. Da wollen wir uns hinsetzen unter die
blühenden Rosenbüsche und denken, daß die Welt so groß, so unendlich
groß sei, und doch nichts darin verloren gehe! Da wollen wir auch dem
toten Vogel sein kleines Grab graben und uns vorstellen, daß im nächsten
Frühlinge aus seinem Leibe eine hübsche goldgelbe Blume aufsprießen
werde: zur Freude des bunten winzigen Schmetterlings und des großen,
ewigen Gottes.
Stecke dein Butterbrot in deine Korbtasche, Lischen (wenn du es heute
vielleicht auch verschenken wirst) -- gib mir einen Kuß und grüße den
Herrn Lehrer Roder. Du kannst ihn auch fragen, ob er nicht morgen am
Sonntag mit uns hinausgehen wolle in den Wald und vielleicht noch
weiter.
Lischen nickte und ging -- noch immer schluchzend; ich aber machte mich
auf den Weg zur Expedition der >Welken Blätter<, ohne eine Ahnung von
dem neuen tragischen Ereignis, welches den Tag noch wichtig machen
sollte.
Mohrenstraße Nr. 66 war damals schon und ist auch heut noch das Bureau
dieses bekannten Blattes. Ich hatte bald meine Geschäfte abgemacht mit
dem Hauptredakteur, dem Doktor Brummer, einem kleinen, quecksilbrigen
Individuum mit goldener Brille und roter Perücke -- jetzt lange tot --
und schwatzte noch mit den anwesenden Journalisten und den Künstlern
beiderlei Geschlechts, die gelobt sein wollten, als plötzlich die Türe
aufgerissen wurde, und der Doktor Wimmer erschien, begleitet von dem uns
nur zu wohl bekannten dicken, hochrotgesichtigen Polizeikommissar
Stulpnase. Da sie miteinander eintraten, war es nicht ausgemacht, wer
von beiden den andern eigentlich mitschleppe.
»Meine Herren,« schrie einen gestempelten Bogen schwingend der Doktor,
»ausgewiesen!«
»Ausgewiesen!?« ertönte es im Chor verwundert und fragend.
»Auskewiesen? Was das sein, Signore dottore?« fragte Signora Lucia
Pollastra, die jüngst angekommene Baßsängerin.
»Ausgewiesen -- ausgewiesen -- das heißt -- ^cela veut dire^: --
^eliminito^!« sagte der Hauptredakteur, der alle Sprachen zu kennen
glaubte.
»^Dio mio^!« rief die Sängerin, die so klug als zuvor war.
»Sehen Sie, Wimmer, ich hab's mir gleich gedacht!« schrie eine feine
sächsische Stimme, die dem zweiten Redakteur Flußmann aus »Dresen«
zugehörte -- »wie konnten Sie aber auch _das_ schreiben?«
Der Journalist nahm die letzte Nummer der >Welken Blätter< und las:
... Und wenn alle Esel dieser Maßregel Beifall brüllen sollten: ich kann
sie nur »_bewimmern_!«
-- »Und er hatte seinen Lohn dahin und wurde selbst gemaßregelt!« sagte
der Doktor, welcher sehr gemütlich, den Hut auf einem Ohr, die Zigarre
im Munde, auf einem hohen Dreibein saß.
»Ich hätte das Deinetwegen schon nicht aufnehmen sollen, Wimmer!« sagte
Brummer.
»Dann hättest Du ja selbst unter die Beifallsbrüller gehört, Alter!«
Jetzt mischte sich aber die hohe Polizei ein, welche bis dahin
stillgeschwiegen und nur mit Würde geschnauft hatte.
»Also in vierundzwanzig Stunden, Herr Doktor« ...
