Die Chronik der Sperlingsgasse - 04

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entwickelte jetzt der Karikaturenzeichner. Er hatte der Mutter den
dicken Bengel sogleich abgenommen, ließ ihn nun gar nicht aus dem
Aufkreischen herauskommen und schleppte ihn hoch auf der Schulter durch
das Gewühl voran. »O ich bin Ihnen so dankbar, so dankbar, Herr
Wachholder,« flüsterte die kleine Tänzerin, zu deren Beschützer ich mich
sehr gravitätisch aufwarf.
»Liebes Kind,« sagte ich, »ein paar solcher Junggesellen wie ich und
mein Freund würden solche Abende wie dieser sehr übel zubringen, wenn
nicht dann ausdrücklich eine Vorsehung über sie wachte. Sie sollen
einmal sehen, wie prächtig wir heute Abend noch Weihnachten feiern
werden; -- hören Sie nur, wie Alfred jubelt; sehen Sie, wie stolz und
glücklich er unter der Pickelhaube vorguckt, die ihm eben der Herr
Strobel übergestülpt hat!«
Der Karikaturenzeichner hätte sich in diesem Augenblick sehr gut selbst
abkonterfeien können -- er tat es auch, aber später. Wundervoll sah er
aus. Im Knopfloche baumelte ein gewaltiger Hampelmann, in der rechten
Hand hatte er eine große Knarre, die er energisch schwenkte; während auf
seinem linken Arm Alfred mit aller Macht auf eine Trommel paukte.
»Kleine Dame,« sagte der Zeichner jetzt zu unserer Begleiterin, »stecken
Sie mir doch einmal jene Tüte in die Rocktasche, ich komme nicht dazu!
Heda, alter Wachholder,« schrie er dann mich an, »gleiche ich nicht aufs
Haar einer Kammerverhandlung? Rechts Geknarre, links Getrommel, und für
das Fassen und Einsacken der begehrten Süßigkeiten weder Kraft noch
Platz!«
»Mama, _der_ Onkel aber mal rechter Onkel!« rief der Kleine entzückt von
seiner Höhe herab, als Rosalie der Anforderung Strobels nachkam, und ich
ebenfalls die Tasche mit allerlei füllte.
So ging es weiter, bis uns endlich die Kälte zu heftig wurde. Der
Zeichner löste sich auf -- wie er's nannte -- und überlieferte mir die
spielzeugbehangene Linke, behielt jedoch die Knarre in der Rechten, und
nun ging's durch die menschen- und lichterfüllten Straßen nach Hause.
Wie glänzte heute abend die alte dunkle Sperlingsgasse! Von den Kellern
bis zum sechsten Stock, bis in die kleinste Dachstube war die
Weihnachtszeit eingekehrt; freilich nicht allenthalben auf gleich
»fröhliche, selige, gnadenbringende« Weise. Welch einen Abend feierten
wir nun! Wir ließen unsere kleine Begleiterin natürlich nicht zu ihrem
kaltgewordenen Stübchen hinaufsteigen. War ich nicht schon auf der
Universität meines famosen Punschmachens wegen berühmt gewesen? (eine
Kunst, die mir mein Vater mit auf den Lebensweg gegeben hatte). Der
Karikaturenzeichner holte einen Tannenzweig, den er auf der Straße
gefunden hatte, hervor und hielt ihn ins Licht.
»Das ist der wahre Weihnachtsduft,« sagte er, »und in Ermangelung eines
Bessern muß man sich zu helfen wissen.«
Horch! was trappelt da draußen auf einmal auf der Treppe? Ein leises
Kichern erschallt auf dem Vorsaal und scheint noch eine Treppe höher
steigen zu wollen. »Zu mir?« sagt Rosalie und springt verwundert nach
der Tür.
»Ach, da ist sie?!« schallt es draußen, und auch ich stecke meinen Kopf
heraus.
»Guten Abend, alter Herr! Guten Abend, Rosalie! Guten Abend, Röschen!«
erschallt ein Chor heller lustiger Stimmen.
