Die Chronik der Sperlingsgasse - 07

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Schulter klopfend. »Richtig! Alles in der Welt dreht sich von Zeit zu
Zeit um.«
»Meisterin, die Kartoffeln brennen an!« unterbricht Anton, der
Lehrjunge, die Politik.
»Wir kommen gleich!« ruft Strobel lachend. -- »Ich gehe auch mit,
Meisterin, und die Kinder auch! Vorwärts! ^En avant! On with you, boys!^
Hinaus in -- die Küche!«
So werden die Kartoffeln gerettet, der Meister studiert seine Zeitung
weiter, und das Spinnrad summt und schnurrt im Winkel wie immer. Endlich
kommen Strobel, die Frau Anna und die Kinder zurück, und die Alte fragt:
»Also der Franzos ist auch wieder dabei? Ist das derselbe, der Anno
Sechs hier war?«
»Nein,« sagt Strobel, »jetzt trägt er rote Hosen.«
»Und der Napoleon -- ich meine, der ist lange tot?«
»Ja, Mutter,« sagt der Meister von seiner Zeitung aufsehend, »das ist
auch ein andrer.«
»Gott,« sagt die Großmutter, »wenn ich noch daran denke, wie das kleine,
gelbe, schwarze Volk hier war und in den Straßen kauderwelschte, und
eine Sorte hatte in ihren Hüten große Kochlöffel stecken, und acht
hatten wir hier im Haus.«
Strobel, der jetzt die Alte da hat, wo sie ihm interessant wird, rückt
einen Schemel an ihren Lehnstuhl und sagt: »Großmutter, es ist noch
früh, erzählen Sie uns noch etwas von den achten; wenn der Meister seine
Zeitung liest, ist gar kein Auskommen mit ihm. Kommen Sie, Wachholder,
rücken Sie her. Burschen, seht, wo ihr Plätze findet und haltet das
Maul, die Großmutter will von den acht Franzosen in Nummero Sieben
erzählen!«
Die Alte lächelt und bringt ihr Rad wieder in Gang: »Solchen gelehrten
Herren soll ich erzählen? Die haben ja alles viel besser in Büchern
gelesen; von allen achten weiß ich auch nichts.«
»Großmutter, was ich in Büchern gelesen, habe ich Gottlob nun bald
wieder vergessen,« sagt der Zeichner, »und wenn Sie auch von allen
achten nichts wissen, so sind wir auch mit vier zufrieden, oder mit
soviel, als Sie wollen; erzählen Sie nur.«
»Nun, wenn Sie's denn wollen, so muß ich mich mal besinnen. -- Gut!
Also es war Anno Sechs, als der Franzos im Lande rumorte und drunten
schrecklich hausen sollte, denn er hatte einen großen Sieg erfochten und
glaubte das Recht dazu zu haben. Die Leute fürchteten sich alle sehr,
gruben ihre Löffel weg und näheten ihren Kindern jedem ein Goldstück in
den Rocksaum, auf den Fall, daß sie abhanden kämen oder mitgenommen
würden. Aber mein Seliger tat gar nicht, als ob _ihn_ das was anginge.
-- Wenn sie kommen, sind sie da -- sagte er, und dabei blieb er, und
wenn die Nachbarn kamen und klagten und jammerten, sagte er nur: Einmal
wir, einmal sie! Und wenn sie ihm die Ohren zu voll schrieen, zog er
eine weiße Zipfelmütze, die er zu meiner Verwunderung seit kurzer Zeit
immer in der Tasche führte -- darüber und tat, als ob er einschliefe. Es
war immer ein sonderlicher Mann, Annchen, Dein Vater.
Gut. Eines Morgens erhub sich ein Lärm: Sie sind da! Heiliger Gott, mir
fuhr's ordentlich in die Knie; meine Jungen (Gott hab' sie selig) in
allen Gassen, Gott weiß wo, und nur mein Annchen hatt' ich in der Wiege;
mein Alter hatte mal wieder die Zipfelmütze hervorgekriegt und
übergezogen und sägete im Hofe.
