Der Sinn und Wert des Lebens - 08

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muß. Demnach überliefert die Geschichte dem Menschen freilich keinen
fertigen Besitz, wohl aber gewährt sie mit ihren Eröffnungen dem
Streben bestimmte Anhaltspunkte und Ziele, sie stellt es damit auf eine
eigentümliche Höhe und entzieht es zugleich der Willkür des Menschen.
Den Forderungen dieser Höhe muß alles entsprechen, was über bloße
Tagesmeinung hinaus in den Lebensbestand eingreifen und dauernd fördern
möchte. Jene Folge der Lebensordnungen bildet demnach kein bloßes Auf-
und Abwogen, es stecken darin Erfahrungen bleibender Art, die freilich
anzueignen und miteinander auszugleichen sind, um voll zum Besitz zu
werden. Denn die Macht, mit der das Ganze zu uns wirkt, ist nicht
mechanischer Art, die vom Leben gebotene Tatsächlichkeit ist nicht
für den vorhanden, der sich von der Bewegung fernhält und das Ergehen
der Menschheit mit stumpfer Gleichgültigkeit betrachtet. Die Schuld
des unsicheren Hin- und Herschwankens liegt dann aber nicht am Leben,
sondern an dem Menschen, der Früchte genießen will, ohne sich mühen
zu wollen. Möge ein solcher des indischen Wortes gedenken: »Wenn die
Fledermaus bei Tage nicht sieht, so ist das nicht Schuld der Sonne.«
Immerhin seien die Verwicklungen gewürdigt, welche das Problem gerade
der Gegenwart bereitet. Zwischen den schöpferischen Höhepunkten liegen
Zeiten, wo das Alte verblaßt und das Neue noch unfertig ist, wo daher
Kritik und Verneinung eine Hauptrolle spielen; eine derartige Zeit
der Ebbe ist bei allen glänzenden Leistungen an der Außenseite des
Lebens unverkennbar die Gegenwart. Die Lage verschärft sich bei diesen
höchsten Lebensfragen weiter dadurch, daß wir mehr als alle früheren
Zeiten ein historisches Bewußtsein ausgebildet haben, das heißt, daß
uns die Unterschiede der Zeiten und der Abstand früherer Gestaltungen
von der Gegenwart völlig deutlich vor Augen stehen; so können die
einzelnen Zeiten eher als Gegner denn als Freunde erscheinen und
sich keineswegs mühelos zu einem Ganzen verbinden. Aber wenn solches
Auseinandertreten der Zeiten allen festen Besitz zu gefährden scheint
und uns damit unruhig macht, so liegt der letzte Grund wiederum nicht
in den Dingen, sondern in uns, die wir nicht stark genug sind, die
verschiedenen Leistungen zu umspannen und miteinander auszugleichen.
Auch hier gilt es das Problem mutig anzugreifen und durch eine
Zurückverlegung seiner Behandlung dem Reichtum der weltgeschichtlichen
Arbeit gerecht zu werden und ihn dem eigenen Leben zur Förderung zu
wenden. Gefahren sind sicherlich da, aber unterliegen kann ihnen nur
eigene Lauheit und Schwäche.

Die moralische Verwicklung des Menschenlebens.
Was bisher an Widerstand und Hemmung erschien, sei es vom
überwältigenden Eindruck der Außenwelt her, sei es von der Unsicherheit
des Lebens bei sich selbst, das schien ganz wohl überwindlich, wenn nur
die ganze Seele des Menschen die Aufgabe auf sich nahm und ihre volle
Kraft an sie setzte; es bildet insofern die moralische Gesinnung in
weitester Bedeutung verstanden die Grundbedingung alles Gelingens. Aber
gerade bei ihr erscheinen Verwicklungen schwerster Art, Verwicklungen,
welche allem, was sonst das Leben an Gefahren und Mißständen bietet,
erst ihre volle Schärfe geben. Wie steht es mit dem moralischen
Verhalten des Menschen? Ein sicheres Urteil darüber zu bilden ist schon
deshalb schwer, weil die einzelnen Menschen hier sehr verschieden
sind, und neben höchsten Höhen sich tiefste Niederungen finden. Dazu
hängt das Urteil wesentlich an dem Maß, das an die Sache gelegt wird.