»Wo ist Alfred, wir bringen ihm einen Weihnachtsbaum!«
»Hurra, das ist's, was wir eben brauchen!« schreit der Zeichner, seine
Knarre schwingend. »Schönen guten Abend, meine Damen, und fröhliche
Weihnachten!«
Aus dunkeln Mänteln und Schals und Pelzkragen entwickelt sich jetzt ein
halbes Dutzend kleiner Theaterfeen, die alle jubelnd und lachend meine
Stube füllen, und -- auf einmal alle ein verschiedenes Musikinstrument
hervorholen, welches sie auf dem Weihnachtsmarkt erstanden haben. Ein
Heidenlärm bricht los; das knarrt und quiekt und plärrt und klappert,
daß die Wände widerhallen, und Rosalie, welche beschwörend von einer der
kleinen Ratten zur andern läuft, zuletzt die Ohren zuhaltend in dem
fernsten Winkel sich verkriecht.
Endlich legt sich der Skandal mit dem ausgehenden Atem und der
ausgehenden Kraft des Karikaturenzeichners, der vor Wonne über das
Pandämonium kaum noch seine Knarre schwingen kann.
Welch ein Punsch war das! welche Gesundheiten wurden ausgebracht! welche
Geschichten wurden erzählt! Vom Souffleur Flüstervogel bis zum
Ballettmeister Spolpato, ja bis zu Seiner Exzellenz dem Herrn
Intendanten hinauf.
Heute abend malte Strobel keine Karikaturen, aber _sich_ selbst machte
er oft genug zu einer. Beim Versuch, sich auf einer mit dem Halse auf
der Erde stehenden Flasche sitzend zu drehen, beim Zuckerreiben, beim
Versuch, den glimmenden Docht eines ausgeputzten Wachslichts wieder
anzublasen und bei andern Kunststücken.
Alfred, der durch Unterlegung von Pfuffendorfs und Bayles
schweinslederner Gelehrsamkeit und durch Auftürmung verschiedener
dickbändiger Erziehungstheorien dazu gebracht war, neben seiner kleinen
Mutter sitzend, über den Tisch blicken zu können, jubelte mit, bis ihm
die Augen zufielen, und er auf meinem Sofa ein- und weiterschlief bis
elf Uhr, wo das Fest endete, die kleinen Gäste wieder in ihre Mäntel
krochen, mich für einen »gottvollen alten Herrn« erklärten, Röschen
küßten und nach einem vielstimmigen »gute Nacht« die Treppe
hinabtrippelten. Darauf trug Strobel den schlafenden Alfred eine Treppe
höher (wozu ich leuchtete) und -- auch dieser Weihnachtsabend der
Sperlingsgasse war vorbei.


Am 1. Januar.

Neujahrstag! -- Ich habe einen Brief bekommen aus dem fernen Italien;
ein köstliches Neujahrsgeschenk. Er spricht von der alten dunkeln
Sperlingsgasse und Glück und Wiedersehen, und eine Frauenhand hat diese
feinen, zierlichen Buchstaben gekritzelt. Den Namen der Schreiberin
nenne ich aber noch nicht, sondern fahre in meinem Gedenkbuch fort, wozu
ich diesmal eine neue Mappe hervorsuchen muß.
So war ich denn allein mit der kleinen Elise, die unbewußt ihres
Waisentums und des unbehülflichen Pflegevaters, auf Marthas Schoß
tanzte, als ich auch von _dem_ Begräbnisse zurückkehrte in diese vor
kurzem noch so fröhliche, jetzt so öde Wohnung in Nr. Sieben der
Sperlingsgasse. Da stand -- es steht noch da -- auf dem Fenstertritt
Mariens kleines Nähtischchen mit unvollendeten Arbeiten, Zwirnknäulchen,
Nadeln und Bändern, wie sie es an _jenem_ Abend, über Kopfweh klagend,
verlassen hatte, um nicht wieder davor zu sitzen, nicht wieder durch die
Rosen- und Resedastöcke und das Efeugitter in die dunkle Gasse hinaus zu
sehen. Da waren noch allenthalben die Spuren ihrer zierlichen
Geschäftigkeit. Franz hatte die letzten drei Monate wie ein Argus über
ihre Erhaltung gewacht. -- Dort auf jenem Stuhl hing noch ihr Hütchen,
dort das Handkörbchen, welches sie bei ihren Einkäufen mit sich führte.
