Die Chronik der Sperlingsgasse - 02

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Eine andre Gestalt kommt um die Ecke -- ein leiser Pfiff --
»Du hast mich lange warten lassen, Riekchen!«
»Ich konnte nicht eher, die Mutter ist erst eben eingeschlafen« ...
Ein in der Ferne rollender Wagen macht das Übrige unhörbar. Die Figuren
treten aus dem Schatten; ich sehe Ballputz unter den dunkeln Mänteln.
Sie verschwinden um die Ecke, und ich schließe das Fenster.
So endet das erste Blatt der Chronik, die wie die Geschichte der
Menschheit, wie die Geschichte des einzelnen beginnt mit -- einem
_Traume_.


Am 2. Dezember.

Es ist heute für mich der Jahrestag eines großen Schmerzes, und doch
trat heute Morgen der Humor auf meine Schwelle, schüttelte seine
Schellen, schwang seine Pritsche und sagte:
»Lache, lache, Johannes, Du bist alt und hast keine Zeit mehr zu
verlieren.«
Jener sonderbare lange Mensch von drüben, im abgetragenen grauen
Flausrock, einen ziemlich rot und schäbig blickenden Hut unter dem Arme,
klopfte an meine Tür, kündigte sich als der Karikaturenzeichner Ulrich
Strobel an, breitete eine Menge der tollsten Blätter auf dem Tische vor
mir aus und verlangte: ich solle ihm für den Winter -- den Sommer über
bummele er draußen herum -- eine Stelle als Zeichner bei einem der
hiesigen illustrierten Blätter verschaffen. Er behauptete, meinen dicken
Freund, den Doktor Wimmer in München, sehr gut zu kennen, und malte
wirklich als Wahrzeichen das heitere Gesicht des vortrefflichen
Schriftstellers sogleich auf die innere Seite des Deckels eines
daliegenden Buches. Ich versprach dem wunderlichen Burschen, dessen
Federzeichnungen wirklich ganz prächtig waren, von meinem geringen
Ansehen in der Literatur hiesiger Stadt für ihn den möglichst besten
Gebrauch zu machen, und er schied, indem er in der Tür mir die Hand
drückte, mich süß-säuerlich anlächelte und sagte:
»Sie tun sehr wohl, mich so zu verbinden, verehrtester Herr, denn als
braver Nachbar würde ich doch manche angenehme Seite an Ihnen entdecken,
die, zu Papier gebracht, sich sehr gut ausnehmen könnte. Gute Nachbarn
werden wir übrigens diesen Winter hindurch wohl sein, teuerster Herr
Wachholder! denn -- Sie sehen gern aus dem Fenster, eine
Eigentümlichkeit aller der Leute, mit welchen sich auf die eine oder die
andere Weise leicht leben läßt. Guten Morgen!«
Um eine originelle Bekanntschaft reicher, kehrte ich zu meiner Chronik
zurück, mit der Gewißheit, dem Meister Strobel von Zeit zu Zeit darin
wieder zu begegnen.


Am Nachmittag.

Es ist heute Jahrestag. Ich werde die Erinnerung nicht los; sie verfolgt
mich, wo ich gehe und stehe.
Es war ein eben so trüber, regenfarbiger Winternachmittag wie jetzt, als
ich traurig dort drüben in jenem Fenster saß -- vor langen Jahren --
dort drüben in jenem Fenster, von welchem aus mir eben der Zeichner
Strobel zunickt, und traurig hinaufblickte zu der grauen eintönigen
Himmelsdecke. Die Gasse sah damals wohl nicht viel anders aus als heute;
doch sind viele Gesichter, deren ich mich noch gar gut erinnere,
verschwunden und haben andern Platz gemacht, und nur einzelne, wie zum
Beispiel der alte Kesselschmied Marquart im Keller drunten, der heute
wie vor so vielen Jahren lustig sein Eisen hämmert, haben sich erhalten
in diesem ununterbrochenen Strome des Gehens und Kommens. Diese sind
denn auch mit die Anhaltepunkte, an welche ich bei meinem Rückgedenken
den stellenweis unterbrochenen Faden meiner Chronik wieder anknüpfe.