»Habe ich das Nest hinter mir, Edelster! Seien Sie unbesorgt!« lachte
der Doktor. »Aber halt, Verehrtester, würden Sie mir vielleicht wohl
erlauben, Ihnen jetzt noch eine kleine Rede zu halten? -- Fritze,
Lümmel! Gib dem Herrn Kommissar einen Stuhl!«
Fritze, der unendlich selig grinste, kam dem Gebote nach; die Polizei
ließ sich schnaufend nieder, und ihr Opfer -- begann:
»Ich habe in Jena studiert, Herr Polizeikommissarius. Das ist eine
allgemein historische Tatsache, aber es knüpft sich Bemerkenswertes
daran. Damals gab es dort einen raffiniert groben Philister, Deppe
genannt, der alle Augenblicke eine sehr drastische Redensart
herausdonnerte, übrigens aber der Gott aller der wilden Völkerschaften:
Vandalen, Hunnen, Alanen, Viso-, Möso- und Ostrogoten u. s. w. u. s. w.
war. Verehrtester Herr Kommissarius, der deutsche Student, viel zu
zartfühlend, viel zu sehr von Albertis Komplimentierbuch angekränkelt,
konnte unmöglich _diese_ Redensart adoptieren. Ebensowenig aber konnte
er auch den Effekt derselben auf Pedelle, Manichäer und dergleichen
Gesindel entbehren. Was tat er? -- Er deckte Rosen auf den Molch und
sagte: Deppe! -- Deppe überall! Deppe konnte jeder Rektor magnificus,
Deppe jeder Professor, Deppe jede Professorentochter sagen. Also, Herr
Polizeikommissarius: _Deppe!_ -- 'n Morgen, meine Herren, Addio, Signora
Pollastra, brüllen auch Sie wohl! Ich muß packen!«
Damit schob sich der Doktor der Philosophie Heinrich Wimmer und verließ
das Expeditionszimmer der >Welken Blätter<, um es nie wieder zu
betreten.
Nie aber habe ich ein solches Gesicht wiedergesehen, als das des edlen
Stulpnase. Sprachlos saß er da; auf einmal aber sprang er auf, stülpte
den Dreimaster über und schrie:
»Man soll ja nicht denken, seinen Spaß mit einer hohen Behörde treiben
zu können!« Damit stürzte auch er fort.
»Wenn er nur nicht herausbringt, was Deppe heißt!« sagte der
Hauptredakteur unter dem unendlichen Gelächter der Redaktion und der
Anwesenden, und die Versammlung löste sich auf.
Nach Hause zurückgekehrt, traf ich die kleine Lise, die bereits aus
ihrer Schule heimgekommen war, über einer bunten Pappschachtel an, in
welche Martha den Vogel gelegt hatte. Den Doktor hörte ich drüben
gewaltig rumoren, und von Zeit zu Zeit erschien er am Fenster, blies
eine Rauchwolke zum blauen Sommerhimmel hinauf oder pfiff eine Passage
aus dem österreichischen Landsturm, seinem Lieblingsstück. Der kleinen
Lise sagte ich von dem Schicksal ihres dicken Freundes noch nichts; ich
wollte ihr das Herz nicht noch schwerer machen. Mittags konnte sie schon
so vor Betrübnis nichts essen, obgleich sie ihr Butterbrot richtig
weggeschenkt hatte. Alle Augenblicke richteten sich ihre Augen auf die
bunte Schachtel, worin das tote Tier lag.
Am Abend begruben wir es unter dem blühenden Rosenstrauch zu den Füßen
der Gräber von Franz und Marie. Die roten Abendwolken segelten über uns
weg, die Rosen dufteten so herrlich; überall Licht und Blumen. Ich saß
auf dem Bänkchen neben den Gräbern; Elise hatte ihr Köpfchen an meine
Brust gelegt, sie hatte sich so müde getrauert, daß sie -- o glückliche
Kindheit! -- die Augen schloß und einschlummerte.
Eine schöne, ältere, bleiche, schwarzgekleidete Dame kam und kniete an
einem einfachen Denkmale nieder; arme Kinder legten weiter weg an der
Kirchhofsmauer Waldblumenkränze auf das Grab des toten Vaters; ein Greis
schritt gebückt unter den Steinen und Kreuzen umher, die Aufschriften
lesend.