>Gottfried, Gottfried!< schreie ich, >sie sind da! sie sind da!< Er tat,
als ob er's nicht hörte, obgleich ich dichte bei ihm stand. In meiner
Angst und auch vor Ärger riß ich ihm die dumme Mütze ab, warf sie auf
die Erde und schrie wieder: >Und die Jungen sind auf der Straße --
heiliger Vater! -- und unsere Löffel -- Mann -- Mann!<
Er hob ganz ruhig seine Mütze auf, klopfte die Sägespäne an mir ab,
setzte sie ruhig wieder auf und sagte: >Ja, -- wenn's so ist, so werden
sie wohl durchs Wassertor kommen, daher geht der Weg von Jena.< Ich
glaube so hieß es. Dann sägt' er weiter.
Richtig, da trommelte es schon die lange Straße vom Wassertor her,
herunter -- mir zitterte das Herz immer mehr! --
>Meister Karsten! Meister Karsten! Schnell, schnell!< schrieen plötzlich
mehrere Nachbarn, die in den Hof stürzten im besten Sonntagsstaat. >Ihr
sollt kommen, Ihr sollt mit zur Depentatschon an den französischen
General.<
>So?!< sagt mein Gottfried, stellte seine Säge hin und ging langsam in
das Haus, gefolgt von den Nachbarn, dem Herrn Sekretär Schreiber, dem
Herrn Rat Pusteback, dem Schornsteinfeger Blachdorf und dem Schmied
Pruster und andern. Alle zogen mit meinem Alten in die Stuben, weil sie
dachten, er würde nun gleich in den Bratenrock fahren und mitrennen.
Aber proste Mahlzeit! -- An den Tabakskasten ging mein Alter, stopfte
sich eine Pfeife, schlug langsam Feuer und sagte:
>Nun, so kommt, meine Herren!<
Die standen alle mit offenen Mäulern da, aber mein Gottfried ließ sich
nicht irre machen. In Schlafrock und Pantoffeln marschierte er ruhig --
ich sehe ihn wie heute -- voran bis an die nächste Straßenecke. Da blieb
er stehen und die Nachbarn um ihn herum; zeigte mit der Pfeifenspitze
auf einen Zettel, der da klebte und auf welchem stand:
>Ruhe ist die erste Bürgerpflicht!<
oder so was, -- ich hab's vergessen -- klappte seinen Pfeifendeckel zu,
drehte sich langsam um und ging ins Haus zurück. Meine beiden Jungen
brachte er mit, worüber ich seelenfroh war. >Da, Mutter,< sagte er, als
er sie in die Türe schob. >Heb sie mir auf,< sagte er, >wir brauchen sie
einstmal.<
Ich wußte damals nicht, was das heißen sollte; später erfuhr ich's!«
Hier traten der alten Frau die Tränen in die Augen, und ihr Spinnrad
hörte auf zu schnurren. Es herrschte eine tiefe Stille im Zimmer.
»Gut. Von nun ab bekümmerte sich mein alter Seliger um nichts mehr
draußen, sondern ging wieder zu seinem Sägebock und sägte weiter, bis
die Einquartierung kam. Herr meines Lebens, da hättet ihr den Mann sehen
sollen! Das ganze Haus kam in Aufruhr; das beste, was Küch' und Keller
hielt, ward aufgetischt, und je mehr die kleinen gelben Kerle
schwadronierten und sakramentierten, desto fröhlicher wurde mein Alter.
>Das ist die rechte Sorte!< rief er immer, sich die Hände reibend.
>Solche mußten's sein! Wenn nur genug von ihnen da sind!<
Französisch hatt' er etwas von der Wanderschaft mitgebracht, und so
waren sie bald die besten Freunde miteinander und auf du und du, daß die
Nachbarn ordentlich die Nasen rümpften. Die aber gingen zu allen
Depentatschonen und illuminierten und bekränzten ihre Häuser und so --
das tat aber mein Gottfried nicht, und wenn er einen vom Rat der Stadt
sah, zog er jedesmal richtig die Zipfelmütze herunter über die Ohren.
Gut, da war ein Franzos zwischen den andern, der war von daher, wo sie
halb deutsch, halb französisch sprechen, den konnt' ich auch verstehen,
und es war so gut, als wenn ich französch' gekonnt hätte. Was geschieht?