Einem Wässerchen will ich diese Chronik vergleichen, einem Wässerchen,
welches sich aus dem Schoß der Erde mühevoll losringt und, anfangs
_trübe_, noch die Spuren seiner dunklen, schmerzvollen Geburtsstätte an
sich trägt. Bald aber wird es in das helle Sonnenlicht sprudeln, Blumen
werden sich in ihm spiegeln, Vögelchen werden ihre Schnäbel in ihm
netzen. An dieser Stelle werdet ihr es fast zu verlieren glauben, an
jener wird es fröhlich wieder hervorhüpfen. Es wird seine eigene Sprache
reden in wagehalsigen Sprüngen über Felsen, im listigen Suchen und
Finden der Auswege, -- Gott bewahre es nur vor dem Verlaufen im Sande!
So fahre ich fort:
Es war, wie gesagt, ein trauriger unheimlicher Tag, aber nicht er war
es, welcher damals so schwer auf meine Seele drückte. An jenem Tage sah
ich von dem Fenster dort drüben die Fenster der Kammer meiner jetzigen
Wohnung weit geöffnet trotz der Kälte, trotz dem Regen. Die weißen
Vorhänge waren herabgelassen und an den Seiten befestigt, damit der
Wind, welcher sie heftig hin und her bewegte, sie nicht abreiße.
Der Tod hatte seine finstere kalte Hand trennend auf ein glückliches
Zusammenleben gelegt; der kleine Stuhl dort unter dem Efeugitter auf dem
Fenstertritt vor dem Nähtischchen war leer geworden.
Marie Ralff war tot! -- --
Ich sah von meinem Fenster aus hier eine Gestalt im Zimmer auf und ab
gehen. Armer Franz! Armes kleines Kind! Armer -- Johannes! -- Sie war so
lieblich, so jungfräulich-frauenhaft mit ihrem Kindchen im Arm!
Da hängt im Museum der Stadt ein kleines Madonnenbild, wo die
»Unberührbare« den auf ihrem Schoß stehenden kleinen Jesus gar
liebend-verwundert und mütterlich-stolz betrachtet. Dem Bilde glich
_sie_, die eben so blondlockig, eben so heilig, eben so schön war, und
oft genug bleibe ich vor diesem Bilde, einem Werk des spanischen
Meisters Morales, den seine Zeitgenossen ^el divino^ nannten, stehen,
alter vergangener schöner Zeiten gedenkend.
O, ich liebte sie so, ich hatte so gelitten, als sie mich nur »Freund«
und ihn, meinen Freund Franz Ralff »Geliebter« nannte. Und jetzt war sie
tot; einsam hatte sie uns zurückgelassen! Der Abend sank tiefer herab,
und die Dämmerung legte sich zwischen mich und das Drüben. Ich hielt es
nicht mehr aus, ich mußte hinüber! Als ich eintrat, schritt Franz immer
noch auf und ab; er schien mich nicht zu bemerken, und still setzte ich
mich in den Winkel neben die Wiege, wo Martha die Wärterin über dem
Kinde wachte, welches ruhig schlief und die kleinen Hände zum Mündchen
hinauf gezogen hatte.
Ich weiß nicht, wie lange ich da gesessen habe, ich weiß von keinem
meiner Gedanken in jener Nacht Rechenschaft zu geben. Die tiefe Stille,
die auf der großen Stadt lag, ließ nur das Gefühl mich überkommen, als
ob das Leben auch dieses zuckende, bewegte Herz eines ganzen großen
Landes verlassen habe, als ob das leise Picken der Wanduhr das letzte
verklingende Getön des Weltrades sei, und die ewige Stille nun binnen
kurzem alles Leben zurückgeschlürft haben würde.
Das leise Weinen des Kindes neben mir erweckte mich endlich; Franz legte
mir die Hand auf die Schulter und fiel dann plötzlich erschöpft auf
einen Stuhl neben mir.
»Gute Nacht, Johannes,« sagte er, den Kopf an meine Brust legend,
»morgen wollen wir sie begraben!« --
Es waren die ersten Worte, die er an dem Tage sprach.


Am 3. Dezember.

^O cara, cara Maria vale!
Vale cara Maria!