In der Stadt verkündeten alle Glocken den morgenden Sonntag; voll und
rein wogten die feierlichen Klänge, die in den Straßen im Rollen und
Rauschen der Arbeit ersticken, über diese stille Welt hinweg. Immer
goldner glänzte der Himmel im Westen, immer tiefer sank die Sonne dem
Horizont zu. Nacht ward's auf der einen Hälfte dieses drehenden Balles,
während auf dem großen atlantischen Ozean vielleicht eben ein Schiff dem
jungen Amerika entgegensegelnd, die Sonne aufsteigend begrüßte.
Vielleicht ist es nur _ein_ Schiff, das jetzt im jungen Tage segelt,
während hier die Nacht sich über so viele Millionen legt. Dort steht der
Führer auf dem Verdeck, das Fernrohr in der Hand; im Mastkorb schaut ein
freudiges Auge nach dem ersehnten Lande aus, überall Leben und Bewegung.
-- Hier zündet der einsame Denker seine Lampe an und schlägt die Bücher
der Vergangenheit auf, die Zukunft daraus zu enträtseln, und findet
vielleicht, daß die Nacht, die auf den Völkern liegt, ewig dauern wird,
in demselben Augenblick, wo auf jenem einsamen Schiff der
Willkommensschuß donnert: »Amerika!« die zu dem Schiffsrand stürzende
Auswandererschar ruft, und eine Mutter ihr kleines lächelndes Kind in
die Morgensonne und dem neuen Vaterland entgegenhält!
Das Gras fängt an feucht zu werden, ich muß meine kleine Schläferin
aufwecken. Die bleiche Frau erhebt sich ebenfalls; sie kommt auf uns zu.
Wir kennen uns nicht; aber hier auf dem Kirchhof scheut sie sich nicht,
sich über mich und das schlummernde Kind zu beugen.
»Lassen Sie mich die Kleine küssen!« sagt sie.
Ich sehe sie unter den Bäumen verschwinden, ein Tuch vor den Augen.
Elise erwacht: »O wie schön!« ruft sie, in die Glut des Abends schauend.
»Gute Nacht, Franz! Gute Nacht, Maria!«
* * * * *
Holla! Was ist in der Sperlingsgasse los? Als wir nach Haus kommen,
herrscht ein Tumult darin, wie ich ihn noch nie darin erlebt habe. In
allen Haustüren schwatzende Gruppen, jede Arbeit eingestellt:
Salatwaschen, Schuhflicken, Strümpfestopfen, Hämmern, Sägen,
Federkritzeln, alles ins Stocken geraten, nur nicht -- die Zungen!
»O je, o je, Herr Wachholder, sehen Sie mal da oben!« schreit Martha,
die auf der Treppe unserer Haustür, umgeben von einem Kreis
Nachbarinnen, Posto gefaßt hat, mir schon von weitem zu.
»Was gibt's denn, Martha? Was ist los?« rufe ich ihr entgegen.
»Der Herr Doktor Wimmer ist los!« jubeln zwanzig Stimmen um mich her,
und zwanzig Finger zeigen nach dem Fenster des vortrefflichen Burschen,
welcher bis jetzt der »bunte Hund« der ganzen Gasse war.
Ein großer Bogen Papier flattert dort oben, und darauf steht mit
gewaltigen Buchstaben:
^Dr. WIMMER^
^P. P. C.^
Aus dem offenen Fenster aber beugt sich -- Herrn Polizeikommissarius
Stulpnases ehrwürdiges Vollmondgesicht, und seine weißbehandschuhten
Hände sind bemüht, den Zettel abzunehmen.
Ich überliefere schnell die verwunderte Lise der alten Martha und steige
die Treppen zu der Wohnung des Doktors hinauf, welches sehr langsam
geht, denn vor mir her schiebt sich eine unbeschreibliche, wunderbare
Masse von Kleidungsstücken ächzend und stöhnend den engen Weg langsam,
langsam hinauf.
Das war die dicke Madame Pimpernell, welche das Ereignis seit langen
Jahren zum erstenmal wieder in die obern Räume ihres Hauses trieb.