Im zweiten Fenster stand Franzens Staffelei; das vollendete Bild
Mariens, lächelnd, wie sie nur lächeln konnte, -- darauf lehnend. Seine
farbenbedeckte Palette hing daneben, seine Skizzenmappen und Rollen
lehnten und lagen allenthalben. Hinter der Tür hing sein zerdrückter
Biber, den wir so oft auf unsern Spaziergängen mit Blumen und
Laubgewinden umkränzten, und der Marien, seines jämmerlichen, manchen
sturmdurchlebten Aussehens wegen, ein solcher Dorn im Auge war.
Kein Fleckchen, kein Gerät ohne seine traurig süße Erinnerung.
Zerbrochenes Kinderspielzeug auf dem Boden ...... und ich allein mit dem
Kinde in dieser kleinen Welt eines verlornen Glücks, -- Erbe von so viel
Schmerz und Tränen und Verlassenheit!
Aber jetzt galt es zu handeln, nicht zu träumen. Ich mußte mich
aufraffen. Ich nahm der Wärterin das kleine Lischen aus den Armen, küßte
es und versprach mir leise dabei, dem Kinde meiner Freunde ein treuer
Helfer zu sein im Glück und Unglück, bei Nacht und bei Tage, und ich
glaube den Schwur gehalten zu haben. Das Kind sah mich mit seinen großen
blauen -- denen der Mutter so ähnlichen -- Augen lächelnd an, griff mit
beiden Händen mir in die Haare und begann lustig zu zausen, wobei die
alte Martha mit gefalteten Händen zusah. Martha war schon Mariens
Wärterin im Rektorhause zu Ulfelden gewesen, war mit ihr zur Stadt
gekommen und hatte sie nicht verlassen bis an ihren Tod.
Da meine Wohnung drüben in Nr. Elf zu beschränkt war, um die ganze
kleine Welt dahin überzusiedeln, so hielt ich zuerst mit Martha einen
Rat, dessen Resultat war, daß ich meine Bücher, Herbarien, Pfeifen und
unleserlichen Manuskripte nach Nr. Sieben herüber holte, worauf Martha
alles aufs beste einrichtete. Indem ich alle Liebe für die Eltern nun in
dem Kinde konzentrierte, hoffte ich, auf den Trümmern des
zusammengestürzten Glücks ein neues hervorblühen sehen zu können. Drüben
blieb die Wohnung nicht lange leer; mein dicker Freund, der Doktor
Wimmer, zog ein und spielte eine geraume Zeit den Haupthelden und
Faxenmacher der Sperlingsgasse.


Am 5. Januar.

Elise! -- So oft ich diesen Namen niederschreibe, klingt es wider in der
immer dunkler herabsinkenden Nacht meines Alters wie ein Kindermärchen,
wie Lerchenjubel und Nachtigallenklage, umgaukelt es mich so duftig, so
leicht, so elfenhaft ...... Elise, Elise, komm zurück! Sieh, ich bin alt
und einsam! Weißt du nicht, daß ich dich auf den Armen schaukelte, daß
ich über dir wachte in langen Nächten, wie nur eine Mutter über ihrem
Kinde wachen kann? -- Und aus weiter Ferne glaube ich oft eine zärtliche
wie Musik tönende Stimme zu vernehmen: Ich komme! ich komme! Geduld, nur
noch eine kurze Zeit!
Und ich warte und hoffe und fülle diese Blätter mit dem Namen meines
Kindes Elise.
So tauche denn auf aus dem Dunkel, du Idyll, bringe mit dir deine
Märchenwelt, dein Lächeln durch Tränen! Komm, mein kleines Herz; -- aus
den schweinsledernen Folianten lassen sich so hübsche Puppenstuben
bauen; schau einmal her, was für ein prächtiges Bett gibt mein
Papierkorb ab für die Jungfern Anna, Laura, Josephine und wie die
kleiegefüllten Donnen sonst heißen! Einen niedlichen goldgelben
Kanarienvogel schenke ich dir, wenn du nicht weinen willst und hübsch
herzhaft den Löffel voll brauner Medizin herunterschluckst! -- Weine
nicht, Liebchen, sieh wie der Efeu aus deiner Mutter Heimatswalde
Blättchen an Blättchen ansetzt und immer höher an der Fensterwand sich
emporrankt. Schau, wie der Sonnenschein hindurchzittert und auf dem
Fußboden tanzt und flimmert; es ist wie im grünen Wald -- Sonnenschein
und blauer Himmel! Du mußt aber auch lächeln!