So kann sein weites Auseinandergehen keineswegs wundernehmen; je
nachdem es dem Optimismus oder dem Pessimismus folgt, entsteht ein
grundverschiedenes Bild der menschlichen Lage. Der Optimismus erachtet
den Kern des Menschen als gut, das Böse nur als etwas Anhangendes, als
eine Ausnahme und eine verzeihliche Schwäche, er kann das aber nicht,
ohne das Maß sehr niedrig zu nehmen und sich schon mit der bloßen
Vermeidung grober Vergehen zu begnügen. Damit aber setzt er sich in
Widerspruch mit allen großen Denkern nicht nur, sondern auch mit der
durchgehenden Schätzung im gemeinsamen Leben. Denn mochten die Denker
in ihrem Weltbilde noch so weit auseinandergehen und die einen beim All
mehr Vernunft, die anderen mehr Unvernunft sehen, darin gingen sie alle
zusammen, den moralischen Stand der Menschheit höchst ungenügend zu
finden. Und zwar beschränkten sie sich dabei nicht auf ein summarisches
Urteil, sie pflegten auch mit näherem Eingehen den weiten Abstand,
ja den Widerspruch des Durchschnittsstandes gegen das zu zeigen,
was ihnen als unerläßlich galt. Die antiken Denker verlangten für
ein Leben gemäß der Vernunft ein sicheres Maß und eine harmonische
Ausgleichung, auch ein festes Beharren inmitten der Tätigkeit, zugleich
aber fanden sie die große Menge von unersättlicher Gier erfüllt und
in unablässiger Veränderung begriffen; das Christentum berief die
Liebe, seine beherrschende Weltmacht, auch zur Leitung des menschlichen
Lebens, aber alle seine führenden Geister stimmen überein in der Klage
über den Mangel an Liebe und über die Gleichgültigkeit der Menschen
gegeneinander, über die zerstörende Macht der Selbstsucht; die Neuzeit
forderte eine Entfaltung aller Kräfte und ein volles Teilnehmen des
Menschen am aufsteigenden Zuge des Lebens, aber sie mußte zugleich
anerkennen, daß der Durchschnitt dumpf und träge die Aufgabe von sich
weist und nur durch künstliche Mittel leidlich in Bewegung zu bringen
ist. Das läßt sich näher auch zu den einzelnen Hauptdenkern verfolgen
und dabei zeigen, daß je höher einer von der moralischen Aufgabe
dachte, er um so schmerzlicher den weiten Abstand des Durchschnitts
von der Forderung empfand; so zum Beispiel Kant mit seinem Bestehen
auf lauterer Wahrhaftigkeit und strenger Gerechtigkeit. Solche
Stellung der Denker entspricht aber der durchgehenden Überzeugung der
Menschheit. Denn nicht nur galten überall nicht die Optimisten, sondern
die Pessimisten für die besseren Menschenkenner, auch die gemeinsamen
Einrichtungen pflegen vorauszusetzen, daß der Mensch das rechtlich und
sittlich Notwendige nicht aus Liebe zur Sache tut, sondern durch Lohn
oder Strafe dazu angehalten werden muß.
