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Die Chronik der Sperlingsgasse - 12

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  korinthisches Erz aus den Metall-Statuen, und -- die Weltgeschichte ging
  einen Schritt vorwärts. Es hat den Römern nichts geholfen, die größten
  Kriegs- und Verwaltungskünstler zu sein, -- Zündnadelgewehre und
  Lancasterkanonen sind Spielzeug im Kampf gegen die _eine_ Macht im
  Weltall, welche die Gestirne treibt und die Wandervögel, und welche die
  Völker bewegt zur rechten Zeit. Die Barbaren kümmerten sich nicht um
  Kommandowörter; sie stürmten die Tore Roms und -- die Weltgeschichte
  ging einen Schritt weiter!«
  Ich schüttelte wieder das Haupt und brummte: »Immer zertrümmern,
  zertrümmern!«
  »Meine Mutter starb, indem sie mich gebar!« sagte der Zeichner grimmig
  und stand still. Wir hatten den Ausgang der Sperlingsgasse erreicht; ein
  kleiner Handwagen, mit Kisten und Kasten beladen, versperrte uns den
  Weg. »Jetzt will ich Ihnen auch sagen, wo ich _in der Tat_ hin will;
  nicht wohin ich gehen _könnte_,« sagte Strobel. »Kommen Sie!«
  Verwundert folgte ich dem in eine dunkle Kellerwohnung Hinabsteigenden.
  So ist das menschliche Leben. Lange, lange Jahre hatte ich in dieser
  Gasse gewohnt, täglich fast war ich vor diesem Hause, vor diesen trüben
  Fenstern vorbeigegangen, und heute, am letzten Tage, den die arme hier
  wohnende Familie dahinter zubringt, steige ich zum ersten Male die
  feuchten Stufen hinab zu ihr. Der Zeichner stellte mich dem Hausherrn
  vor, dem Schuhmacher Burger, einem Manne, welchem eine ganze
  Passionsgeschichte vom Gesichte abzulesen war. Heute Abend führt ihn und
  die Seinigen die Eisenbahn der Seestadt zu, von wo sie ein Schiff nach
  einer neuen Heimat, nach dem jungen Amerika bringen soll; und der
  Zeichner -- will die Familie begleiten nach Hamburg.
  Die wenigen des Mitnehmens werten Habseligkeiten der ärmlichen Wohnung
  waren schon zusammengepackt; die bleichen, traurigen Gesichter der
  Eltern, das teilnahmlose der alten Großmutter, die auch heute noch am
  gewohnten Platz hinter dem Ofen spann, die Kinder, welche verwundert in
  den Winkeln kauerten, alles machte einen tiefen, wehmütigen Eindruck auf
  mich.
  Es ist nicht mehr die alte germanische Wander- und Abenteuerlust, welche
  das Volk forttreibt von Haus und Hof, aus den Städten und vom Lande;
  welche den Köhler aus seinem Walde, den Bergmann aus seinem dunkeln
  Schacht reißt, welche den Hirten herabzieht von seinen Alpenweiden, und
  sie alle fortwirbelt, dem fernen Westen zu: Not, Elend und Druck sind's,
  welche jetzt das Volk geißeln, daß es mit blutendem Herzen die Heimat
  verläßt. Mit blutendem Herzen; denn trotz der Stammzerrissenheit, trotz
  aller Biegsamkeit des Nationalcharakters, der so leicht sich fremden
  Eigentümlichkeiten anschmiegt und unterwirft, -- worin übrigens in
  diesem Augenblick vielleicht allein die welthistorische Bedeutung
  Deutschlands liegt -- trotz alledem hängt kein Volk so an seinem
  Vaterland als das deutsche.
  In englischen Schriften läuft Deutschland öfters als »^the fatherland^«
  [Griechisch: kat' exochên]. Das wird zwar mit einem gewissen »^sneer^«
  gesagt, aber es ist eine Ehre für unsere Nation, und wir können stolz
  darauf sein.
  O, ihr Dichter und Schriftsteller Deutschlands, sagt und schreibt
  nichts, euer Volk zu entmutigen, wie es leider von euch, die ihr die
  stolzesten Namen in Poesie und Wissenschaften führt, so oft geschieht!
  Scheltet, spottet, geißelt, aber hütet euch, jene schwächliche
  Resignation, von welcher der nächste Schritt zur Gleichgültigkeit führt,
  zu befördern oder gar sie hervorrufen zu wollen.
  Als die Juden an den Wassern zu Babel saßen und ihre Harfen an den
  Weiden hingen, weinten sie, aber sie riefen:
  »Vergesse ich Dein, Jerusalem, so werde meiner Rechten vergessen!«
  _Die_ Worte waren kräftig genug, selbst die zuckenden Glieder eines
  Volkes durch die Jahrtausende zu erhalten.