Cara, cara Maria vale!^
Es war ein berühmter Dichter, welcher dies auf den Grabstein einer
geliebten Abgeschiedenen setzte, er hatte treffliche, herzerschütternde
Gesänge gesungen; _hier_ wußte er nichts weiter als diese drei Worte,
herzzerreißend wiederkehrend. Und jenes: Morgen! dämmerte. Das Leben der
großen Stadt begann wieder seinen gewöhnlichen Gang; der Reichtum gähnte
auf seinen Kissen, oder hatte auch wohl das Herz ebenso schwer als die
Armut, die jetzt aus ihrem dunkeln Winkel huschte, um einen neuen Ring
der Kette ihres Leidens, einen neuen Tag ihrem Dasein anzuschmieden. Die
Gewerbe faßten ihr Handwerkszeug; die großen Maschinen begannen wieder
zu hämmern und zu rauschen; die Wagen rollten in den Straßen, und der
Taufzug begegnete dem Totenwagen; denn es war nicht die einzige Leiche
drüben in der kleinen Kammer, welche in der menschenvollen Stadt im
letzten Schlaf ausgestreckt lag.
Ich ging hinüber. Der Kesselschmied Marquart -- er war damals noch
jünger und kräftiger als heute -- hatte sein Hämmern eingestellt und
lehnte traurig in der niedrigen Tür, die in seine unterirdische
Werkstatt hinabführt; er liebte die tote Marie so gut wie alle, die mit
ihr je in Berührung gekommen waren. Hatte sie nicht für jeden fremden
Schmerz eine Träne, für jede fremde Freude ein teilnehmendes Lächeln?
War sie nicht in der dunkeln Sperlingsgasse wie jene sonnige, gute,
kleine Fee, die überall wo sie hintrat, eine Blume aus dem Boden
hervorrief?
Auf dem Hausflur standen flüsternde Frauen, die mir traurig, als ich
vorüberging, zunickten, und auf einer Treppenstufe saß ein kleines
schluchzendes Mädchen, eine zerbrochene Puppe im Schoß. O, ich weiß das
alles noch! Und jetzt trat ich ein --
Da lag sie in ihrem weißen mit roten Schleifen besetzten Kleide, eine
aufgeblühte Rose auf der Brust, in ihrem schwarzen Sarge; die einst so
klaren und innigen Augen geschlossen, die ewige ernste Ruhe des Todes
auf der Stirn! Franz fiel mir weinend um den Hals; junge Nachbarinnen in
weißen Sonntagskleidern befestigten Guirlanden von Tannenzweigen und
Immergrün, aus denen hier und da eine einsame Blume hervorschaute, um
den schwarzen Schrein.
Ach, die Armut und der Winter erlaubten nicht, allzuviel:
»Süßes der Süßen«
zu streuen!
Der junge Tischler Rudolf unten aus dem Hause stand die Augen mit der
Linken bedeckend, Hammer und Nägel in der Rechten zur Seite; seine junge
Braut lehnte schluchzend das Haupt auf seine Schulter. O, ich weiß das
alles, alles noch! -- Einen letzten, langen langen Blick warf ich auf
die schöne, bleiche, stille Gespielin meiner Kindheit, die Heilige
meiner Jünglingsjahre, die Trösterin meines Mannesalters, dann hob ich
leise Franz von ihrer Brust, über die er hingesunken war, auf, und
führte ihn an die Wiege seines Kindes. -- Rudolf der Tischler begann
sein trauriges Werk. Unter dumpfen Hammerschlägen legte sich der Deckel
über dies Reliquarium eines Menschenlebens. Ein kalter Schauer überlief
mich! ^Vale, vale cara Maria!^
Die Träger kamen, hoben die leichte Last auf die Schultern und trugen
sie die schmale enge Treppe hinab; die Frauen schluchzten, Kinderköpfe
lugten verwundert ernst durch die Haustür und wichen scheu zur Seite,
als der traurige Zug hinaustrat auf die Straße. Freunde und Bekannte
hatten sich eingefunden, das Weib des Malers auf dem letzten Wege zu
begleiten; der Kesselschmied zog das Mützchen ab und strich mit seiner
schwarzen schwieligen Hand über die Augen. Den wie in einem bösen Traum
gehenden Franz führend, schritt ich dem Bretterhäuschen nach, welches
unser Liebstes barg. O, ich weiß das alles noch ganz genau. So ist das
Menschenherz! Viele Jahre sind vorübergegangen seit jenem traurigen
Tage, und heute noch erinnere ich mich an alle die finstern Gedanken,
die damals durch meine Brust zogen, während ich so manche jüngere Freude
vergessen habe!