Eines Abends sitzen sie alle zusammen, und mein Alter mitten drinnen,
und kauderwelschten, daß einem Hören und Sehen verging, und saß ich im
Winkel und strickte, und die Jungen spielten im Winkel. Spricht mein
Alter auf einmal zu dem Deutschfranzos: >Nun sagt mal, Kamerad, wie
lange denkt ihr denn eigentlich noch in Deutschland zu bleiben?<
Der Deutschfranzos stieß mit den andern den Kopf zusammen, und sie
schnatterten was in ihrer Sprache. Dann lachten sie aus vollem Halse.
>Immer bleiben wir da!< sagt der Deutschfranzos. >Wir sein einmal da;
wir gehen nit raus wieder!<
>Woui!< schrieen die andern und hielten sich die Bäuche. >Nit raus! nit
raus!<
>Ne,< sagt mein Alter, >immer nicht. Ihr seid zwar da, und unsereins
kann unserm Herrgott nur dankbar sein, daß er euch geschickt hat, aber
immer --<
>Nit raus! nit raus!< schrieen die Franzosen.
>Lasset euch handeln!< sagt mein Alter, >ich biete zwölf Jahr --
höchstens!<
>Nit raus! nit raus!< kauderwelschten die wieder.
>Wilhelm! Ludwig! kommt mal her!< rief mein Alter jetzt die Jungen, die
sogleich angesprungen kamen und sich an seine Knie stellten.
>Richt' euch!< rief mein Alter. >Augen rechts! Seht mal, Jungens, die da
-- das sind Franzosen, die eigentlich hier nicht in unsere Stube
gehören. Das kleine Annchen kann gar nicht schlafen vor ihrem Spektakel
-- und doch haben sie Lust, immer dazubleiben. Was meint ihr, Jungens --
wenn ihr stark genug wäret?<
Guckten meine Jungen gewaltig wunderbar aus den Augen und die
Franzmänner an, und dann sich und dann meinen Alten!
>Das sich finden -- ich groß werden -- ich schon Pustebacks Theodor
zwinge,< sagte Wilhelm, mein Kleinster. Ludwig, mein Ältester, sagte gar
nichts, aber auf einmal rann ihm eine dicke Träne über die Backe, und
sein Vater klopfte ihn auf die Schulter und sagte:
>Warte nur, mein Junge, Du kommst zuerst.<
Die Franzosen hatten ihren Heidenjubel; und besonders einer -- sie
nannten ihn Piär oder so -- wußte sich gar nicht zu helfen vor Lachen.
Mein Alter aber war sehr ernst geworden und sprach den ganzen Abend kein
Wort mehr. Die andre Woche zogen die Franzmänner ab und lachten noch
beim Abschied, als sie uns allen die Hand drückten und ordentlich sich
bedankten für gute Bewirtung:
>Nit raus! Nit raus!<
>Wird sich finden,< sagte mein Alter. >Wird sich finden!< schrieen meine
beiden Jungen.
Gut, nun kamen lange Jahre und immer andre Franzosen.
>Bald ist's genug,< brummte mein Gottfried. Und einmal zogen sie alle
hinauf nach Norden, aber zurück kam keiner. Und dann fing's auf einmal
an zu rumoren im Lande, und an den Ecken klebten ganz andre Zettel, die
mein Alter immer las und wobei er mit dem Kopf nickte. Er war die Zeit
nicht viel zu Haus.
Da kam er eines Tages zurück und rief den Ludwig aus der Werkstatt, und
sie kamen beide in die Küche zu mir.
>Sieh, Mutter< sagte mein Gottfried, >'s ist gut, daß Dein Feuer brennt!
Paß auf, Ludchen!< Damit zog mein Alter seine Zipfelmütze aus der Tasche
und warf sie unter meinen Topf, daß sie verschwielte und das ganze Haus
voll Qualm ward; dann ging er mit meinem Ludwig fort und kam allein und
ganz still wieder.
Am andern Morgen zog ein Trupp schwarzer Reiter in die Stadt -- auch
durch das Wassertor. Einer kam zu Pferd hier in die Sperlingsgasse vor
unser Haus und stieg ab -- mir sank das Herz in die Knie -- es war mein
Ludwig! --
>Adjes, Mutter! Adjes, Vater!< rief er -- >behüt Euch Gott, 's wird sich
schon machen!< -- und dann ritt er fort, den andern nach, die schon
durch das Grüne Tor zogen.
>Da geht's nach Frankreich, Alte!< rief mein Mann, während ich heulte
und jammerte. Aber es war noch so weit nicht.