Lassen alle solche Erfahrungen den moralischen Optimismus als eine
flache Denkart erscheinen, so ist es begreiflich, daß der Rückschlag
dagegen seine Stärke in möglichster Hervorkehrung der menschlichen
Schlechtigkeit suchte. So vornehmlich in den Religionen und hier wieder
vor allem im Christentum. Wir wissen, wie das zu der Lehre von der
Erbsünde und von der völligen moralischen Verderbtheit des Menschen
geführt hat, ja wie hier alle Schuld des Übels im All auf den Menschen
geworfen und auf seinen Abfall von Gott zurückgeführt wurde. Der tiefe
Ernst dieser Denkweise ist sicherlich anzuerkennen, und auch darin
vertritt sie eine unbestreitbare Wahrheit, daß das Böse kein bloßes
Nebeneinander einzelner Vorgänge ist, sondern einen Gesamtstand bildet,
der den Einzelnen mit überlegener Gewalt umfängt. Aber das schwere
Problem wird hier wie ein Knoten zerhauen, und sowohl das Woher wie
das Wohin bereitet dabei größte Verwicklung. Wie kommt der Mensch zu
solcher Schuld, und wie kann sie solche Folgen haben, da in Wahrheit
der Kampf der Wesen mit seiner Wildheit und seiner Zerstörung, da der
Schmerz und der Tod weit über die menschliche Sphäre hinausreicht, auch
die Natur mit ihren Notwendigkeiten und ihren Trieben den Menschen
fest umklammert? Und wie soll bei einem Stande völliger Verderbtheit
und Stumpfheit an dieser Stelle ein neues Leben erwachen? Wird dieses
ganz und gar, ohne alles Zutun des Menschen, durch eine höhere Macht
ihm eingeflößt, so sieht man nicht, wie das zu eigenem Leben werden,
und wie eine moralische Identität zwischen früherem und späterem
Stande bleiben könnte. So haben denn auch die Gedankenwelten, welche
im Prinzip den Menschen ganz und gar verwarfen und ihn zu völliger
Passivität verdammten, in der Ausführung doch auch seinem Handeln
irgendwelches Pförtchen geöffnet. Dazu entspricht jene völlige
moralische Preisgebung des Menschen nicht dem Tatbestande des Lebens.
Denn zunächst erweist schon dieses, daß der Mensch sein moralisches
Ungenügen so schmerzlich empfindet und sich so viel damit zu schaffen
macht, daß er nicht gänzlich in jenen Stand aufgeht; es fehlen aber
auch in der Wirklichkeit des Lebens edlere Züge nicht, es fehlt nicht
an Liebe zum Menschen und an Hingebung an die Sache, ja nicht an edler
und aufopferungsvoller Gesinnung; was dem Ganzen daran mangelt, das
erscheint oft in begrenzten Kreisen, und namentlich lassen Gefahr und
Leid oft eine moralische Größe ersehen, die vom Alltagsleben aus wie
ein Wunder erscheinen mag. Immerhin bleibt die Verwicklung und das
Rätsel, daß das Höhere nicht den Gesamtstand beherrscht, sondern mehr
als eine Ausnahme und als eine Sache besonderer Fälle erscheint, daß
also eben das, was die Größe des Menschen ausmacht, von ihm selbst als
eine Nebensache behandelt wird.
Die Zusammenhänge unserer Betrachtung geben der Sache ein
eigentümliches Licht. Die Aufgabe geht dahin, das Leben von der Bindung
an die Natur abzulösen, ihm ein Beisichselbstsein zu erringen und
es aus solchem eine Welt der Gehalte und Güter erzeugen zu lassen;
das bedarf der vollen Hingebung der Gesinnung und der Richtung aller
Kräfte auf dieses Ziel. In Wahrheit pflegt jene Hingebung zu fehlen,
die Kräfte lehnen alle Bindung ab, gehen ihren eigenen Weg und geraten
dabei leicht unter die Macht eben dessen, das überwunden werden sollte;
der Vorteil des Individuums bleibt dem Handeln das höchste Ziel und
zieht alles Streben zu sich zurück. Ein derartiger Stand läßt das
Leben bei allem äußeren Aufputz innerlich leer, ein Wirken für höhere
Ziele entspringt hier weniger aus der Notwendigkeit einer geistigen
Selbsterhaltung als es zur Aufrechterhaltung des Scheines nach außen
hin und zur Verbesserung der eigenen Stellung erfolgt. So zeigt das
Leben durchgängig ein großes Manko, ja einen schroffen Widerspruch. Da
den Menschen zunächst die niedere Stufe einnimmt, so bedarf die Wendung
zur höheren einer inneren Umwälzung, und diese ist nicht möglich ohne
ein starkes Verlangen, ohne das, was Männer wie Plato und Goethe Liebe
nennen, wer aber möchte behaupten, daß eine solche Liebe überwiegend
vorhanden ist, wer kann leugnen, daß Kälte und Gleichgültigkeit die
vorherrschenden Züge bilden? Die Entfaltung des Höheren verlangt ein
inneres Selbständigwerden des Lebens, nur kraft eines solchen kann
es eine Ursprünglichkeit erreichen und aus sich selber schaffen;
wer aber kann leugnen, daß ein solches Insichselberwurzeln, eine
Selbstwüchsigkeit eine seltene Ausnahme ist? Das neue Leben hat sich
gegenüber einer feindlichen oder doch gleichgültigen Welt zu behaupten,
die äußerlich weit überwiegt; dazu bedarf es heroischen Mutes und
völliger Unerschrockenheit; läßt sich bestreiten, daß eine derartige
tapfere Gesinnung dem Durchschnitt des Lebens fehlt, daß bei diesen
Fragen Ängstlichkeit, ja Feigheit weit überwiegen, die das Spiel von
vornherein verloren geben? Alles miteinander erweist freilich nicht
eine völlige Verderbtheit des Menschen, wie die altprotestantische
Dogmatik sie lehrte, wohl aber einen Stand der Vermengung und der
Unlauterkeit, in dem das Niedere das Höhere weit zurückdrängt und es
nicht voll aufkommen läßt.