Es lernt und sieht sich manches auf einem solchen Gange, für den,
welcher es versteht, auf den Gesichtern der Begegnenden und
Nachschauenden zu lesen.
Sieh dort an der Ecke die arme mit Lumpen bekleidete Frau aus dem Volk,
wie sie ihr Kind fester an sich drückt und flüstert: »Was sollte aus Dir
werden, mein kleines Herz, wenn ich heute so still läge wie die, welche
man da fortträgt.«
Dort kommt eine elegante Equipage, Kutscher und Bediente in prächtiger
Livree, mit Blumensträußen im Knopfloch. Bunte Hochzeitsbänder flattern
an den Kopfgeschirren der Pferde; der junge vornehme Mann führt seine
schöne Braut zur Trauung; ihr Auge trifft den Sarg, welcher langsam auf
den Schultern der Träger daher schwankt, und die junge Verlobte birgt
zitternd ihr juwelenblitzendes Haupt an der Brust neben ihr.
Sieh den Arbeiter, welcher dort das Beil sinken läßt und stier dem Zuge
des Todes nachsieht. Schaffe weiter, Proletarier, auch dein Weib liegt
zu Hause sterbend; schaffe weiter, du hast keine Zeit zu verlieren; der
Tod ist schnell; aber du mußt schneller sein, Mann der Arbeit, wenn du
sie in ihren letzten Stunden vor dem Hunger schützen willst.
Beugt das Haupt und tretet zur Seite, ihr kettenklirrenden Verbrecher!
Der Tod zieht vorüber! Er wird auch euch einst von euren Ketten
befreien!
Beugt das Haupt, ihr armen Geschöpfe der Nacht, der Tod zieht vorüber,
und auch euch hebt er einst, den erborgten Flitterputz, den armen
beschmutzten Körper, die Sünde der Gesellschaft euch abstreifend, rein
und heilig empor aus der Dunkelheit, dem Schmutz und dem Elend.
Von dir, du Spötter mit dem faden Lächeln auf den Lippen, fordere ich
nicht, daß du zur Seite tretest! Der Zug des Todes mag _dir_ ausweichen
-- du bist würdig, dein Leben doppelt und dreifach zu leben!
Es ist ein langer Weg aus der Mitte der großen Stadt bis zu dem
Johanniskirchhofe draußen, und nie ist mir ein Weg so lang und doch
zugleich so kurz vorgekommen. Ich dachte an den Verurteilten, welcher
dem Richtplatz näher und näher kommt, welchem jede Minute eine Ewigkeit
und der stundenlange Weg ein Augenblick ist. Ach wir armen Menschen, ist
nicht das ganze Leben ein solcher Gang zum Richtplatz? Und doch freuen
wir uns und jubeln über die Blumen am Wege und sehen in jedem
Tautropfen, der in ihnen hängt, Himmel und Erde! Armes glückliches
Menschenherz!
Die schweren, massigen Regenwolken wälzten sich dicht über der Erde weg,
als wir aus dem Tor traten. Grau in grau Himmel und Erde! Grau in grau
Herz und Welt!
Die Bäume streckten ihre leeren Äste wehmütig empor, eine Meise flog von
Ast zu Ast vor dem Zuge her.
Und jetzt waren wir angelangt vor der Pforte des Friedhofes. Langsam
wand der Zug sich den Weg entlang, an frischen und eingesunkenen Hügeln,
stolzen Monumenten und dürftig naivem Putz vorüber, der Stelle zu, wo
die Hülle der toten Marie ruhen sollte. Im folgenden Frühling machten
wir einen hübschen lieblichen Ort daraus, wo die Goldregenbüsche ihre
duftenden Trauben herabhängen ließen, und die Vögel in den
Rosensträuchern zwitscherten, heute jedoch war's ringsumher gar traurig
und unheimlich. Auf dem Grund der Grube, die unser Liebstes aufnehmen
sollte, stand ein kleiner Sumpf Regenwasser, in welchem sich aber
plötzlich eine lichte blaue Stelle, die oben am Himmel zwischen den
ziehenden Wolken durchlugte, widerspiegelte. -- -- Ich habe nichts,
nichts vergessen!