Wir hörten lange Zeit nichts, bis eines Tages alle Glocken in der Stadt
läuteten, und auch im ganzen Land, wie sie sagten. Es war eine große
Schlacht gewesen, und unsere hatten gewonnen, und mein Ludwig war --
tot!
>Der Erste,< sagte mein Alter.
Wieder ging ein Jahr hin, und einmal kam das Kanonenschießen so nahe,
daß die Leute vor das Tor liefen, es zu hören; natürlich liefen mein
Gottfried und ich mit. Da kamen bald aus der Gegend her, wo es so rollte
und donnerte, Wagen mit Verwundeten, Freund und Feind durcheinander, und
immer mehr und mehr. Die wurden alle in die Stadt gebracht.
>Herr, mein Heiland!< muß ich auf einmal ausrufen, >ist das nicht der
Piär von damals, von Anno Sechs?<
Richtig, er war's. Mit abgeschossenem Bein lag er auf dem Stroh und
wimmerte ganz jämmerlich. >Den nehm' ich mit,< sagte mein Alter und bat
ihn sich aus, und wir brachten ihn hier ins Haus -- in Ihre Stube, Herr
Wachholder. Da kurierten wir ihn. Als er besser wurde, hatte mein Mann
oft seine Reden mit ihm. Einmal war der Franzos oben auf, einmal mein
Alter. Da hieß es plötzlich, die Deutschen seien wieder geschlagen und
der Napoleon abermals Obermeister. Mein Alter sah den Wilhelm bedenklich
an, als ginge er mit sich zu Rat; als aber in der Nacht die Sturmglocken
auf allen Dörfern läuteten, wußte ich, was geschehen würde, und weinte
die ganze Nacht, und am Morgen zog auch mein Wilhelm fort mit den grünen
Jägern zu Fuß, und Minchen Schmidt, die mit ihrer alten Mutter in Ihrer
Stube drüben wohnte, Herr Strobel, weinte auch und winkte mit dem
Taschentuch. Vorher aber führte ihn mein Alter noch an das Bett des
Franzosen und sagte: >Das ist der Zweite!< -- Der Franzos schaute ganz
kurios und bewildert drein und sagte gar nichts, sondern drehte sich
nach der Wand.
Das Kanonenschießen kam nun nicht wieder so nah, und der Wilhelm schrieb
von großen Schlachten, wo viele tausend Menschen zu Tod kamen, aber er
nicht, und die Briefe kamen immer ferner her, und auf einmal standen gar
welsche Namen darauf. Die brachte mein Alter dem Franzos herauf, der nun
schon ganz gut Deutsch konnte, und sagte lachend zu ihm: >Nun, Gevatter!
Nit raus? Nit raus?< Und der Franzos machte ein gar erbärmlich Gesicht
und sagte, den Brief in der Hand: >Das sein mein 'Eimatsort, da wohnen
mein Vatter und mein Mutter.< Mein Alter aber saß am Bett und rechnete
an den Fingern: >Eins, zwei, vier -- acht. Acht Jahr, Gevatter Franzos!
Warum habt Ihr dunnemalen meine Zwölf nicht genommen?<
Die Briefe von unserm Wilhelm kamen nun immer seltener, und auf einmal
blieben sie ganz aus, und eines Tages -- kommt mein Alter nach Haus,
setzet sich an den Tisch, legt den Kopf auf beide Arme und -- weint. Ich
dachte der Himmel fiele über mich -- -- -- -- _der_ und Weinen!
>Der andre!< stöhnte mein Alter in sich hinein, und ich fiel in Ohnmacht
zu Boden.
Da vor der großen Franzosenstadt Paris muß ein Berg sein -- ich kann den
Namen nicht ordentlich aussprechen -- von wo man die Stadt ganz
übersehen kann. Da schossen sie zum letztenmal aufeinander, und da ist
auch dem Wilhelm eine Kugel mitten durch die Brust gegangen, wie der
Kamerad schrieb, und ist er da begraben mit vielen, vielen andern aus
Deutschland. -- Das ist meine Geschichte! Den Franzosen aber kurierten
wir aus, und mein Alter gab ihm einen Zehrpfennig und brachte ihn an das
Tor, wo der Weg nach Frankreich geht, den auch meine Jungen gezogen
waren, sah ihn da abhumpeln und kam wieder nach Haus, murmelnd: >Nit
raus, nit raus!< -- Gott hab ihn selig, den Mann, es war ein
wunderlicher, Dein Vater, Annchen.«
So erzählte die alte Margarete Karsten, und wir alle saßen um sie herum,
als sie geendet hatte, jeder seinen eigenen Gedanken nachhängend. Der
Meister hatte längst seine Zeitung weggelegt, und auch die Gesellen, die
nach und nach eingetreten und gewöhnlich ziemlich fröhlich und laut
waren, standen und saßen diesmal ganz still umher.