  Ihr habt die Gewohnheit, ihr Prediger und Vormünder des Volkes, den
  Wegziehenden einen Bibelvers in das Gesangbuch des Heimatsdorfes zu
  schreiben; schreibt:
  »Vergesse ich Dein, Deutschland großes Vaterland: so werde meiner
  Rechten vergessen!«
  Der Spruch in aller Herzen, und -- das Vaterland ist ewig!
  Das letzte Hausgerät war zusammengebunden und auf den kleinen Wagen in
  der Gasse gelegt. Traurig schauten sich die armen Leute in ihrer
  verödeten Wohnung, die alle Leiden und Freuden der Familie gesehen
  hatte, um.
  »'s ist 'n hart Ding, 's ist 'n hart Ding!« sagte seufzend der Meister,
  und Strobel klopfte ihn leise auf die Schulter.
  »Es ist Zeit, Mann! Faßt Euch ein Herz, geht Eurer Frau mit einem guten
  Beispiel voran.«
  »Der Totengräber hat versprochen, er will unseres Fritzen Hügel draußen
  nicht verrotten lassen!« schluchzte die Frau.
  Burger wischte sich mit dem Ärmel über die Augen, erhob sich aus seinem
  Hinbrüten und ging, seine alte Mutter hinaufzuführen auf die Gasse;
  seine Frau weinte laut, brach einen Zweig von der verkümmerten Myrte im
  Fenster, legte ihn in ihr Gebetbuch und nahm ihr jüngstes Kind auf den
  Arm, während sich die anderen an ihre Schürze und ihren Rock hingen. Die
  Familie stieg die enge schwarze Treppe, welche auf die Straße führt,
  hinauf, -- sie hatte ihren langen Weg begonnen!
  Draußen wechselte Regen mit Sonnenschein, wie der April es mit sich
  brachte. Der Meister zog seinen Wagen voraus, wir anderen folgten. Einen
  letzten Blick werft zurück in die enge, dunkle, arme Sperlingsgasse --
  ihr werdet wohl oft genug an sie denken -- und dann hinaus in die weite
  Welt, ihr Wanderer!
  Bis an das Tor brachte ich den Zeichner und seine Schützlinge. Ein
  letzter Händedruck, ein letzter Gruß! Wer weiß, ob wir nicht noch einmal
  uns wieder sehen, Strobel! Lebt wohl! lebt wohl! -- Und wieder einmal
  konnte ich einsam und allein zurückkehren, einsam und allein dies Blatt
  der Chronik der Sperlingsgasse aufzuzeichnen.
  
  
   Am 1. Mai. Abend.
  
  Ich saß heute Nachmittag draußen im Park in den warmen Sonnenstrahlen,
  die hell und lustig durch die noch kahlen Zweige der höheren Bäume und
  durch das mit zartem, frischem Grün bedeckte niedere Gesträuch fielen.
  Kinder mit Sträußen von Frühlingsblumen zogen an mir vorüber; ein
  Maikäfer, mit einem Zwirnfaden am Bein, hing schlaftrunken an einem
  Zweige mir zur Seite, und ein stubengesichtiger junger Mann, dem ein
  Buch hinten aus der Rocktasche guckte, grub sorgsam eine Pflanze aus. Es
  war ein prächtiger Frühlingsnachmittag. Da begannen auf einmal in der
  Stadt die Glocken zu läuten, den morgenden Sonntag zu verkünden, und
  wieder schwebte, von den »Himmelstönen« getragen, eine süße Erinnerung
  heran.
  Es war auch ein erster Mai. Da war der Frühling gekommen mit jungem
  Grün, bauenden Schwalben und einem -- Hochzeitstage in der alten,
  dunklen Sperlingsgasse. Sie hatten Blumen gestreut, und mit Blumen und
  Laubkränzen die Pfosten umwunden; sie hatten Sonntagskleider angezogen
  in der Sperlingsgasse, und alle hatten fröhliche, fröhliche Gesichter.