Und wie der Efeu höher und höher emporsteigt, so wächst auch du, mein
kleines Lieb; schon umgeben ebenso feine lichtbraune Locken, wie die auf
jenem Bilde, dein Köpfchen. Wer hat dich gelehrt, dieses Köpfchen so
hinüber hängen zu lassen nach der linken Seite, wie _sie_ es tat?
Schüttle die Locken nicht so und gucke mich nicht so schelmisch an aus
deinen großen glänzenden Augen! Soll das ein R sein, dieses Ungetüm? O,
welch ein Klecks, Schriftstellerin! Welche Tintenverschwendung von den
Händen bis auf die Nasenspitze! Wie wird die alte Martha waschen müssen!
Du sagst: du habest nun genug Buchstaben gemalt, du müssest jetzt
hinunter in die Gasse; du meinst: sogar die Fliegen hielten es nicht
mehr aus in der Stube, du sähest wohl, wie sie mit den Köpfen gegen die
Scheiben stießen?!
Nun so lauf und fall nicht, Wildfang; ich sehe ein, wir müssen dich doch
wohl zu dem Herrn Roder in die Schule schicken, damit du das Stillsitzen
lernst.
Was ist das auf einmal für ein helles Stimmchen, welches drüben aus dem
Fenster meiner alten Wohnung in Nr. Elf ruft:
»Onkel Wachholder, Onkel Wachholder! Ausgehen, ausgehen!«
Quält die kleine Hexe nicht schon wieder den Doktor der Philosophie
Heinrich Wimmer, der da drüben seine guten Leitartikel und schlechten
Romane schreibt? Wirklich, es ist so. Eine Baßstimme brummt herüber:
»Wachholder, 's ist ne absolute Unmöglichkeit, bei dem Heidenlärm, den
Euer Mädchen hier mit dem Buchdruckerjungen und dem Rezensenten --
(Rezensent heißt der Hund des Doktors, ein ehrbarer, schwarzer Pudel)
treibt, weiter zu schreiben. Ich bin mitten in einer der sentimentalsten
Phrasen abgeschnappt, -- die kleine Range ist aus Rand und Band, und
dabei grinst der Lümmel Fritze im Winkel und will Manuskript für die
morgende Nummer.«
»Schicken Sie doch das Mädchen fort, Doktor, und riegeln Sie Ihren
Musentempel hinter ihr zu!« lache ich hinüber.
»Dummes Zeug,« brummt der Doktor, der eine echte zeitungsschreibende
Bummelnatur ist, und dem die Störung durchaus nicht mißfällt. »Dummes
Zeug; ich schreibe >Fortsetzung folgt<, und wir führen die Dirne in
Schreiers Hunde- und Affenkomödie; der Rezensent hat's auch nötig, daß
seine ästhetische Bildung aufgefrischt werde, wie ein Pack verflucht
sonderbar riechender Zeitungsnummern in der Ecke zur Genüge beweist.
Machen Sie sich fertig, Verehrtester!«
Damit verschwindet der Doktor vom Fenster; ich höre drüben auf der
Treppe ein Getrappel kleiner Füßchen, und Lise erscheint, begleitet vom
Rezensenten, in der Haustür. Mit einem Satz ist sie über die Gasse,
ebenso schnell bei mir und im Handumdrehen fertig, wenn's sein müßte,
eine Reise um die Welt anzutreten.