Das Zimmer beschrieb ich neulich bei meinem Besuch des Zeichners Strobel
und brauchte daher jetzt nur zu sagen, daß der Nachlaß des Doktors in
einem zerspaltenen Stiefelknecht, einer leeren Zigarrenkiste ^Fumadores
regalia^, und -- einem Exemplar der Flodoardine bestand.
Stulpnase saß da auf einem Stuhl, schaute das leere Nest
wehmütig-grimmig an und ächzte:
»Ausgewiesen! Nun gar ausgekniffen! Donnerwetter -- ohne erst für seinen
>Deppe< gesessen zu haben.«
»Jotte, einer armen Witfrau ihren besten Mieter abzutreiben, is das in
der Ordnung, Herr Kumzarius? Habe ich darum Ihrer Frau die Butter immer
um nen Dreier billiger gelassen?« greint die dicke Madame Pimpernell,
die ebenfalls dem Beamten gegenüber auf einen Stuhl gesunken ist.
»Halte Sie das Maul, Frau!« schnauzt Stulpnase, worauf die Dicke ein
Gesicht macht, wie es einst jenes brave korinthische Weib geschnitten
haben muß, als es das Wort des Apostel Paulus hörte: ^Mulier taceat in
ecclesia^.
Nach einer feierlichen Stille von einigen Minuten stößt Stulpnase ein
dumpfes Geheul aus und seufzt in sich: »Deppe.« Plötzlich aber, mit Wut
auf seine Brusttasche schlagend, schreit er: »Und hier hab' ich den
Verhaftsbefehl: Beleidigung eines Beamten im Dienst, und --
ausgekniffen!«
Ich wage es nicht, den aufgebrachten Leuen durch Lachen noch mehr zu
reizen, verschwinde und platze erst auf der Treppe los, die beiden
Würdigen einander gegenüber sitzen lassend.
In der Gasse steckt mir Marquart ein Billet zu und flüstert
geheimnisvoll, nach dem Fenster des Doktors deutend:
»Das hat _er_ zurückgelassen für Sie, Herr Wachholder!«
Der Zettel lautet:
»_Liebster Freund_!
Eine hohe Polizei weiß, was >Deppe< heißt, obgleich es nicht im
Konversationslexikon steht. Ein Freund hat mich gewarnt; -- ich
verschwinde! -- In den böhmischen Wäldern sehen wir uns wieder!
Dr. _Wimmer_.
^P. S.^ Der Redaktionspudel begleitet mich!«
»Onkel, was soll denn das alles bedeuten, wo ist denn der Onkel Doktor?«
fragt die kleine Lise, welche, obgleich schon im Nachtzeug, nicht vom
Fenster weggekommen ist.
Ich schreibe: ^pour prendre congé^ auf einen Zettel, und Lischen, die
jetzt schon eine kleine Gelehrte ist, hat mit Hilfe eines Diktionärs
noch vor dem Schlafengehen heraus:
»Um -- nehmen -- Abschied.«
»Der Onkel Wimmer muß eine kleine Reise machen, Schatz!«
Damit geht Elise getröstet zu Bette und verschläft und verträumt sanft
ihren ersten Schmerz. In diesem Alter genügt noch _eine Nacht_, ihn zu
begraben.


Am 12. Januar.

Ich hab's mir wohl gedacht, als ich diese Bogen falzte, und ich hab's
auch wohl mit aufgeschrieben, daß ihr Inhalt nicht viel Zusammenhang
haben würde. Ich weile in der Minute und springe über Jahre fort; ich
male Bilder und bringe keine Handlung; ich breche ab, ohne den alten Ton
ausklingen zu lassen: ich will nicht lehren, sondern ich will vergessen,
ich -- schreibe keinen Roman!
Heute werfe ich zum erstenmal einen prüfenden Blick zurück und muß
selber lächeln. Alter Kopf, was machst du? Was werden die vernünftigen
Leute sagen, wenn diese Blätter einmal das Unglück haben sollten,
hinauszugeraten unter sie?