  Und der Himmel war blau, und die Sonne schien strahlend durch den Efeu,
  welchen vor so langen Jahren Marie Ralff im Ulfeldener Walde ausgegraben
  hatte; aber weder Himmelsblau noch Sonnenschein kamen an heiliger
  Reinheit dem Gesichtchen gleich, das sich an jenem ersten Mai an meine
  Schulter schmiegte und durch Tränen lächelnd zu mir aufschaute. Das Bild
  der Mutter sah aus seinem Rahmen und den Kränzen, die es heute umwanden,
  ebenfalls lächelnd auf uns herab. Lächeln, Lächeln überall! Und als das
  junge Herzchen an meiner Brust pochte, auf der anderen Seite Gustav mir
  den Arm um die Schulter legte; als Helene weinend der jungen Braut den
  Kranz in die Locken drückte, da war es mir, als sei nun ein lange
  dunkles Rätsel gelöst, und ich senkte das Haupt vor der geheimnisvollen
  Macht, welche die Geschicke lenkt und ein Auge hat für das Kind in der
  Wiege und die Nation im Todeskampf. Wie die Fäden laufen mußten, um hier
  in der armen Gasse sich zusammen zu schürzen zu einem neuen Bunde! Wie
  so viele Herzen fast brechen wollten, um ein neues Glück aufsprießen zu
  lassen! Das ist die große, ewige Melodie, welche der Weltgeist greift
  auf der Harfe des Lebens, und welche die Mutter im Lächeln ihres Kindes,
  der Denker in den Blättern der Natur und Geschichte wahrnimmt. --
  Wir sprachen an jenem Tage nicht viel! Das Glück ist stumm, und was die
  Liebe -- die wahre Offenbarung Gottes -- sich zuflüstert, hat noch kein
  Dichter auf Papyrus, Pergament oder Papier festgehalten. Die kleine
  Kirche war gar feierlich heilig, als der junge Maler -- er dachte in dem
  Augenblick gewiß nicht an sein gefeiertes Bild, Milton, den Galilei im
  Gefängnis zu Rom besuchend -- als der junge Maler seine schöne Braut
  hineinführte an den geschmückten, lichterglänzenden Altar. Und niemand
  fehlte in dem Kreise teilnehmender Gesichter umher! Da war das Atelier,
  da waren Elisens Freundinnen, da war vor allem die alte Martha und die
  Hausgenossenschaft und Nachbarschaft der Sperlingsgasse. Die Orgel
  begann den Choral -- und die Jungfrau Elise Johanna Ralff und Herr
  Gustav Theodor Maximilian Berg wurden durch ein ganz leises, leises Ja
  und ein anderes viel lauteres, auf eine gar verfängliche Frage, Mann und
  Frau! --
   * * * * *
  Die Chronik der Gasse nähert sich ihrem Ende. Was sollte ich auch noch
  vieles erzählen? Unsere Kinder sind glücklich in dem schönen Italien;
  die alte Martha schläft nicht weit von Mariens Grabe auf dem
  Johanniskirchhofe; ich bin alt und grau. Wenn ein Paket von Rom gekommen
  ist, so gehe ich hinüber zu der freundlichen, schönen, weißhaarigen
  Frau, die da drüben in Nr. Zwölf gewöhnlich strickend am Fenster sitzt,
  und unsere alten Herzen schlagen höher bei dem frischen Lebensglück,
  welches uns aus den engbeschriebenen Bogen entgegenleuchtet. Wir folgen
  den Kindern durch alle die alten und neuen Herrlichkeiten, wir stehen
  mit ihnen vor dem Laokoon, wir steigen mit ihnen zum Kapitol hinauf,
  unsere Schritte hallen an ihrer Seite in den Sälen des Vatikans, in den
  Loggien Raffaels wider. Wie eine reizende Märchenarabeske ist jeder
  Brief: blauer Himmel und Sonne und ein fröhliches Lachen auf jeder
  Seite!
  Es ist spät in der Nacht, als ich dieses schreibe; tiefe Dunkelheit
  herrscht in der Gasse; kein einziges erhelltes Fenster ist zu erblicken.