Das Übel wurzelt viel zu tief, als daß sich eine allmähliche
Überwindung durch eine geschichtlichgesellschaftliche Kultur hoffen
ließe. Wohl fühlt das gesellschaftliche Zusammensein sich als einen
Vertreter und Vorkämpfer des Guten, es vermag in der Tat gewisse
Erscheinungen des Bösen erfolgreich zu bekämpfen, ja unter besonderen
Umständen Begeisterung und Aufopferung für die gemeinsamen Zwecke zu
erzeugen, wie der gegenwärtige Krieg das deutlich zeigt, und zwar
keineswegs bloß in Deutschland. Aber solche großen Augenblicke sind
Ausnahmszeiten, die wieder vorübergehen, im allgemeinen wirkt das
gesellschaftliche Leben mehr zur Oberfläche als zur Tiefe des Menschen,
es unterdrückt mehr als es bessert, seinerseits aber erzeugt es mit
Weckung des Macht- und Herrschaftsverlangens und seiner Spaltung der
Menschen in Parteien neue moralische Gefahren und Schäden. Nun bleibt
noch die Hoffnung eines moralischen Fortschritts in der Geschichte,
aber so gewiß ihr Verlauf in anderen Stücken uns weiterbringt: ob
das auch in moralischer Hinsicht der Fall ist, steht in völliger
Unsicherheit. Nach mancher Richtung ein Fortschritt, nach anderer eher
ein Rückschritt, ein Wachstum raffinierten Genusses, ein Wachstum auch
selbstischer Machtgier, ein Abschütteln von Bindungen ohne dafür einen
Ersatz zu schaffen. Im großen und ganzen verbleibt die Verwicklung, und
zugleich verbleibt es dabei, daß die Menschheit einer Aufgabe, an der
alle innere Größe und Würde ihres Lebens hängt, sich nicht gewachsen
zeigt, daß sie damit sich selbst widerspricht, ja vielfach an ihrer
eigenen Zerstörung arbeitet. Wie kommen wir über diesen Widerspruch
hinaus, welche Wege bieten sich zur Befreiung von ihm?
Wir können unmöglich alle verschiedenen Wege schildern und prüfen,
welche die religiösen wie die philosophischen Gedankenwelten an dieser
Stelle versuchten, wir müssen uns an die beiden Hauptleistungen
halten, welche unseren westlichen Kulturkreis beherrschen. Die eine
ist philosophischer, die andere religiöser Art, jene verkörpert
sich vornehmlich im Stoizismus, der uns hier über die besondere
Schule hinaus als ein besonderer Typus der Denkweise gilt, diese
im Christentum, das wir ebenfalls nicht sowohl als ein kirchliches
Bekenntnis, sondern als eine Macht des Geisteslebens verstehen. Die
Grundlage der stoischen Gedankenwelt bildet die Überzeugung, daß, wie
immer der Mensch der Erfahrung beschaffen sein mag, das Menschenwesen
eine Vernunft in sich trägt, die allem Getriebe des Alltags sicher und
weit überlegen ist, die aller Widerspruch der Weltumgebung nicht zu
erschüttern vermag; es steht uns frei, in heroischer Erhebung uns in
diese Vernunft zu versetzen, uns fest in ihr zu verschanzen und damit
jene Überlegenheit uns zu eigenem Besitz zu machen. Hier gilt es die
Güter der höheren Welt zu reiner Gestalt herauszuarbeiten und in voller
Treue zu wahren, diese Welt gegen allen Widerstand, auch den in der
eigenen Seele, tapfer aufrechtzuhalten, durch alle Widerwärtigkeiten
des Lebens sich die Sicherheit und Freudigkeit der Gesinnung nicht im
mindesten trüben zu lassen. In diesem Zusammenhange wird zur Forderung,
das Gute lediglich aus innerer Achtung und Schätzung zu tun, allen
Lohngedanken als eine Erniedrigung abzuweisen, der Außenwelt gegenüber
volle Unabhängigkeit, ja, wenn es sein muß, trotzigen Stolz zu wahren.