Und nun, ihr Männer, laßt den Sarg hinabgleiten; gebt der alten
schaffenden Mutter Erde ihr schönes Kind zurück! Und nun, Franz, wirf
drei Hände voll Erde auf die versinkende Welt deiner Freude! -- Ergreift
die Schaufeln, ihr Clowns, und vollendet euer Geschäft! Du alter
rotnäsiger Bursch, bemühe dich nicht, ein wehmütiges Gesicht zu ziehen,
winke nur deinem Gefährten, daß er die Flasche bei Yaughan füllen lasse,
und brumme dein altes Totengräberlied in den Bart!
Wie die Schollen dumpfer und dumpfer auf den Sarg poltern, und wie jeder
Ton das arme Herz erzittern läßt in seinen tiefsten Tiefen! Wie das Auge
sich anklammert an den letzten Schein des schwarzen Holzes, welcher
durch die bedeckende Erde schimmert, bis endlich jede Spur verschwindet,
die hinabgeworfene Erde nur noch Erde trifft, die Höhle sich allmählich
füllt, und endlich der Hügel sich erhebt, der von nun an mit dem
geliebten begrabenen Wesen in unsern Gedanken identisch ist!
Wunderliches Menschenvolk, so groß und so klein in demselben Augenblick!
Welch eine Tragödie, welch ein Kampf, welch ein -- Puppenspiel jedes
Leben; von dem des Kindes, welches vergeblich nach der glänzenden
Mondscheibe verlangt und verwelkt, ehe es das Wort »ich« aussprechen
kann, bis zu dem des grübelnden Philosophen, welcher in dasselbe
Wörtchen »ich« das Universum legt und zusammenbricht, ein körper- und
geistesschwacher Greis, der kaum noch das Gefühl für Wärme und Kälte
behalten hat.
Sieh um dich, Johannes: Verkehrt auf dem grauen Esel »Zeit« sitzend,
reitet die Menschheit ihrem Ziele zu. Horch, wie lustig die Schellen und
Glöckchen am Sattelschmuck klingen, den Kronen, Tiaren, phrygische
Mützen -- Männer- und Weiberkappen bilden. Welchem Ziel schleicht das
graue Tier entgegen? Ist's das wiedergewonnene Paradies; ist's das
Schafott? Die Reiterin kennt es nicht; sie will es nicht kennen! Das
Gesicht dem zurückgelegten Wege, der dunkeln Vergangenheit zugewandt,
lauscht sie den Glöckchen, mag das Tier über blumige Friedensauen traben
oder durch das Blut der Schlachtfelder waten -- sie lauscht und träumt!
Ja sie träumt. Ein Traum ist das Leben der Menschheit, ein Traum ist das
Leben des Individuums. Wie und wo wird das Erwachen sein?
Auf einem Berliner Friedhofe liegt über der Asche eines volkstümlichen
Tonkünstlers, der auch viel erdulden mußte in seinem Leben, ein Stein,
auf welchen eine Freundeshand geschrieben hat:
»Sein Lied war deutsch und deutsch sein Leid,
Sein Leben Kampf mit Not und Neid,
Das Leid flieht diesen Friedensort,
Der Kampf ist aus -- das Lied tönt fort! --«
Ich lege die Feder nieder und wiederhole leise diese Zeilen. Ich kann
heute nicht weiter schreiben.


Am 5. Dezember.

Meinem Versprechen gemäß hatte ich der Redaktion der _Welken Blätter_ --
Wimmerianischen Angedenkens -- einige der Federzeichnungen meines
Nachbars Strobel vorgeführt und konnte heute schon ihm seine Aufnahme
unter die Zeichner jenes witzigen Journals ankündigen. Da ich seine Nase
hinter den Scheiben seiner Fenster einigemal hatte hervorlugen sehen, so
machte ich mich auf den Weg hinüber zu meiner alten Wohnung, in der ich,
seit ich sie verlassen, so viele ein- und ausziehen gesehen habe.