»Nun will ich noch was erzählen!« rief plötzlich die Alte, deren Augen
durch die wachgewordenen Erinnerungen in einem seltsamen Glanz
leuchteten. »Ich will was erzählen, was lange nachher geschah und doch
mit dazu gehört! -- Wenn die Fensterscheiben nicht so gefroren wären,
könntet ihr den Turm der neuen Sophienkirche sehen, die gebaut wurde,
nachdem die alte abgebrannt ist. In der alten war's, wo eine Tafel an
der Wand hing, wo die Namen aller der drauf standen, welche in dem
Franzosenkriege aus unserem Viertel gefallen waren, und worunter auch
meine Jungen waren: Ludwig Friedrich Karl Karsten und Wilhelm Johannes
Albert Karsten. Die Tafel hatten wir unserm Kirchenstuhl gerade
gegenüber, und des Sonntags schauten wir immer darauf und dachten an
unsre braven Jungen, und mein Alter war stolz auf die Tafel und ich
auch, wenn ich auch genug darüber geweint habe und noch weinte. Aber es
blieb nicht so bei meinem Gottfried. Es kam eine Zeit, da schlich er an
der Tafel vorbei, ohne aufzugucken, und wenn wir an unserm Platze saßen
und sein Blick fiel mal drauf hin, sah er schnell weg, oder auf den
Boden, oder murmelte etwas, was ich nicht verstand.
Gut, eines Tages gegen Abend stand ein schreckbares Gewitter über der
Stadt; es donnerte und blitzte unbändig, und auf einmal hieß es: in der
Sophienkirche hat's eingeschlagen! -- Richtig -- da brannte sie
lichterloh. Mein Alter, der sonst bei so was immer vorn dran war, rührte
diesmal nicht Hand nicht Fuß, und es hätte auch nichts geholfen. Er
hatte mich unterm Arm, und wir standen in der Menschenmenge und sahen
zu. Auf einmal schwankt der Turm, der wie eine Fackel war, hin und her
und stürzt dann herunter auf das Kirchendach mit einem Krach, daß
Menschen und Pferde in die Knie schossen und ich mit. Mein Alter aber
blieb aufrecht stehen und kehrte sich um und brachte mich nach Hause.
Als wir in unserer Stube waren, ging er den ganzen Abend auf und ab, bis
er plötzlich vor mir stehen blieb und sagte:
>Mutter, Gottlob, die Tafel ist verbrannt! Mutter, ich konnt' sie nicht
mehr ansehen! -- Gute Nacht, Mutter!< -- Ich verstand ihn gar nicht und
fragte, was das bedeuten solle, aber er schüttelte nur mit dem Kopf und
ging zu Bett. Und das will ich auch tun, mein Flachs ist zu Ende! Gute
Nacht, ihr Herrn, gute Nacht, Kinder! -- Komm, Annechen!« -- Damit erhob
sich die alte Frau, und ging, auf ihren Stock und den Arm ihrer Tochter
gestützt, hinaus, ihrer kleinen Kammer zu, um von ihrem alten Gottfried
mit dem eisernen Herzen, um von den beiden erschossenen
Freiheitskämpfern weiter zu träumen. Der Karikaturenzeichner machte
heute Abend keinen Witz mehr, der Meister sog an der erloschenen Pfeife.
Es war, als wage keiner sich von seinem Platz zu rühren; es war, als
müsse nun gleich die Tür sich öffnen, und der alte, gewaltige Mann
hereintreten mit dem schwarzen Reiter und dem grünen Jäger an seiner
Seite, von denen der eine an der Oder und der andre dicht vor Paris
begraben liegt auf dem Montmartre.
