Der Sinn und Wert des Lebens - 01

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Der Sinn und Wert
des Lebens
Von Rudolf Eucken
Fünfte,
völlig umgearbeitete Auflage
Achtzehntes bis zwanzigstes Tausend
Verlag von Quelle & Meyer in Leipzig 1917

Satzanordnung und Einbandzeichnung
von Professor Georg Belwe.
Pierersche Hofbuchdruckerei Stephan Geibel & Co., Altenburg, S.-A.

Die Wohnung des Lebens
sind viel weiter denn die
Wohnungen des Todes.
Luther.


Vorwort zur ersten Auflage.

Mit einer Behandlung der Frage nach dem Sinn und Wert des Lebens suche
ich die inneren Probleme der Gegenwart jedem einzelnen möglichst nahe
zu bringen und ihn zur Teilnahme daran zu gewinnen. Solche Fassung
der Aufgabe zog der philosophischen Erörterung bestimmte Grenzen:
daß es aber innerhalb dieser Grenzen genug zu klären gibt, das hofft
die Untersuchung selbst zu zeigen. Dem einen oder anderen Leser wird
vielleicht der erste kritische Teil zu weit ausgesponnen scheinen.
Aber es konnte die entscheidende Hauptthese, an der die Möglichkeit
einer Wiederbefestigung des Lebens und einer Verjüngung der Kultur
hängt, ihre volle Überzeugungskraft nur erlangen, wenn sie als der
einzig mögliche Weg zum Ziele erwiesen war; dafür aber war jene Kritik
unentbehrlich, sie steht nicht neben, sondern in der Sache.
_Jena_, Dezember 1907.


Vorwort zur fünften Auflage.

Zwischen der vierten und der fünften Auflage liegt der Beginn und
der Verlauf des Weltkriegs; notwendig mußten seine Eindrücke und
Erfahrungen auch auf das Gesamtbild des menschlichen Lebens wirken,
und solche Wirkung mußte sich auch auf eine Untersuchung erstrecken,
welche sich mit dem Sinn und Wert des Lebens befaßt. So ist denn diese
neue Auflage aufs gründlichste umgestaltet, ja völlig erneuert worden,
ganze Abschnitte sind stark verkürzt, andere neu hinzugefügt worden,
das Ganze ward straffer zusammengefaßt und mehr in den Dienst eines
einzigen Hauptgedankens gestellt. So wenig ich meine Grundanschauungen
zu verändern brauchte -- die Erfahrungen des Krieges haben sie nur
bestätigt --, ihre Darstellung mußte kräftiger werden, die Gegensätze
waren schärfer zu scheiden, die Forderungen deutlicher herauszuheben.
So hoffe ich, daß das Buch an innerem Leben gewonnen hat, und daß
zugleich sein Verhältnis zur Gegenwart in Ja und Nein enger geworden
ist. Mein Hauptwunsch geht dahin, in unserer wirren Zeit möchte es
suchenden und kämpfenden Seelen irgendwelche Förderung bringen.
_Jena_, im Juli 1917. ~Rudolf Eucken.~


Inhaltsübersicht.
Seite
_Einleitung_ 1
~Die Antworten der Zeit.~
Die älteren Lebensordnungen.
Die religiöse Lebensordnung 4
Die Lebensordnung des weltlichen Idealismus 10
Die neueren Lebensordnungen.
Die gemeinsame Grundlage 17
Die Lebensordnung des Naturalismus 19
Die Wendung des Menschen zu sich selbst.
Die Sozial- und die Individualkultur 28
Erwägungen und Vorbereitungen 40
~Versuch eines Aufbaues.~
Die Eröffnung eines neuen Lebens.
Der Aufstieg zur Hauptthese 50
Die Entwicklung der Hauptthese 60
Hauptzüge des neuen Lebens 73
Geistiges Leben und menschliche Lage 86
~Auseinandersetzung mit der Welt und der Lage des Menschen.~
Die Übermacht der Natur 96
Die Unsicherheit des menschlichen Geisteslebens 105
Die moralische Verwicklung des Menschenlebens 113
Auseinandersetzung mit dem Zweifel 134
~Folgerungen aus der Gesamtbilde des Lebens.~
Folgerungen für das Leben des Einzelnen 144
Folgerungen für die Aufgaben der Gegenwart 156
Folgerungen für die Ausbildung eines deutschen Lebensstiles 161
_Sachregister_ 170
_Namenregister_ 172


Einleitung.