Die dicke Madame Pimpernell hat es aufgegeben, in eigener, gewichtiger
Person über den Vorräten des Viktualienladens zu thronen, sie hat sich
in einen gewaltigen, ausgepolsterten Lehnstuhl hinter dem Ofen
zurückgezogen, von wo aus sie oft genug Dorette -- auch Rettchen genannt
-- ihre hagere Tochter und Nachfolgerin im Reich der Käse, der Butter
und der Milch zur Verzweiflung zu bringen vermag.
Das mittlere Stockwerk des Hauses Nr. Elf steht augenblicklich leer,
indem nach heftigen Kämpfen mit dem Parterre, treppauf und ab, die
letzten Einwohnerinnen: die verwitwete Geheime Oberfinanzsekretärin
Trampel und ihre zwei sehr ältlichen und sehr ansäuerlichen Töchter
Heloise und Klara -- Öllise und Knarre von der Madame Pimpernell genannt
-- abgezogen sind. Klavier, Harfe und Guitarre, die drei
Marterinstrumente der Sperlingsgasse, nahmen sie glücklicherweise mit,
sowie auch den edlen Kater Eros und den ebenso edlen, schiefbeinigen
Teckelhund Anteros -- Geschenke eines neuen und doch schon
antediluvianischen Abälards und Egmonts.
Wie oft bin ich einst diese steilen, engen Treppen hinauf- und
hinabgeklettert; jetzt einen Haufen Bücher unter dem Arm, jetzt einen,
wie ich glaubte, Furore machensollenden Leitartikel in der Rocktasche.
Wie oft haben Mariens kleine Füße diese schmutzigen Stufen betreten,
wenn sie mit Franz zu einem prächtigen Teeabend kam, dem ich immer mit
so untadelhafter, hausväterlicher Würde vorzustehen wußte! Wie ich dann
ihr helles Lachen, welches die feuchten, schwarzen Wände so fröhlich
wiedergaben, erwartete; wie sie so reizend über meine verwilderte Stube
spötteln konnte, und dann trotz aller meiner vorherigen stundenlangen
Bemühungen erst durch fünf Minuten _ihrer_ Anwesenheit einen
menschlichen Aufenthaltsort daraus machte! Wie ich dann später von der
kleinen Quälerin gezwungen wurde, eine unglückliche Flöte hervorzuholen
und steinerweichend eine klägliche Nachahmung von: »Guter Mond, du gehst
so stille« hervorzujammern, bis Franz Einspruch tat, oder mir der Atem
ausging, oder der kleinen Tyrannin die Kraft zu lachen! Es waren selige
Abende, und ich nahm das Andenken daran mit hinauf bis zur Tür des
Zeichners. Auf mein Anklopfen erschallte drinnen ein unverständliches
Gebrumme; ich trat ein.
Manche Junggesellenwirtschaft habe ich kennen gelernt und kann viel
vertragen in dieser Hinsicht. Den Doktor Wimmer, den Schauspieler
Müller, den Musiker Schmidt, den Kandidaten der Theologie Schulze habe
ich in ihrer Häuslichkeit gesehen, von meiner eigenen Unordnung nicht zu
sprechen, aber eine solche malerische Liederlichkeit war mir doch noch
nicht vorgekommen. Eine Phantasie, durch Justinus Kerners
kakodämonischen Magnetismus in Verwirrung geraten, könnte, gefroren,
versteinert, verkörpert in einem anatomischen Museum ausgestellt, keinen
tolleren Anblick gewähren! Auf einem unaussprechlich lächerlichen Sofa,
viel zu kurz für ihn, lag, den Kopf gegen die Tür, die Beine über die
Lehne weg gestreckt, und die Füße gegen die Fensterwand gestemmt, der
lange Zeichner, die Zigarre, die große Trostspenderin des neunzehnten
Jahrhunderts, im Munde, ein Zeichenbrett auf den Knieen und den Stift in
der Hand. Ein dreibeiniger Tisch, der ohne Zweifel einst unter die
Quadrupeden gehört hatte, war an diese Lagerstatt gezogen; ein leerer
Bierkrug, eine halbgeleerte Zigarrenkiste, Tuschnäpfchen, bekritzelte
Papiere und andre heterogene Gegenstände bedeckten ihn im reizendsten
Mischmasch. Drei verschiedengestaltete Stühle hatte die »Bude«
aufzuweisen; der eine aus der Rokokozeit diente als Bibliothek, der
andre, ein grünangestrichener Gartenstuhl, verrichtete die Dienste eines
Kleiderschranks, und der dritte, von dessen früherem Polster nur noch
der zerfetzte Überzug herabhing, war ^o horror!^ -- zur -- Toilette
entwürdigt, und ein Waschnapf, Seife, Kämme und Zahnbürsten machten sich
viel breiter auf ihm als irgend nötig war. In einer Ecke des Zimmers
lehnte der Ziegenhainer des wanderlustigen Karikaturenzeichners, und auf
ihm hing sein breitrandiger Filz. In einem andern Winkel hing eine
umfangreiche Reisetasche, und die Wände entlang war mit Stecknadeln eine
tolle Zeichnung neben der andern festgenagelt. Das Ganze ein wahres
Pandämonium von Humor und skurrilem Unsinn.