Aus solchem Gedankengange entwarf Plato in leuchtenden Zügen sein Bild
vom leidenden Gerechten -- in weitem Abstand von der christlichen
Fassung dieses Begriffes --, dessen innere Hoheit alles Leid und
alle Verfolgung nur steigern, der eben dadurch das volle Bewußtsein
seiner überlegenen Größe gewinnt. In verwandter Gesinnung wollten
große Erzieher die sittliche Aufgabe ja nicht von den Erfahrungen
des Weltlaufs abhängig machen, sie etwa auf die Lehre gründen, daß
es dem Guten wohl und dem Bösen schlecht zu ergehen pflege, vielmehr
sei die Seele genügend im Guten zu stärken, um die Freude an ihm
allem Leid überlegen zu machen. »Eben die Besiegung oder vielmehr die
Durchdringung und so Vernichtung der äußeren Hemmnisse des Lebens durch
die eigene Willens-, durch die gesteigerte Tatkraft, diese ist es,
welche dem Menschen im eigenen Bewußtsein Frieden, Freude und Freiheit
gewährt« (Fröbel). Diese Denkweise hat selbstwüchsige Menschen erzeugt
und Erz in das Leben gebracht, sie hat einer Verweichlichung der
Menschheit widerstanden, sie hat auch in trüben Zeiten den Lebensmut
aufrechtgehalten; so muß diese männliche Denkweise ein Stück unseres
Lebens bleiben.
Aber sie hat gewisse Voraussetzungen und Schranken, die einen Abschluß
bei ihr verbieten. Sie hat vornehmlich den Einzelnen und die Wahrung
seiner Unabhängigkeit im Auge, der Stand des Ganzen macht ihr weniger
Sorge, und den Aufbau eines geistigen Zusammenhanges unternimmt
sie nicht; zugleich denkt sie den Einzelnen als stark und als den
Verwicklungen nicht nur der Außenwelt, sondern auch der eigenen Seele
vollauf gewachsen; so spricht sie mehr zu den Höhen als zum Gesamtstand
der Menschheit, und bei aller Beteuerung der Würde alles Menschenwesens
befaßt sie sich wenig mit den Niederungen des Menschenlebens. Auch
wird das Leben hier mehr ein Abwehren als ein Vorwärtsschreiten.
Die Grundüberzeugung wird tapfer gegen alle Zweifel und Widerstände
behauptet, nicht aber das Leben durch Erschütterung, Zweifel und Leid
hindurch wesentlich weitergebildet. Das Ganze ist mehr Festhaltung des
alten Standes als Anbahnung eines neuen; ein solcher ist aber nicht
zu entbehren, wenn das menschliche Leben im eigenen Innern schroffe
Widersprüche enthält. So genügt die bloße Abwehr nicht, ohne Vorhaltung
und Antrieb eines erhöhenden Ziels würde das Leben seine Spannung
verlieren und leicht in trägen Stillstand kommen. Solches Stocken gilt
es fernzuhalten, und das zu tun unternimmt die Religion.