Die Frage nach einem Sinn und Wert des Lebens macht ruhigen
Zeiten wenig Sorge, da dann die Umwelt dem Einzelnen einen festen
Lebenszusammenhang zuführt, ihm darin einen sicheren Halt und eine
Antwort auf etwaige Zweifel gibt; sie wird erst dringend, wenn über
den Grundstock des Lebens eine Unsicherheit entsteht, wenn sich in
ihm Spaltungen bilden und das Handeln nach verschiedenen Richtungen
ziehen. Dann müssen wir wohl oder übel unsere Zuflucht zum eigenen
Denken nehmen, dann müssen wir suchen, mit seiner Hilfe wieder eine
Hauptrichtung des Lebens zu gewinnen und in der Arbeit dafür eine
Wehr und Waffe gegen all das Dunkle und Feindliche, das unaufhörlich
auf uns eindringt. So erweist das Fragen und Mühen um einen Sinn und
Wert des Lebens immer einen geistigen Notstand, einen solchen erweist
es auch heute. Dieser Notstand ist keineswegs eine bloße Folge des
Krieges, er reicht weit hinter ihn zurück und ist aus dem Ganzen des
modernen Lebens mit Notwendigkeit hervorgegangen. Dieses Ganze hat
sich in verschiedenartige Ströme gespalten, die auseinandergehende
Richtungen verfolgen und abweichende Wertschätzungen enthalten.
Namentlich stehen hier gegeneinander eine unsichtbare und die sichtbare
Welt. Der früheren Zeit galt jene als der Kern der Wirklichkeit und
als der Hauptstandort echten Lebens, während die Neuzeit mehr und mehr
die sichtbare Welt auch zur geistigen Heimat des Menschen macht und
alle seine Ziele von ihr erhofft. Innerhalb der Hauptrichtungen aber
erschienen weitere Unterschiede und trieben das Leben auseinander,
das freudige Ja der einen wurde den anderen zum herben Nein, eine
peinliche Unsicherheit griff um sich und mußte zur Schwächung
alles Strebens wirken, das die Notwendigkeit des Lebens und die
selbstischen Zwecke überschreitet. So mußte die Menschheit bei aller
Fülle äußerer Berührungen sich innerlich mehr und mehr zerwerfen und
ein gegenseitiges Verständnis verlieren. Ernsteren Seelen waren diese
Gefahren schon vor dem Kriege deutlich geworden, und an Bemühungen, sie
zu überwinden, hatte es nicht gefehlt. Aber die Breite der Zeit fühlte
sich viel zu sehr in reichem Kulturbesitz und wurde durch die Befassung
mit ihm viel zu sehr festgehalten, um diesen Fragen viel Aufmerksamkeit
zu schenken; so blieb das Mühen um sie im Hintergrunde und erlangte
nicht die nötige Kraft. Der Krieg hat die Lage weiter verschärft, er
stempelt die willenlose Ergebung in die Widersprüche des Daseins zu
flacher und niedriger Art. Er zeigt uns handgreiflich die völlige
Abhängigkeit unseres Lebens und Strebens von dunklen Geschicken, er
zeigt die Menschheit bei sich selbst gespalten und bis zu wildem Haß
verfeindet, er zeigt im Völkerleben eine häßliche Mischung moralischer
Unlauterkeit und intellektueller Schwäche, er zeigt freilich auch viel
Kraft in den Völkern und viel Aufopferungsfähigkeit für gemeinsame
Zwecke, aber im Gesamteindruck stellt er die Lage der Menschheit
als höchst verworren und ihr Streben als eines deutlichen Zieles
entbehrend dar, er erschüttert aufs stärkste den Glauben an das
Walten einer Vernunft bei ihr. Einer so verworrenen Lage gegenüber
versagt alles bloße Grübeln und Deuten, Scharfsinn und menschlicher
Witz werden uns nicht von ihr befreien; die einzige Hoffnung einer
Rettung besteht darin, daß durch alles menschliche Meinen und Suchen
hindurch eine tiefer gegründete Tatsächlichkeit im Leben waltet, auch
uns sich eröffnet und unser Handeln zu sicheren Zielen leitet. Dieser
Tatsächlichkeit den Weg zu bahnen, zunächst der Richtung inne zu
werden, in der sie zu suchen ist, das muß einer Selbstbesinnung zur
Aufgabe werden. Sie kann das aber nicht tun ohne vorherige Orientierung
über den heutigen Lebensstand mit all seinem Durcheinander. Denn was
an vermiedenen Strömen wirkt und sich gegenseitig zu hemmen droht,
das sind keineswegs bloße Lehren, die sich behaupten und zurücknehmen
lassen, sondern das enthält tatsächliche Leistungen, Bewegungen des
Lebens selbst, Konzentrationen, welche ihrem ganzen Bereich eine
eigentümliche Beschaffenheit verleihen; wir kämpfen daher nicht um
bloße Deutungen eines gegebenen Lebensstandes, sondern wir kämpfen
um den Lebensstand selbst, wir kämpfen nicht um Bilder, sondern um
Wirklichkeiten. Die Verwicklung aber stellt sich nun dahin, daß jede
einzelne dieser Lebensentfaltungen Berechtigtes und Wertvolles enthält,
das, einmal belebt, sich nicht wieder aufgeben läßt, daß sie aber,
anscheinend untrennbar, mit diesem anderes verquickt, was wir unmöglich
festhalten können, wovon wir uns befreien müssen. Daß so Notwendiges
und Unmögliches bei uns zusammentrifft und vielfach ineinander
verfließt, das versetzt uns in ein peinliches Schwanken zwischen dem
Ja und dem Nein; wir sehen nicht, wo das eine sich gegen das andere
abgrenzt, wir werden nach dem Wechsel der Stimmung bald hierher,
bald dorthin gezogen. Um so mehr bedürfen wir einer überlegenen
Tatsächlichkeit, die uns Wahres und Falsches scheiden, das Wahre aber
miteinander verbinden und mutig in den Kampf führen lehrt. Ohne den
Glauben an das Bestehen und das Wirken einer solchen Tatsächlichkeit
wäre alles Streben nach Rettung vergeblich, auch unsere Untersuchung
ruht auf einem solchen Glauben, sie wird getragen von der Überzeugung,
daß in der Tiefe des Lebens Notwendigkeiten walten, die nicht an
menschlicher Meinung hängen. Im Vertrauen auf solche Notwendigkeiten
beginnen wir unser Werk.