Einige Minuten später stürzt Fritze, der Druckerjunge, aus der Tür von
Nummer Elf mit einem Blatt Papier, welches noch sehr naß zu sein
scheint, denn er trägt es gar vorsichtig und hält es mit beiden Händen
weit von sich ab. Jetzt erscheint der Doktor ebenfalls in der Gasse, den
österreichischen Landsturm pfeifend, die Zigarre im Munde und mit dem
Hakenstock sehr burschikose Fechterübungen gegen einen eingebildeten
Gegner machend. Er brüllt herauf:
»Wetter, edler Philosoph, lassen Sie die deutsche Presse nicht zu
unvernünftig lange warten.«
Halb gezogen von Lischen, halb umgeworfen vom Rezensenten, der wie es
scheint, seiner höheren Bildungsschule sehr ungeduldig entgegengeht,
stolpere ich die Treppe hinunter, über Eimer und Besen, über Kinder und
Körbe. Aus allen Türen blicken alte und junge, männliche und weibliche
Köpfe, die alle der kleinen Lise Ralff freundlich zunicken. Und
wirklich, sie ist auch -- wie einst ihre Mutter, nur jetzt noch auf
andre Weise -- das bewegende Prinzip der ganzen Hausgenossenschaft. Auf
der Gasse taucht der Klempner Marquart aus seiner Höhle auf und erhält
von der Lise Gruß und Handschlag, nicht aber vom Rezensenten, der den
Feuerarbeiter haßt, und, wie es so oft in der Welt geschieht, das
Werkzeug für die Ursache nimmt. Hat nicht Marquart auf hohe polizeiliche
Anordnung ihm, dem ehrbaren, soliden Rezensenten, dem Muster aller
Pudel, den Maulkorb mit der Steuermarke um die beschnurrbartete Schnauze
geschlossen? Wer verdenkt es dem braven Köter, wenn er wehmütigwütig vor
dem Keller den husarenfederbuschartig zugeschnittenen Schwanz zwischen
die Beine zieht und seitwärts schielend vorbeischleicht, »sich in die
Büsche schlägt« wie Seume und mein Freund Wimmer sagen? Und nun durch
die Gassen! Himmel, was sollen wir der Kleinen nicht alles versprochen
haben! Da eine »reizende« Gliederpuppe mit Wachsgesicht, an jenem Laden
wieder ein »wonniges« kleines Puppenservice von gemaltem Porzellan und
so fort, daß der Doktor ganz wehmütig den Hut auf die Seite schiebt und
sich hinter dem Ohr kratzt.
»Ja, gucke nur, Onkel Wimmer, hast Du nicht gesagt, Du wolltest mir
solch ein hübsches Kaffeegeschirr kaufen, wenn ich nicht wieder aus
Deinen alten, schmutzigen Schreibbüchern dem Rezensenten einen Federhut
machen wolle?«
»Denken Sie, Wachholder« -- sagt der Doktor zu mir -- »da hatte die
Herostratin vorgestern einen ganzen Bogen Manuskript, das ganze
zwanzigste Kapitel der Flodoardine zu dem eben von ihr erwähnten Zwecke
vermißbraucht! Denken Sie sich meine Verblüfftheit, als der Köter so
geschmückt aus seinem Winkel mir entgegenstolziert, auf den Stuhl mir
gegenüber springt und einen verachtenden Blick über den Schreibtisch und
die noch übrigen Bogen wirft, als wolle er sagen: Pah, aus dem andern
Schund machen wir eine ganz famose Jacke!«
»Kriege ich mein Geschirr?« ruft der kleine Verzug zwischen uns
ungeduldig.
»Ja,« sagte der Doktor gravitätisch; »mit der zweiten Auflage der
Flodoardine!«
»Ach,« mault die Kleine, wehmütig über diese dunkle, ihr unverständliche
Vertröstung, »ich sehe schon, Du hast wieder mal kein Geld!«
Lachend marschierte ich weiter, während der Doktor ebenfalls etwas
Unverständliches in den Bart brummte.
Und jetzt sind wir am Eingange der buntgeschmückten Bude angekommen und
einen Augenblick darauf auch drinnen. Affen und Äffinnen, Hunde und
Hündinnen machten ihre Kunststücke, und die Bretter bedeuteten auch hier
eine Welt, und Affe und Äffin, Hund und Hündin betrugen sich wie
Menschen. Die kleine Elise jauchzte, und Rezensent starrte verwundert
seinen Stammesgenossen auf der Bühne zu. Er schien ganz perplex, und von
Zeit zu Zeit stieß er einen heulenden Laut aus, den der Doktor
verdolmetschte:
»Berichterstatter war außer sich vor Entzücken.«
Bellte der gelehrte Pudel kurz und schroff, so meinte der Doktor, das
bedeute:
»Berichterstatter war außer sich über die Insolenz eines so
unreifen Künstlers, vor einem so kritisch gebildeten Publikum,
wie das unserer Residenz, zu erscheinen.«
Wedelte das rezensierende Vieh mit seinem Husarenbusch, so hieß das:
»Diese junge Künstlerin verdient alle Ermunterung. Bei
fortgesetztem, fleißigem Studium verspricht sie etwas Großes zu
leisten.«
Gähnte der Köter, so sagte der Doktor:
»Berichterstatter rät dem Verfasser dieses geistvollen Stücks,
sein elendes Machwerk nicht für dramatische Poesie auszugeben.