  Der einzige Laut, den ich vernehme, ist das Schlagen der Turmuhren oder
  der Pfiff des Nachtwächters. Da liegen alle die bekritzelten Bogen vor
  mir! bunt genug sehen sie aus! --
  Was sollte ich noch viel hinzufügen? Wenn die alten Chronikenschreiber
  ihre Aufzeichnungen bis zu ihren Tagen fortgeführt und ihr Werk beendet
  hatten, hefteten sie noch einige weiße Bogen hinten an, damit der
  künftige Besitzer die »wenigen« Ereignisse, welche vor dem Untergang der
  Welt noch geschehen würden, darauf nachtragen könne. Das nachzuahmen
  habe ich nicht im Sinn. Diese Erde wird sich noch lange drehen, in
  dieser engen Gasse wird noch manches Kind geboren werden, manche Leiche
  wird man hinaustragen, und unter den letzteren vielleicht in nicht
  langer Zeit auch den, welchen sie Johannes Wachholder nannten. -- Was
  die paar Tage, die mir noch übrig sind, bringen werden, will ich in Ruhe
  erwarten; viel Neues können sie mir nicht zeigen. --
  Ich öffne das Fenster und blicke in die dunkle, stille, warme Nacht
  hinaus. Hier und da flimmert ein einsamer Stern an der schwarzen
  Himmelsdecke. Wie feierlich der Glockenton in der Nacht klingt! Zwölf
  Uhr. In wie viele Träume mag sich dieser Schall verschlingen? Der
  grübelnde Gelehrte wird von seinem Buche verwirrt aufsehen, das junge
  Mädchen wird von Tanz- und Ballmusik träumen, der arme Kranke wird von
  dem kommenden Tage Genesung erflehen, die Mutter wird im Schlaf ihr
  kleines Kind fester an sich drücken, und der Herrscher, die Stirn wund
  vom Druck einer Krone des Zeitalters der Revolution, wird das Haupt in
  die Kissen senken und seufzen: Ein neuer Tag! --
  Meine Lampe flackert und ist dem Erlöschen nahe. Mit müder Hand schließe
  ich das Fenster und schreibe diese letzten Zeilen nieder:
  Seid gegrüßt, alle ihr Herzen bei Tag und bei Nacht; sei gegrüßt, du
  großes, träumendes Vaterland; sei gegrüßt, du kleine, enge, dunkle
  Gasse; sei gegrüßt, du große, schaffende Gewalt, welche du die ewige
  _Liebe_ bist! -- Amen! Das sei das Ende der Chronik der Sperlingsgasse!
  
  
  Anmerkungen zur Transkription
  
  Der Originaltext ist in Fraktur gesetzt. Hervorhebungen, die im
  Original g e s p e r r t sind, wurden mit Unterstrichen wie _hier_
  gekennzeichnet. Fremdsprachige Textstellen, die im Original in Antiqua
  gesetzt sind, wurden ^so^ markiert. Fetter Schriftstil wurde #so#
  markiert.
  Einfache Anführungszeichen wurden durch ">" und "<" ersetzt.
  Die variierende Schreibweise des Originales wurde weitgehend
  beibehalten. Nur offensichtliche Druckfehler wurden korrigiert wie hier
  aufgeführt (vorher/nachher):
   [S. 17]:
   ... machen, ich will -- der schreibende Greis kann jetzt nur ...
   ... machen, ich will« -- der schreibende Greis kann jetzt nur ...
   [S. 17]:
   ... lächeln -- die Welt für Dich gewinnen, Marie!« ...
   ... lächeln -- »die Welt für Dich gewinnen, Marie!« ...
   [S. 25]:
   ... der Stirn! Franz fiel mir weinend um den Hals; junge, ...
   ... der Stirn! Franz fiel mir weinend um den Hals; junge ...
   [S. 58]:
   ... und »klobige« Artillerie. -- Hier und da wandten sich ...
   ... und »klobige« Artillerie. -- Hier und da wanden sich ...
   [S. 96]:
   ... welchen die Madame Pimpernell ankündigt: ...
   ... welchem die Madame Pimpernell ankündigt: ...
   [S. 103]:
   ... »Wo lassen wir alle die Blumen, die wir pflücken, Lischen? ...
   ... »Wo lassen wir alle die Blumen, die wir pflücken, Lischen?« ...
   [S. 103]:
   ... Ist's nicht wie im Märchen, wo der Vater die verlorenen ...
   ... »Ist's nicht wie im Märchen, wo der Vater die verlorenen ...
   [S. 104]:
   ... »Wahrhaftig,« seufzt der eliminierte Schriftsteller »ich ...
   ... »Wahrhaftig,« seufzt der eliminierte Schriftsteller, »ich ...
   [S. 110]:
   ... Menschen ein Wohlgefallen!« ...
   ... Menschen ein Wohlgefallen! ...
   [S. 144]:
   ... »Gustav Berg« und drunter die geniale Übersetzung Gustavus. ...
   ... »Gustav Berg« und drunter die geniale Übersetzung Gustavus ...
   [S. 144]:
   ... Mons mit Angabe von Wohnort, Datum und Jahreszahl ...
   ... Mons mit Angabe von Wohnort, Datum und Jahreszahl. ...
   [S. 192]:
   ... dieser Chronk ein so zerfetztes, zerlumptes Ansehen gegeben ...
   ... dieser Chronik ein so zerfetztes, zerlumptes Ansehen gegeben ...
   [S. 216]:
   ... Die Hosen zog ich -- wie weiland Freund Yorik ...
   ... Die Hosen zog ich -- wie weiland Freund Yorick ...
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