»Ah, mein Nachbar!« rief Meister Strobel, bei meinem Eintritt von seinem
Sofa aufspringend, mit der einen Hand das Zeichenbrett fortlehnend, mit
der andern den wackelnden Tisch am Fallen hindernd. »Das ist sehr edel
von Ihnen, daß Sie meinen Besuch so bald erwidern; seien Sie herzlich
gegrüßt und nehmen Sie Platz!« Mit diesen Worten ließ er die Last des
Bibliothekstuhls zur Erde gleiten und zog ihn an den Tisch, von dem er
ebenfalls die meisten Gegenstände an beliebige Plätze schleuderte.
»Ich bin gekommen, Ihnen mitzuteilen, Herr Strobel, daß Ihre Blätter
großen Anklang bei der Redaktion der >Welken Blätter< gefunden haben,
und daß dieselbe stolz sein wird, Sie unter ihre Mitarbeiter zu zählen.«
»Sehr verbunden,« sagte der Zeichner, der sich auf mysteriöse Weise eben
am Ofen beschäftigte, »bitte, nehmen Sie eine Zigarre und erlauben Sie
mir, Ihnen eine Tasse Kaffee anzubieten.«
Er sah und roch in einen sehr verdächtig aussehenden Topf, den er aus
der Ofenröhre nahm. »O weh,« rief er, während ich alle Heiligen des
Kalenders anrief, »die Quelle ist versiecht!«
»Bitte, machen Sie keine Umstände, Ihre Zigarren sind ausgezeichnet!«
»Ja,« sagte Strobel, sich nun wieder auf sein Sofa setzend, »das ist der
einzige Luxus, den ich nicht entbehren könnte, und ich preise meinen
Stern, der mich in einer Zeit geboren werden ließ, wo man die Redensart:
Kein Vergnügen ohne die Damen --, in die jedenfalls passendere: Kein
Vergnügen ohne eine Zigarre, umgeändert hat.«
»Sind Sie ein solcher Weiberfeind?«
»Keineswegs; im Gegenteil, ich beuge mich ganz und gar dem französischen
Wort: ^Ce que femme veut, Dieu le veut^ und ziehe -- deshalb gerade, die
nicht so anspruchsvolle Zigarre vor, die für uns glüht, ohne das Gleiche
zu verlangen, die interessant ist, ohne interessiert sein zu wollen, und
so weiter, und so weiter!«
»Sie sind wirklich ein echtes Kind unserer Zeit, die durch zu viele und
zu verschiedenartige Anspannungen im ganzen bei dem einzelnen das
Gehenlassen, die Athaumasie, die Apathie zur Gottheit gemacht hat.«
»Puh,« sagte der Zeichner, eine gewaltige Dampfwolke fortblasend, »ich
konnt's mir denken, da sind wir schon in einem solchen Gespräche, wie
sie alles Zusammenleben jetzt verbittern: übrigens ist unsere Zeit
durchaus nicht apathisch, aber der einzelne fängt an, das wahre Prinzip
herauszufinden, daß nämlich die Sache durch die Sache gehen muß. --
Nicht jeder erste und ^taliter qualiter^ beste soll sich fähig glauben,
den Wegweiser spielen zu können, den Arm ausstrecken und schreien:
Holla, da lauft, dort geht der rechte Weg, dorthin liegt das Ziel!«
»Und die seitwärts abführenden Holzwege?...«
»Laufen alle der großen Straße wieder zu, nachdem sie an irgend einer
schönen, merkwürdigen, lehrreichen Stelle vorübergeführt haben. Ich, der
Fußwanderer, habe nie so viel Erfahrungen für den Geist, so viel Skizzen
für meine Mappe heimgebracht, als wenn ich mich verirrt hatte.«
»Sie müssen ein eigentümliches Leben geführt haben und führen!« sagte
ich, den sonderbaren Menschen vor mir ansehend. Er strich mit der Hand
über das sonnverbrannte, verschrumpfte Gesicht und lächelte.