Doch -- einerlei! Laß sie sprechen, was sie wollen: ich segne doch die
Stunde, wo ich den Entschluß faßte, diese Blätter zu bekritzeln, mit
einem Fuß in der Gegenwart und Wirklichkeit, mit dem andern im Traum und
in der Vergangenheit! -- Wie viel trübe, einsame Stunden sind mir
dadurch nicht vorüber geschlüpft sonnig und hell, ein Bild das andere
nachziehend, dieses festgehalten, jenes entgleitend: ein buntes
freundliches Wechselspiel! So schreibe ich weiter.
Manche alte verstaubte Mappe mit Büchern, Heften, Zeichnungen,
vertrockneten Blumen und Bändern liegt da; ich brauche nur
hineinzugreifen, um eine süße oder traurige Erinnerung aufsteigen zu
lassen, keine aber so duftig, so waldfrisch, als die folgende, welche
ich überschreibe:
_Ein Tag im Walde._
»Fahren wir, oder gehen wir?« hatte Lischen am Abend jenes auf den
vorigen Seiten beschriebenen so ereignisvollen Tages noch gefragt.
»Wir fahren!« war die Antwort gewesen, und glücklich darüber hatte das
Kind das Näschen nach der Wand gekehrt und war eingeschlafen.
Mit dem Wagen erschien am andern Morgen auch Roder, der Lehrer Elisens,
den leichten Strohhut auf dem Kopf, die grüne Botanisierbüchse auf dem
Rücken, schon an der Ecke lustig nach dem Fenster hinaufwinkend.
Die alte Martha hatte den Kaffee fertig, und Lischen, die bei ihrem
Eifer, ebenfalls fertig zu sein, diesmal mehr Hilfe als gewöhnlich nötig
gehabt hatte, sprang die Treppe hinunter und erschien nun, den Lehrer
hinter sich herziehend.
Roder ist einer jener Volkslehrer, wie sie nur Deutschland hervorbringt.
Er ist, wie es sich fast von selbst versteht, der Sohn eines
Schulmeisters, der wiederum der Sohn eines Schulmeisters war; denn wenn
es einen Stand gibt, welcher sich durch Generationen fortpflanzt, so ist
es das deutsche Volkslehrertum. Da bringt der Vater vom Lande einen
seiner gewöhnlich sehr zahlreichen Söhne in die Stadt; mit einer Bibel,
einem Gesangbuch und vor allem einem Choralbuch als Bibliothek. Der
Junge ist der Stolz seines Vaters. Wer hat ein größeres Talent, die
Orgel zu spielen? Wer hat eine bessere Stimme -- wenn sie auch gerade
sich setzt? So ausgerüstet betritt der junge Gelehrte den Schauplatz
seiner weitern Ausbildung; gewaltig packt ihn anfangs das Heimweh unter
der wilden Bande seiner Mitschüler, die ihn hänseln und zum besten haben
in seiner Gutmütigkeit und Unerfahrenheit. Das Leben ist ihm anfangs nur
ein erster April, wo man die Narren »umherschickt -- in den April«.
Selbst der Zuwachs seiner Bibliothek, bestehend aus den Schulbüchern
seiner Klasse und Funkes Naturgeschichte, vermag ihn nur mittelmäßig zu
trösten; ein größerer Freund ist ihm in dieser Epoche seines Daseins das
alte wacklige Klavier, welches ihm der Vater für ein billiges gemietet
und in sein Dachstübchen gestellt hat. Davor sitzt der Arme und spielt
seine Choräle und Volksweisen -- letztere nach dem Gehör, und denkt
zurück an sein Dorf, an seine Eltern und Geschwister, und vor allem an
die Schule, in welcher er der erste war -- ja sogar in der Ernte den
Vater zuweilen vertreten durfte; während er hier -- er der große Bengel!
-- ganz unten seinen Platz unter den Kleinsten, Dümmsten und Faulsten
bekommen hat!
Warte nur, armer Kerl -- sieh, da bricht schon der erste freudige Strahl
in dein dunkles Sein. Gewöhnlich gibt es auf jeder Schule einen Lehrer,
der ein Original, ein Sammler, vielleicht ein leidenschaftlicher
Naturfreund ist, womit meistens die Gabe der Mitteilung sich verbindet,
dem begegne, du armes einsames Gemüt, und du wirst einen Freund gefunden
haben. Jetzt verändert sich alles!