Die Wendung zur Religion tritt in unsere Untersuchung nicht plötzlich
und unvermittelt ein, denn unsere Überzeugung von der Eröffnung einer
höheren Stufe des Lebens beim Menschen und seinem Getragenwerden
dadurch enthält von Haus aus einen, wenn auch nicht direkt religiösen,
so doch der Religion verwandten Charakter. Zu einer weiteren Ausbildung
dieses Charakters treibt aber die Erfahrung der ungeheuren Widerstände,
die das Geistesleben in der Welt des Menschen erfährt, sowie seiner
Ohnmacht gegen sie; die Hemmungen mögen so lange sich leidlich ertragen
lassen, als sie nur von außen kommen; sie werden unerträglich, wenn
sie auch den tiefsten Grund des Lebens ergreifen, und mit unheimlicher
Klarheit sich dort ein schroffer Zwiespalt auftut. Dann führt die
Sachlage unvermeidlich auf dieses Entweder -- Oder: entweder kommt das
Gesamtleben mit seiner bisherigen Eröffnung bei uns nicht weiter, und
es wird damit das menschliche Leben völlig sinn- und zwecklos, oder
es muß sich über den bisherigen Stand hinaus noch eine weitere Tiefe
und Kraft erschließen, womit die Hemmungen freilich nicht einfach
entfallen, aber eine Befreiung von ihrem Drucke möglich wird und das
Streben wieder in Fluß gerät.
Hier setzt nun die Behauptung des Christentums ein und eröffnet neue
Möglichkeiten. Freilich können wir diese als Philosophen und als
Kinder der Gegenwart nicht entwickeln, ohne uns mit der überkommenen
kirchlichen Fassung offen und ehrlich auseinanderzusetzen. Nach dieser
Fassung ist der Mensch aus freier Entscheidung von Gott abgefallen
und hat dadurch die ganze Welt in Tod und Elend verstrickt. Diese
Schuld hat den Zorn Gottes erregt, Zorn natürlich nicht im Sinne
eines Affektes, sondern als Ausdruck des sittlichen Ernstes; dieser
Zorn ist zu beschwichtigen, und das kann nur durch eine Sühnung der
Schuld geschehen. Eine solche Sühne kann aber nicht der durch seinen
Fall alles sittlichen Vermögens beraubte Mensch vollbringen, sie kann
nur dadurch erfolgen, daß Gott in seiner alles überwindenden Liebe
selbst Mensch wird, die Schuld auf sich nimmt, sie durch Leiden und
schmachvollen Tod sühnt und dadurch das Liebesverhältnis in voller
Herrlichkeit wieder herstellt. -- Wir können unmöglich an dieser Stelle
eine kritische Erörterung dieses Gedankenganges unternehmen[1],
dessen gewaltigen Ernst und dessen aufrüttelnde Kraft wir aufrichtig
anerkennen, aber der Behauptung wird sich kaum widersprechen lassen,
daß er, dem Mittelalter entsprungen, heute vielen ernsten Seelen
schlechterdings unhaltbar geworden ist, daß deren religiöse Überzeugung
jener mittelalterlichen Fassung entwachsen ist. Es ist eine Torheit und
ein Unrecht, sie deswegen einer geringeren Tiefe zu bezichtigen. Damit
aber entsteht die Frage, ob sich das Christentum von jener Fassung
ablösen läßt und doch eine Weltmacht bleibt, sowie dem Leben die
gesuchte Erhöhung verspricht. Wir bejahen diese Frage zuversichtlich,
wir bejahen sie von den Grundtatsachen des Lebens aus, die allem
Wandel der Zeiten überlegen sind. Eigentümlich ist hier zunächst
die Verschärfung des Problems. Das Übel wird hier nicht so sehr im
Verhältnis zur Welt als im Innern selbst gefunden, die sittliche Schuld
wird zur Wurzel alles Übels, zu dem, was allem Leid erst seine volle
Schwere verleiht. Aber aller Erschütterung, die daraus hervorgeht,
tritt die felsenfeste Überzeugung entgegen, daß das Göttliche nicht in
jenseitiger Höhe über der niederen Sphäre verbleibt, sondern daß es
in alle ihre Abgründe eingeht, ohne sich darin zu verlieren, daß es
durch seine volle Selbstmitteilung dem Menschen ein aller bisherigen
Betätigung überlegenes Leben mit einem neuen Mittelpunkt schafft,
das aber aus einem unmittelbaren Verhältnis zum Ganzen des Lebens im
Gegensatz zu allem Wirken und Schaffen an der Welt, in Bildung eines
neuen Bereiches der Wirklichkeit auch gegenüber aller Geisteskultur.