Mit einer Tragödie hat es nichts gemein als fünf Akte!«
Als am Schluß der Vorstellung das große und kleine Publikum sich erhob
und Beifall klatschte, der Pudel aber, wie von einer großen
Verpflichtung befreit, unter die Bank sprang, erklärte der Doktor, das
bedeute:
»Gottlob, daß die Geschichte vorbei ist. Jetzt kann man sich doch
mit Gemütsruhe eine Zigarre anzünden und zu Butter und Wagener am
Gänsemarkt gehen.«
Und das tat der Doktor auch. Vorher aber hob er die kleine Elise noch zu
sich empor und gab ihr -- wie sehr sie sich auch sträubte -- einen
tüchtigen Schmatz.
»Also bei der zweiten Auflage der Flodoardine schaffen wir uns ein neues
Teeservice an,« sagte er lachend.
Rezensent schien erst im Zweifel mit sich zu sein, welcher von beiden
Parteien er folgen solle. Zuletzt gewann aber der Gedanke an
Wurstschelle und so weiter die Oberhand. Er trabte dem Doktor nach.
Wir aber gehen nicht zu Butter und Wagener am Gänsemarkt. Wir kaufen
noch Obst von der alten Hökerfrau an der Ecke, und kehren glücklich --
das kleine Herz voll vom Affen Kätz mit der Laterne und dem Spitz
Hudiwudri, der lustigen Madame Pompadour und all den andern Wundern,
zurück in unsere Sperlingsgasse und schlafen, müde vom Gehen, Lachen und
Jubeln, schon beim Auskleiden ein.
Dann steigt der volle reine Mond über den Dächern auf. Der Abendwind
weht frischere Lüfte über die große Stadt. Der Lärm des Tages ist
vorbei; manche bedrückte Brust atmet leichter in der dämmerigen Kühle.
Mancher sehnige Mannesarm, welcher den Tag über den Hammer, das Beil,
die Feile regierte, legt sich sanft um ein befreundetes Wesen, das ihm
neuen Mut im harten Kampf gegen die Materie gibt; manche harte Hände
heben kleine, schlaftrunkene Kindchen aus den ärmlichen Bettchen, um an
den kleinen Lippen Hoffnung und Mut zum neuen Schaffen zu saugen! Und
auch ich beuge mich dann über meine schlafende Pflegetochter, den
leisen, ruhigen Atemzügen der kleinen Brust lauschend, während die alte
Martha am Fußende des Bettes strickt.
Das Lockenköpfchen des Kindes liegt auf dem rechten Ärmchen, das
Gesichtchen ist in dem Kopfkissen vergraben; ich kann die lieblichen,
reinen Züge nicht sehen.
* * * * *
Da sieh! Plötzlich wendet sich das Kind um und dreht mir voll das
Gesicht zu -- es murmelt etwas. »Mama!« flüstert es leise, und ein
heiliges, glückseliges Lächeln gleitet über das Gesichtchen.
Wer raunt der Waise das süße Wort zu? -- Die alte Martha hat die Hände
gefaltet und betet leise. -- »Mama, liebe, liebe Mama!« flüstert das
Kind wieder, das Ärmchen ausstreckend.
Ist es ein Traum, oder kommt die erdentote Mutter zurück, über ihrem
Kinde zu schweben?
Dann fällt wohl ein Mondstrahl glänzend durch das Efeugitter auf das
Bild Mariens, der Kanarienvogel zwitschert auch wie im Traume auf, eine
Wolke legt sich vor den Mond, der Strahl verschwindet, -- das Kind
versenkt, sich umdrehend, das Köpfchen wieder in die Kissen.
»Gute Nacht, Elise! ^Felicissima notte^, sagen sie in dem schönen
Italien, wo Du heute weilst, eine glückliche, liebende Frau:
^Felicissima notte^, Elise!«


Am 10. Januar.