»Ich weiß, warum der Meister Karsten die Tafel nicht mehr ansehen
konnte!« rief plötzlich eine klangvolle Mannesstimme, daß alle fast
erschrocken aufsahen. Es war Rudolf, der Altgeselle, der sich in seinem
Winkel hoch aufgerichtet hatte.
»Ich auch!« rief Bernhard, der zweite Gesell, seinem Gefährten die Hand
auf die Schulter legend.
»Ich auch!« rief Strobel aufspringend. »Wie viel Wissende noch?«
»Ich auch!« rief der Meister. »Ich auch!« sagte ich. »In _dem_ Wissen
liegt die Zukunft -- Gott segne das Vaterland!« Und dann -- -- kam die
Meisterin mit den Kartoffeln.


Am 10. Februar.

Und wieder überschreibe ich ein Blatt der Chronik:
Elise.
Wir haben gejubelt und gelacht; auch wohl geweint über kleine Schmerzen
und verunglückte Freuden! -- Wie die Jahre kommen und gehen!
Der Efeu hat nun eine ordentliche, schattige, grüne Laube gebildet; rote
und blaue Wachsbilder hat eine kleine schmückende Hand zwischen das
Blätterwerk gehängt; wieder flattert ein zahmer Kanarienvogel in der
Stube hin und her, von meinen Büchern und Schreibereien auf eine hübsche
runde Schulter im Fenster, oder auf einen niedlichen Finger, der ihm
winkend hingehalten wird. -- Elise ist nun dreizehn Jahre alt auf den
Blättern dieser Chronik. Oft wenn ein lustiger Sonnenstrahl über das
Blätterwerk schießt, zwitschert wohl Flämmchen -- so heißt der neue
kleine Freund -- fröhlich auf, hüpft aus seinem Bauer, dreht das
Köpfchen mit den funkelnden kohlschwarzen Äuglein einigemal hin und her
und flattert dann zum offenen Fenster hinaus. Einen Augenblick glänzt
es, hin und her schießend, wie ein Goldpünktchen im Sonnenschein, dann
flattert es nach der jenseitigen Häuserreihe und verschwindet in einem
Fenster des mittleren Stockwerkes in Nr. Zwölf. Von dort ward es
herübergebracht, auch dort hat es ein kleines Messingbauer.
Neue Gesichter sind aufgetaucht, neue Fäden schlingen sich wundersam in
unser Leben und damit heute an diesem regnichten, windigen Februartage
auch in diese Blätter.
Was tot war, wird lebendig; was Fluch war, wird Segen; die Sünde der
Väter wird nicht heimgesucht an den Kindern bis ins dritte und vierte
Glied!
Eine helle frische Stimme erschallt unten im Hause; ein leichter Schritt
kommt die Treppe herauf -- Elise horcht. Nach einigen Minuten erschallt
plötzlich draußen ein Gepolter, Marthas Stimme läßt sich hören, klagend
und ärgerlich. Da ist er -- der Taugenichts der Gasse!
Die Tür wird halb aufgerissen, und herein schaut ein lachendes,
kerngesundes, mit unzähligen Sommerflecken bedecktes Knabengesicht.
»Nun, Gustav, was gibt's wieder?«
»O gar nichts!« sagt das ^mauvais sujet^, den Mund von einem Ohr bis zum
andern ziehend, während Martha jetzt kläglich draußen nach Elisen ruft.
»Was mag er nur angefangen haben?« sagt diese aufspringend und
hinausgehend. Ein helles herzliches Gelächter, in welches ich sie
draußen ausbrechen höre, zwingt auch mich, von meinen Büchern
aufzustehen, während Gustav sich ganz ehrbar in einen Band von Beckers
Weltgeschichte vertieft zu haben scheint. Ich nehme die möglich
ernsteste Miene an und schreite hinaus. Welch ein Anblick erwartet mich!
Die gute Alte hat höchst wahrscheinlich ihre Mittagsruhe gehalten und
ist, das Strickzeug im Schoß, eingeschlafen. Diesen günstigen Augenblick
zu benutzen, hat der Taugenichts, der vielleicht mit sehr guten
Vorsätzen die Treppe heraufkam, doch nicht unterlassen können.
Festgebunden sitzt die Unglückliche in ihrem Stuhle; Handtücher,
Bindfaden, das Garn ihres Strickzeuges, kurz alles nur mögliche
Bindematerial ist benutzt, sie unvermögend zu machen, sich zu rühren.