Welch ein Schweifen nun über Berg und Tal; welch ein Versenken in all
die kleinen und kleinsten gewaltigen Wunder in der Luft, im Wasser, auf
und unter der Erde! Wie sich das Dachstübchen füllt mit Käfern,
Schmetterlingen, Herbarien u. s. w. Welch eine selige Ermüdung an jedem
Abend, welch ein Träumen in der Nacht, welch ein Erwachen am Morgen!
Nun zieht eine Wissenschaft alle andern nach sich; die Klassen werden
durchflogen -- den Schiller lernen wir auswendig, und die Welt dehnt
sich immer schöner und weiter vor uns aus. -- Ach ein Faust zu sein, ist
es nicht nötig alles studiert zu _haben_: das _Wollen_ allein genügt,
den Mephistopheles aus dem Nebel hervortreten zu lassen!
Stütze nur die heiße Stirn auf die Hand, du Sohn Deutschlands, in langen
durchwachten Nächten, beschwöre nur die Geister alter und neuer Zeit
herauf, sie sind doch stets um dich, die Gespenster: Lebensnot und
Zweifel und vergebliches Streben!
Der Arm der Notwendigkeit faßt dich und schleudert dich mit deinem
Wissensdrang in ein abgelegenes Walddorf oder an die Armenschule einer
großen Stadt; da begrab dein volles Herz und suche -- zu vergessen!
Glücklich, wenn du's kannst; glücklicher aber vielleicht doch, wenn es
dir gegeben ist, auch hier weiter zu suchen. Der Pulsschlag des
Weltgeistes pocht ja überall: »Suchet, so werdet ihr ihn finden!« sagt
das schönste der Bücher, das so leicht zu verstehen ist und so schwer
verstanden wird.
Ungeduldig klatscht der Kutscher unten vor der Tür, ungeduldig treibt
Elise; während Martha noch immer Zurüstungen macht wie zu einer Reise
nach dem Nordpol. Endlich aber steigen wir in den Wagen.
Unsere Sonntagsodyssee beginnt.
»Hätte der Onkel Doktor nicht morgen abreisen können?« fragt noch
Lischen nach dem Zettel droben schauend, auf welchem die Madame
Pimpernell ankündigt:
»Hier ist eine Stube mit Kabinett zu vermieten.«
Roder lächelt, scheint etwas auf dem Herzen zu haben, aber sich
gegenwärtig auf weiteres nicht einlassen zu wollen, und so rollen wir
durch die noch stillen Straßen dem Tore zu. An den Wochentagen ist's um
diese Zeit schon lebendig genug, heute aber schläft das Volk der Arbeit
in den Morgen und den Sonntag hinein; es hat das Recht dazu nach sechs
Schöpfungstagen.
Jetzt sind wir in den grünen Anlagen, die sich rings um die Stadt
ziehen. Landhäuser und Gärten fassen auf beiden Seiten die Straße ein.
Eine Eisenbahnlinie geht mitten über den Weg, und wir müssen anhalten,
denn ein Zug fliegt eben brausend und schnaubend dem Bahnhofe zu. Der
Sonntag, welcher den Städter hinausführt, bringt den Landmann hinein in
die Stadt, und alle die Tausende, die heute ein- und ausfliegen werden,
suchen alle ein andres Ziel des Genusses; jeder die Freude auf eine
andre Weise.
Schon haben wir die letzten Gärten hinter uns und fahren nun langsam die
Pappelallee hinauf den Höhen zu, welche im weiten Umkreis die große
Ebene und die große Stadt umgrenzen. Die Sonne steigt empor über dem
Walde; die Knospen, die Blätter, die Blumen tragen alle einen
Tautropfen, das Geschenk der Nacht; die Lerche erhebt sich jubelnd in
die blaue, frische Luft, und auch sie schüttelt Tau von den Flügeln.