»Ein Leben, das gern auf Irrwegen geht, ist stets eigentümlich!« sagte
er. »Übrigens wird jeder Mensch mit irgend einer Eigentümlichkeit
geboren, die, wenn man sie gewähren läßt -- was gewöhnlich nicht
geschieht -- sich durch das ganze Leben zu ranken vermag, hier Blüten
treibend, dort Stacheln ansetzend, dort -- von außen gestochen --
Galläpfel. Was mich betrifft, so bin ich von frühester Jugend auf mit
der unwiderstehlichsten Neigung behaftet gewesen, mein Leben auf dem
Rücken liegend hinzubringen und im Stehen und Gehen die Hände in die
Hosentaschen zu stecken. Sie lächeln -- aber was ich bin, bin ich
dadurch geworden.«
»Ich lächelte nur über die Richtigkeit Ihrer Bemerkung. Wir alle sind
Sonntagskinder, in jedem liegt ein Keim der Fähigkeit, das Geistervolk
zu belauschen, aber es ist freilich ein zarter Keim, und das Pflänzchen
kommt nicht gut fort unter dem Staub der Heerstraße und dem Lärm des
Marktes.«
»Holla,« rief der Zeichner, plötzlich aufspringend und nach dem Fenster
eilend, »sehen Sie, welch ein Bild!«
In der Dachwohnung über der meinigen drüben hatte sich ein Fenster
geöffnet. Die kleine Ballettänzerin, welche dort wohnt, ließ ihr
hübsches Kindchen nach den leise herabsinkenden Schneeflocken greifen.
Das Kind streckte die Ärmchen aus und jubelte, wenn sich einer der
großen weißen Sterne auf seine Händchen legte oder auf sein Näschen. Die
arme, ohne die Schminke der Bühne so bleiche Mutter sah so glücklich
aus, daß niemand in diesem Augenblick die traurige Geschichte des jungen
Weibes geahnt hätte.
»Ich habe auf Ihrem Schreibtische Blätter gesehen mit der Überschrift:
_Chronik der Sperlingsgasse_,« sagte Strobel, »das Bild da drüben gehört
hinein, wie es in meine Skizzenmappe gehört.«
»In meinen Blättern würde es eine dunkle Seite bilden,« antwortete ich,
»und die Chronik hat deren genug. Wie wär's aber, wenn Sie Mitarbeiter
dieser Chronik der Sperlingsgasse würden; Sie haben ein gar glückliches
Auge!«
»Glauben Sie?« fragte der Karikaturenzeichner, welcher den
Kleiderschrankstuhl an das Fenster gezogen hatte und emsig auf einem
Papier kritzelte. »Sie wollen keine dunkeln Blätter; kennen Sie
vielleicht die Geschichte jenes englischen Zerrbildzeichners, der vor
dem Spiegel an seinem eigenen Gesichte die Fratzen der menschlichen
Leidenschaften studierte?«
»Nein, ich kenne die Geschichte nicht, was ward mit ihm?«
»Er -- schnitt sich den Hals ab,« sagte der Zeichner dumpf, seine
vollendete Skizze fortlegend.
Verwundert schaute ich auf. Das Gesicht Strobels hatte einen Ausdruck
von Trübsinn angenommen, der mich fast erschreckte. Er sprach nicht
weiter, und es trat eine Pause ein, während welcher drüben das Kind
lachte und jubelte, und die Tänzerin den Spatzen, die sich zwitschernd
auf die Dachrinne setzten, Brotkrumen streute. Ich sah, daß der Zeichner
allein sein wollte und ging; der sonderbare Mensch begleitete mich bis
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