Seit ich jene Mappe, überschrieben: Ein Kinderleben, -- hervorgenommen
habe, ist in meinem bisherigen Fenster- und Gassenstudium eine Pause
eingetreten. Es soll draußen sehr kalter Winter sein; Strobel behauptet
es, auch Rosalie ist nicht dagegen. Ich kann nicht sagen, daß ich viel
davon wüßte. In diesen vergilbten Blättern hier vor mir ist es sonniger
Frühling und blühender Sommer. Es macht mir Freude, mich darin zu
verlieren, und ich erzähle deshalb weiter.
Da ist so ein altes Blatt:
Wir sind sehr ungnädig. Ein alter, dicker, lächelnder Herr ist
dagewesen, hat uns den Puls gefühlt, noch mehr gelächelt, einigemal mit
seinem spiegelblanken Stockknopf seine Nasenspitze berührt, hat Tinte
und Papier gefordert und kurze Zeit auf einem länglichen
Papierstreifchen gekritzelt. Martha hat diesen Zettel darauf
fortgetragen, der Alte hat uns auf das Köpfchen geklopft und gesagt:
»Schwitzen, schwitzen!«
»Brr!« -- --
Mühe genug hat's dem Onkel Wachholder gekostet, einen solchen kleinen
strampelnden Wildfang zur Räson und ins Bett zu bringen. 'S ist auch
zuviel verlangt, die Arme so ruhig unter die Decken zu halten und nur
den Kopf frei zu haben. -- Himmel, was bringt Martha da für einen
kleinen braunen Kerl an! Er gleicht fast: dem Sem, dem Ham oder dem
Japhet aus dem Noahkasten, trägt ein rotes Mützchen über das Gesicht
gezogen und mit einem Faden umbunden, und schleppt hinter sich her einen
langen papiernen Zopf. Was ist's für ein Glück, daß wir noch nicht
imstande sind, die Inschrift darauf zu lesen:
Fräulein Elise Ralff.
Alle 2 St. einen Eßlöffel voll.
Wir sehen den Burschen aber doch mißtrauisch genug aus unserm Bettchen
an, und der Doktor Wimmer, der zur Hilfe herübergekommen ist (natürlich
begleitet vom Rezensenten), meint gegen mich gewandt:
»Geben Sie acht, Wachholder, ohne Spektakel wird's nicht abgehen. Das
Volk hat sich erkältet oder erhitzt; einerlei! Schwitzen, schwitzen!
Schweiß und Blut! ^Probatum est.^«
Martha kommt nun mit einem Löffel, einem Glas Wasser und einem Stück
Zucker, während die Kleine in ihrem Bette immer unruhiger wird, und
Rezensent immer gespannter auf die Entwicklung der Dinge zu warten
scheint.
»Ich mag nicht einnehmen!« wehklagt jetzt Lise, als ich dem Meister Sem
die rote Mütze abziehe -- »es schmeckt so scheußlich!«
»Aha,« lacht der Doktor Wimmer -- »die oktroyierte Verfassung!«
Während ich mich mit dem Löffel voll Medizin der Kleinen, die sich immer
weiter zurückzieht, nähere, suche ich vergeblich alle möglichen Gründe
für das schnelle Herunterschlucken hervor.
»Gib's dem Rezensenten, er war auch gestern mit im Regen!« ruft Lischen
endlich weinerlich.
»Ja, das ist auch wahr; kommen Sie, Onkel Wachholder! Der
Redaktionspudel soll's wenigstens kosten, damit die Lise sieht, daß es
den Hals nicht gilt.«
Und der Doktor nimmt, den Rücken der Kleinen zukehrend, den Köter
zwischen die Kniee, tut als ob er ihm einen Löffel voll Mixtur eingösse
und liebkost den Pudel dabei, daß dieser freudig aufspringt und lustig
bellt.
»Siehst Du, Jungfer, wie prächtig es ihm geschmeckt hat! Allons, kleine
Donna! Frisch herunter! -- -- -- Eins! zwei! drei! und« ...
Herunter war's. Schnell das Glas Wasser und das Stück Zucker
dahinterher!
»Du häßlicher Hund!« sagt die Kleine ärgerlich, den Mund in dem Deckbett
abwischend, während die alte Martha sie fester wieder zudeckt.
Der Doktor geht nun zurück zu seinen Korrekturbogen, aber der Hund
begleitet ihn diesesmal nicht, sondern springt auf den Stuhl neben dem
Bettchen seiner grollenden Gespielin und schaut gar ehrbar auf sie
herab.