Vor ihr auf einem, noch dazu sehr zierlich gedeckten Tischchen, steht
ein großer Napf Milch, der höchst wahrscheinlich zu den wichtigsten
kulinarischen Zwecken bestimmt war, und um ihn im Kreis sitzt schlürfend
und schmatzend -- die ganze Katzenwelt des Hauses, von Zeit zu Zeit
einen höhnenden Blick nach dem Lehnstuhl werfend, von welchem aus die
gefesselte Küchentyrannin strampelt und droht, in wahrhaft tantalischen
Qualen.
»Lischen -- so jag sie doch weg -- (Elise hat vor Lachen die Kraft gar
nicht dazu und sitzt atemlos auf einem Schemel) -- o der Schlingel --
aber, Herr Wachholder, jagen _Sie_ sie doch weg -- es bleibt ja nichts
übrig -- o meine schöne Milch -- der Bösewicht!« Ja der Bösewicht -- wo
war er, als diese Tragikomödie zu Ende gekommen war, und man sich nach
dem Urheber umsah? Der Band von Beckers Weltgeschichte lag freilich noch
aufgeschlagen da, aber von Gustav -- nirgends eine Spur!
* * * * *
Wer ist dieser Gustav?
Der Enkel eines Mannes, dessen Name schon einmal gar unheimlich in diese
Blätter hineingeklungen ist, der Enkel des Grafen Friedrich Seeburg.
Es war im Jahr 1842, als in die Wohnung drüben in Nr. Zwölf, in deren
Fenster später der Kanarienvogel so oft hinüberflatterte, eine schöne,
schwarz gekleidete, bleiche Frau zog, welche sich Helene Berg nannte,
die Witwe eines vor kurzem verstorbenen Mediziners. Sie war es, die
schon einmal durch unser Leben und durch die Blätter dieser Chronik
geglitten ist, mit jenem Sonnabend im Sommer 1841, an welchem wir den
toten kleinen Vogel auf dem Johanniskirchhof begruben zu den Füßen der
Gräber von Franz und Marie. Sie küßte damals die kleine Elise, aber wir
kannten einander nicht. -- »Georg Berg« stand auf dem Grabstein, an
welchem sie gekniet und geweint hatte, und in der ärmlichen Wohnung
drüben in Nr. Zwölf, in der engen, dunkeln Sperlingsgasse verklingt die
letzte Saite der unheilvollen wilden Geschichte, die einst der sterbende
Jäger dem Maler Franz Ralff erzählte. -- Ist das Lied vorbei? Eine junge
fröhlichere Weise nahm den letzten Ton auf, und »Gustav und Elise Berg«
wird die neue Melodie lauten!
Wie die Letzte aus dem stolzen Hause der Grafen Seeburg das
Zusammenhängen ihres Schicksals mit dem kleinen Mädchen an meiner Seite
erfuhr? -- Ihre Geschichte?
Ich fürchte mich fast, die Decke, die über so viel kaum vergessenem und
begrabenem Unheil liegt, wieder aufzuritzen.
»Sieh, welch ein schöner Ring!« sagte einmal Elise, der Frau Helene, die
bei uns saß, jenen Reif zeigend, welchen vor langen langen Jahren der
alte Burchhard am Hungerteiche im Ulfeldener Walde der toten Luise aus
der erstarrten Hand gezogen hatte, welcher so lange Jahre unter jenem
bekreuzten Stein gelegen hatte, und der das Wappen des Grafen von
Seeburg trug! -- Ich habe nicht nötig aufzuschreiben, was folgte! -- --
-- Wir trennten uns damals so bald nicht. Den ganzen Abend ließ die
weinende Helene die kleine Elise nicht aus den Armen, und Gustav, --
Gustav, der Taugenichts der Gasse, begrüßte jubelnd seine Cousine auf
seine Weise.