Damit wird die Grundtatsache der Setzung göttlichen Lebens im
Menschen, diese Voraussetzung aller Geistigkeit, ein gutes Stück
weitergeführt: was vorher sich über das ganze Leben ausbreiten sollte,
das wird nun in sich selbst konzentriert und eröffnet damit noch mehr
ursprüngliche Tiefe. Alle Größen und alle Begriffe müssen sich damit
steigern. Die Innerlichkeit prägt nun noch stärker ihre Überlegenheit
aus, indem sie sich in vollem Kontrast zur Welt entwickelt, die
Gesinnung wird hier bei sich selbst zur Tat, die Idee des Geisteslebens
wächst zur Gottesidee und das Reich des Geistes zum Gottesreich. Die
Eröffnung des neuen Lebens an den Menschen wird damit weit mehr zur
freien Tat, zur rettenden und erhöhenden Tat, zu einer Bekundung der
Liebe, die nichts verloren gehen läßt und sich mit ihrer ganzen Fülle
gibt. So durchgängig eine seelische Erwärmung und zugleich eine festere
Einwurzelung des erhöhenden Lebens.
Der eigentümliche Charakter dieses neuen Lebens erscheint besonders
deutlich in seinem Verhalten zum Leid. Jenes flieht nicht das Leid
und sucht es nicht irgendwie abzuschwächen, sondern es würdigt es
vollauf und geht in seine ganze Ausdehnung ein, nicht um es stehen zu
lassen, wie es steht, sondern um es in einen Gewinn zu verwandeln.
Solche Verwandlung ist keineswegs so leicht und einfach, wie oft
behauptet wird. Denn der oft gehörten Meinung, daß das Leid die Seele
veredle und vertiefe, widerspricht schnurstracks die Erfahrung. Im
gewöhnlichen Lauf der Dinge macht das Leid den Menschen eher eng,
klein, scheelsüchtig, es bringt viel Jämmerlichkeit zutage, während
die Befreiung von Not und Sorge das Herz erweitert und hilfsbereit
macht. Vertiefend kann das Leid nur wirken, wenn der Erschütterung
des Menschen eine höhere Macht entgegenkommt und ihm durch die
Erschütterung hindurch sich selbst erschließt. Dann läßt sich auch im
Menschen etwas wecken, das ihm bis dahin unzugänglich blieb, dann läßt
sich auch ein Glaube an den Menschen wiedergewinnen, an den Einzelnen
wie an die Völker und an das Ganze der Menschheit. Dieser Glaube geht
dann aber nicht auf den natürlichen Stand und die Naturbegabung des
Menschen, sondern auf das in ihm eröffnete und ihm als eigenes Selbst
verliehene göttliche Leben. Von hier aus erhält erst die Tatsache
volles Licht und einen festen Zusammenhang, daß in schwerem Leid oft
Edles unerwartet im Menschen hervorbricht, und daß damit dasjenige, was
bisher unser ganzes Wesen dünkte und uns starr zu binden schien, sich
als eine besondere Stufe erweist, über die es zwingend hinaustreibt.
So geschieht es wohl auch den Kulturen: was besonderen Zeiten die
endgültige Lösung scheint, das erweist sich in großen Prüfungen,
wie wir eine solche auch heute erleben, als unzulänglich und schal;
auch im Gelingen leben die Kulturen sich aus und werden greisenhaft;
ein Verzagen und Verzichten wäre kaum zu vermeiden, bestünde nicht
eine Möglichkeit des Hervorbrechens neuer und reiner Anfänge, die
Möglichkeit eines Jugendlichwerdens der Menschheit. Aber woher soll
diese neue Jugend kommen, wenn sich nicht der Menschheit ursprüngliche,
von der Verwicklung unberührte Lebensquellen erschließen? So macht
diese Lebensoffenbarung, und wohl nur diese, es möglich, das Leid in
seiner vollen Herbheit anzuerkennen und darüber den Mut des Lebens
nicht zu verlieren, ihn vielmehr weiter zu steigern. Da aber auch
beim Siege das Leid nicht völlig verschwindet, sondern sein Wirken
fortsetzt, so kann dieses Leben beide Pole gegenwärtig halten:
Schmerz und Freude, Hemmung und Überwindung, und die Seele dadurch
in unablässige Bewegung versetzen. Jener Aufstieg zum Ja durch das
Nein macht mit seiner Forderung einer durchgreifenden Wandlung erst
eine Geschichte der Seele möglich, erhebt auch die Weltgeschichte
erst zu einer wahrhaftigen Geschichte, während sie sonst eine bloße
Evolution, ein bloßer Naturprozeß bleibt. Es hängt damit zusammen, daß,
wie William James bemerkt, sich gehaltvolle Selbstbiographien in der
Weltliteratur fast nur auf dem Boden des Christentums finden. Was hätte
man auch zu berichten, wenn die Seele als Ganzes keine Aufgabe in sich
trägt?