»Ja, gucke mich nur so an und lecke Deinen Schnurrbart,« sagt Lischen.
»Es schmeckte ja doch bitter?! Warte nur, wenn ich erst wieder aus dem
Bette darf.«
Da Rezensent nicht antwortet, so nehme ich für ihn das Wort:
»Vielleicht freute sich das arme Tier nur, daß es nun auch bald wieder
gesund werden könne, es war doch ebenso naß geworden wie Du und hat
gewiß auch die ganze Nacht hindurch gehustet.«
»Nein,« sagte die Kleine, »er tat's nur, weil ich ihm meine Schürze über
den Kopf gebunden hatte. Sieh nur, wie er sich freut, wie er seinen
Schnurrbart leckt!«
Dagegen läßt sich nichts einwenden, das Redaktionsvieh leckt wirklich
mit ungeheuerm Behagen die Schnauze, und ich ziehe es vor, die
moralische Seite herauszukehren.
»Das war aber auch sehr unrecht von Dir, Elise! Was hatte Dir denn das
arme Tier getan? Eigentlich dürfte ich Dir nun die schöne Geschichte,
die ich weiß, gar nicht erzählen.«
»Wir wollen uns wieder vertragen,« sagt Elise wehmütig und nickt dem
Pudel zu. »Nicht wahr, Du?«
Glücklicherweise legt Rezensent gravitätisch seine schwarze Pfote auf
die Bettdecke, und so nehme ich den Frieden für geschlossen an.
»Gut denn, wenn Du hübsch artig und still liegen bleiben und weder
Händchen noch Füßchen hervorstrecken willst, so werde ich Dir eine
wunderbare Geschichte erzählen, die noch dazu ganz und gar wahr ist.
Höre:
Es war einmal ein -- Küchenschrank: ein sehr vortrefflicher, alter,
ehrenfester Küchenschrank, und er stand und steht -- draußen in unserer
Küche, wo wir ihn uns morgen ansehen wollen! -- Er war fest
verschlossen, welches von zwei sehr wichtigen und angesehenen Personen,
die davor standen, für das einzige Übel an ihm erklärt wurde. Martha
hatte aber die Schlüssel in ihrer Tasche, und beide Personen, die ich
Dir sogleich näher beschreiben will, erklärten das einstimmig -- sie
waren sonst selten _einer_ Meinung -- für sehr unangenehm, sehr unrecht
und sehr Mißtrauen und Verachtung erregend.
Ich habe schon gesagt, daß beide davor sitzende Personen von großem
Ansehen und Gewicht waren, sowohl in der Küche wie auf dem Hofe und dem
Boden. Beide machten sich oft nützlich, oft aber auch sehr unnütz. Jede
hatte ein Amt zu verwalten und verwaltete es auch -- das war ihre
Pflicht; jede mischte sich aber auch nur zu gern in Dinge, die sie
durchaus nichts angingen, und das -- war sehr unartig. Vor dem
Küchenschrank zum Beispiel hatten sie in diesem Augenblick durchaus
nichts zu tun, und doch waren sie da, guckten ihn an, guckten darunter,
guckten an ihm herauf. Es roch aber auch gar zu lieblich daraus hervor!
Die eine dieser Personen war mit einem schönen weißen Pelz bekleidet,
einen kleinen Schnurrbart trug sie um das Stumpfnäschen und schritt ganz
leise, leise auf vier Pfoten mit scharfen Krallen einher. Einen schönen,
langen, spitzen Schwanz hatte sie auch, und sie schwang ihn in diesem
Augenblick heftig hin und her, denn sie ärgerte sich eben sehr und zwar
über drei Dinge:
erstens: über den verschlossenen Schrank,
zweitens: über die andre Person,
drittens: über sich selbst.
Es war, es war ... nun, Lischen, wer war es?«
»Die Katze, die Katze!«
»Richtig, die Katze, Miez, der Madame Pimpernell Katze. (Holla,
Rezensent! Du brauchst nicht aufzustehen!) Die andre Person war etwas
größer als Miez, hatte einen braunen Pelz an, marschierte auch auf vier
Beinen einher, wie Miez, aber lange nicht so leise, und sie ärgerte sich
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