Nachdem er lange unstät sich umhergetrieben hatte, heiratete in Italien
der Graf Friedrich Seeburg eine schöne, vornehme, aber arme Italienerin;
sie ward die Mutter Helenens und starb sie gebärend im zweiten Jahr
ihrer Ehe. Die Griechen dachten sich die Kluft zwischen Gott und dem
Menschtum ausgefüllt durch ein Vermittelndes, das Dämonische: da
schwebten, »damit das Ganze in sich selbst verbunden sei,« Geister »viel
und vielerlei« auf und nieder; strafende und lohnende Boten der
Gottheit, und niemand entging seinen Taten. Diese Geister verfolgten
auch den Grafen: Reue, Ruhelosigkeit, Lebensüberdruß hießen sie, und auf
jede Lebensfreude legten sie ihre ertötende Hand. Wieder zog der Graf
über die Alpen nach Deutschland. Das Schloß Seeburg war verkauft, -- er
kam nach Wien, wo er menschenscheu und finster in einem einsamen,
kleinen Hause wohnte. Oft hörte ihn seine Tochter auf- und abgehen in
der Nacht; sie hatte keine Bekanntinnen, keine Freundin; eine alte
Dienerin ihrer Mutter war ihr ganzer Umgang. So verlebte sie ihre ersten
Jugendjahre fast ganz sich selbst überlassen; während ihr Vater immer
finsterer und finsterer ward. Er verbot ihr zu singen, zu spielen; sie
seufzte und fügte sich. Da wurde eines Morgens der alte Graf Seeburg tot
im Bett gefunden; kein Mensch war bei seinen letzten Augenblicken
zugegen gewesen, er war gestorben wie ihn Helene nur gekannt hatte --
einsam und allein. Einsam und verlassen war aber auch sie jetzt, ein
junges Mädchen in einer großen, fremden Stadt, die sie nicht kannte, wo
niemand sie kannte. Es fand sich, daß die Hinterlassenschaft ihres
Vaters kaum hinreichte, die während seines Aufenthalts in Wien gemachten
Schulden zu bezahlen.
Unter den wenigen, die von Zeit zu Zeit das Haus ihres Vaters betreten
hatten, war ein Doktor Berg, ein nicht mehr ganz junger Mann, und dieser
war der einzige, welcher, an das Totenbett des alten Grafen gerufen,
nachdem er ihm die Augen zugedrückt hatte, sich der jungen Waise annahm.
Er brachte ihre Vermögensverhältnisse in Ordnung; er führte sie, die
ebenfalls fast menschenscheu Gewordene, zu guten Menschen, zu seiner
alten, freundlichen Mutter. Er schien alles, was er tat, nur als seine
Pflicht anzusehen, und er, der ihr anfangs gleichgültig war, gewann ihre
Zuneigung mehr und mehr. Da bot er ihr seine Hand, und die Gräfin Helene
Seeburg ward seine zufriedene, glückliche Gattin, bald noch glücklicher
durch die Geburt eines Sohnes, der Gustav genannt wurde. Da zwangen
Verhältnisse -- auch seine Mutter war gestorben -- den Doktor Berg, Wien
zu verlassen; er zog hieher und bemühte sich, eine Praxis zu gewinnen.
Eben schien es ihm zu gelingen, als eine heftige Seuche, die verheerend
von Osten kam und über das ganze Land todbringend zog, auch ihn
wegraffte; er ließ seine Frau und seinen Sohn fast unbemittelt zurück.
Auf dem Johanniskirchhof, zwanzig Schritte von Franz und Marie Ralff,
ward er begraben.
Das war es, was die Frau Helene Berg erzählte, während der Ring mit dem
Wappen der Grafen Seeburg, die Schlange, welche den Rubin umwand, vor
ihr auf dem Tische funkelte. Noch an demselben Abend trug ich ihn auf
die Königsbrücke und warf ihn weithin in den Strom, nachdem ich ihn in
zwei Stücke zerbrochen hatte. Helene lehnte neben mir am Geländer, und
schweigend gingen wir zurück in die Sperlingsgasse zu unsern Kindern.
* * * * *
War's nicht ein hübsches, ein glückliches Vorzeichen, dieser kleine
goldgelbe Vogel, der zwischen den beiden Wohnungen hin und her
flatterte, der seine Wohnung dort und hier hatte, oft ein kleiner treuer
Bote war, und an seinem beweglichen Hälschen gar wichtige Nachrichten,
Fragen oder Antworten hinüber- und herübertrug?
»Schau mal nach, Lise, das Flämmchen trägt wieder einen Zettel am Halse.
Jetzt werden wir wohl erfahren, wo der Bösewicht, über den ich die alte
Martha draußen noch brummen höre, steckt.«
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