Wenn wir zurückblicken, liegt die große Stadt noch verhüllt in dem
silbergrauen Duftschleier, den sie selbst sich webt, und den sie, wie
Penelope den ihrigen, nur zertrennt, um ihn von neuem zu knüpfen. Wie
eingewebte Goldsterne blitzen die Kreuze der Türme -- die Zeichen des
Leids -- darauf. -- Wir aber fahren schon im vollen Sonnenschein, und
jetzt sind wir am Rande des Waldes angekommen; nun brauchen wir den
Wagen nicht mehr, und schnell rollt er die Höhen wieder hinab, der Stadt
zu.
Was trappelt auf einmal vor uns und raschelt durch das welke Laub des
vorigen Jahres, das den Boden bedeckt? Was bricht da durchs Gebüsch, die
Ohren und den schwarzen Pelz naß vom Morgentau, lustig jetzt um uns her
bellend und springend und die hellen blitzenden Tropfen abschüttelnd?
»Hurra! Willkommen im Walde!« ruft eine wohlbekannte Baßstimme.
Wer trabt da lachend her -- hinter einer kleinen Rauchwolke, eine hohe
schwankende Königskerze auf dem Hut, -- auf dem Fußpfade, der seitab
tiefer ins Holz führt?
»Willkommen, fahrender Recke!« ruft Roder, den Hut schwingend.
»Allerseits schönsten guten Morgen!« grüßt der ausgewiesene Doktor, den
abgenommenen Maulkorb des Pudels in die Höhe schleudernd und
wiederfangend.
»Hast Du mit Rezensent im Walde geschlafen?« fragt die kleine Lise.
»Der Herr Polizeikommissarius läßt Sie grüßen, Wimmer!« lache ich.
Jeder hat zu gleicher Zeit zu fragen und zu antworten, und jeder tut es
auch, während Rezensent sich immer dicht an Elise hält, von Zeit zu Zeit
ein kurzes fideles Gebell ausstößt und fest unsern Proviantkorb im Auge
behält.
Mit pathetischer Gebärde tritt jetzt der Doktor an den Rand der Höhe,
streckt den Arm gegen die Stadt aus und deklamiert: »Ha, da liegt sie --
die Undankbare, sie, in welcher ich meine Nächte durchwachte und meine
Tage verschlief -- Sänger und Sängerinnen, Schauspieler und
Schauspielerinnen, Ballettänzer und Ballettänzerinnen lobte oder
herunterriß -- in welcher ich so manchen Leitartikel schrieb -- in
welcher ich so manche Pfeife rauchte! Da liegt sie wollüstig träumend im
Morgenschlummer, während ich umherirre, verbannt, vertrieben, an die
Luft gesetzt, ^eliminito^, wie der Doktor Brummer sagte; gejagt,
gemaßregelt -- ein Lamm im scharfen Nordwind. Nest! -- Brüste Dich mit
Deinen Gardeleutnants, Deiner famosen Musenbude, die ich dort über die
Dächer zwischen dem Pfeffer- und Salzfasse ragen sehe; ich verachte
Dich, ein deutscher Zeitungsschreiber! Mache in der Liste Deiner unter
polizeilicher Aufsicht Stehenden ein dickes Kreuz hinter dem Namen:
Heinrich Theobald Wimmer ^Dr. phil.^, setze ein dreimal unterstrichenes
>_Ausgewiesen_< dahinter; ich schüttle Deinen Staub von meinen Füßen,
ich verachte Dich! -- Bin ich nicht heimatsberechtigt in
München an der Isar, stehen nicht viele Löcher offen im edlen
Was-ist-des-Deutschen-Vaterland? Zeugt nicht dieser solide Bauch (hier
schlug sich der Doktor auf den erwähnten Körperteil) von Bayern? Es lebe
München! -- Ha, prophetisch verkünde ich Dir, ausweisender Pascha von
soundsoviel Roßschweifen: ein Schmächtigerer aber Giftigerer wird meine
Stelle einnehmen. Erfahren sollst Du zeitungenüberwachende Behörde, daß
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