Bei der näheren Entwicklung dessen sei aber mit voller Kraft und
Klarheit der Gedanke gegenwärtig gehalten, der unsere Erörterung
leitet, der Gedanke, daß das Ganze selbständigen Lebens, das nunmehr
als ein göttliches anerkannt wird, den Menschen nicht nur mit
einzelnen Wirkungen berührt, sondern mit seiner ganzen Fülle als
eine selbständige Lebensquelle unmittelbar in ihn gesetzt wird. Das
entspricht dem Grundgedanken des Christentums von dem vollen Eingehen
Gottes in die Welt und dem Göttlichwerden des Menschen. Es ergeben sich
daraus notwendig zwei Forderungen, die einander leicht widersprechen
können: das neue Leben muß in jeder Seele schlechterdings ursprünglich
sein und zum Kern ihres eigenen Wesens werden, zugleich aber muß es das
Ganze einer Welt in sich tragen, es muß daher, um sich zu entfalten,
auch im menschlichen Bereich ein großes Lebensreich bilden, es darf
nicht eine Sache des bloßen Individuums bleiben. Wir dürfen nicht
alles nur auf uns beziehen und meinen, wovor Eckhart warnt, Gott habe
»die ganze Welt vergessen bis auf mich allein«. Wir wissen, wie diese
Zweiheit sich geschichtlich im Gegensatz von Kirche und Persönlichkeit
ausdrückt, dort die Gefahr einer Bindung des Einzelnen und eines
Zurücktretens der Gesinnung vor den Leistungen, den »religiösen
Pflichten« -- ein höchst unsympathisches Wort --, hier die einer
Zersplitterung in lauter individuelle Kreise, zugleich die Gefahr eines
Überwucherns subjektiver Zuständlichkeit, eines Mangels an geistiger
Substanz. Jener Gedanke der Untrennbarkeit beider Seiten gestattet
ein Streben nach einer Überwindung des Gegensatzes, er verhindert,
die Spaltung in Katholizismus und Protestantismus als endgültig
hinzunehmen, da jede Seite eine unentbehrliche Wahrheit vertritt, die
sich ohne schweren Schaden nicht verdunkeln läßt.
Zu solcher Verwicklung der Gestaltung gesellt sich die Schwierigkeit
einer Umsetzung der Grundtatsachen in eine Gedankenwelt. Da
jene Tatsachen über dem Bereiche der Arbeit liegen, der unsere
Begriffsbildung beherrscht, so können sie in Begriffen nur annähernd
dargestellt werden, so müssen oft Bilder genügen, um das Erlebnis
faßbar zu machen. So namentlich beim Gottesbegriffe selbst. Es
erscheint hier viel Schwanken zwischen verschiedenen Fassungen,
zwischen ontologischen Größen, wie absolute Einheit, absolutes Sein,
die mehr eine philosophische als eine religiöse Bedeutung haben, und
Größen, welche den Begriff dem menschlichen Empfinden näherrücken,
wie namentlich dem der Persönlichkeit, die damit mehr Wärme gewinnen
lassen, aber zugleich der Gefahr eines Verfallens ins Bloßmenschliche
ausgesetzt sind. Tatsächlich pflegen zwei verschiedene Gottesbegriffe
ohne eine genügende Auseinandersetzung ineinander zu verfließen.
Diese Spaltung von Weite und Ferne einerseits, von Nähe und Enge
andererseits, die das religiöse Leben nach entgegengesetzter Richtung
treibt, ist nur zu überwinden, wenn als Grundbegriff nicht das absolute
Sein, sondern das absolute Leben gilt, zugleich aber die Gegenwart
dieses Lebens beim Menschen anerkannt und er damit über die bloße
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  • Der Sinn und Wert des Lebens - 11
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