Die Antworten der Zeit.


Die älteren Lebensordnungen.

Die religiöse Lebensordnung.
Von den verschiedenen Lebensordnungen, die den Menschen der Gegenwart
umwerben, wirkt am stärksten auf das Ganze noch immer die der Religion.
Ein Erbe uralter Zeiten hat die Religion durch besondere Erfahrungen
des ausgehenden Altertums eine herrschende Stellung erlangt; jene
Zeiten ließen den Menschen sowohl die Nichtigkeit des gewöhnlichen
Lebens als das eigene Unvermögen mit peinlicher Schärfe empfinden und
erfüllten ihn zugleich mit einer tiefen Sehnsucht nach einem neuen
Leben, ja einer neuen Welt. Ein solches Leben hat in unserem westlichen
Kulturkreise das Christentum ausgebildet, es hat, nachdem das
leidenschaftliche Verlangen nach Rettung der Seele sich später geklärt
und gemildert hatte, ein religiöses Lebenssystem geschaffen und ihm
alle Kulturarbeit angefügt; dies Lebenssystem hat durch die Kette der
Jahrhunderte hindurch seine Macht bis zur Gegenwart behauptet und hält
auch heute den Anspruch auf Beherrschung der Seelen noch aufrecht.
Diese religiöse Lebensordnung setzt mit einer heroischen Kraft
die Welt, die uns umgibt, zu einer niederen herab und macht eine
unsichtbare Welt des Glaubens und des Gemütes zur geistigen Heimat
des Menschen; zugleich vollzieht sie eine energische Konzentration,
indem sie zum alleinigen Ziel des Lebens und Strebens die Einigung
mit dem Geist vollkommener Macht, Weisheit und Güte erhebt. Mit ihrer
Einführung absoluter Maße wird sie der Quell aller Erhabenheit, die
das menschliche Leben kennt, zugleich aber läßt sie, und sie allein,
das Leben eine reine Innerlichkeit, ein volles Beisichselbstsein,
gewinnen, indem es hier an erster Stelle ein Verhältnis von endlichem
und unendlichem Geiste wird. Aus solcher Innerlichkeit vermag es den
Menschen unvergleichlich mehr sich selbst zu erschließen, und lehrt es
zugleich die Menschen sich gegenseitig besser verstehen und inniger
miteinander fühlen. Das hier entwickelte Leben hat bei seinem Wurzeln
in göttlicher Liebe eine große Weichheit und Zartheit, aber der Liebe
verbindet sich eng die Heiligkeit einer sittlichen Ordnung und gibt dem
Leben bei aller Innigkeit einen unermeßlichen Ernst.
In diesem Zusammenhange durfte der Mensch von sich und seinem Tun
aufs Höchste denken. Als Ebenbild Gottes bedeutete er den Mittelpunkt
der Wirklichkeit, um den sich das All bewegte, und dessen Tun über
seine Geschicke entschied. Wohl hatte der Einzelne sich dem Ganzen des
Gottesreiches gliedmäßig einzufügen, aber zugleich bildete er einen
eigenen Kreis und wurde als ein Selbstzweck behandelt; zur Vollendung
des Ganzen, das kein Glied missen durfte, gehörte auch seine Rettung.
Diesem Leben fehlte es nicht an Sorgen, Nöten und Schmerzen, die Höhe
der Forderung und der weite Abstand des Menschen verhinderten alles
bequeme Behagen und alles spielende Glück, ja das Gewicht von Leid und
Schuld schien mehr zu wachsen als abzunehmen. Aber die Grunderfahrung
der Religion, die Befreiung von drückender Schuld und die Schöpfung
eines neuen Lebens durch göttliche Liebe und Gnade, hob den Menschen
über den ganzen Bereich von Kampf und Not hinaus; die Einigung mit
Gott ließ ihn ein vollkommenes Leben und hohe Seligkeit teilen, in
die freilich für den Menschen immerfort der überwundene Schmerz
hineinklingt. Wohl verblieb der Widerstand einer gleichgültigen, ja
feindseligen Welt, aber in Zweifel versetzen und das Streben lähmen
konnte er nicht. So war es kein leichtes Leben, das hier entstand, aber
es war ein Leben voller Bewegung und in sicheren Zusammenhängen, es war
kein leeres, kein sinnloses Leben.
So hat die religiöse Lebensordnung lange Jahrhunderte beherrscht, sie
hat Individuen und ganze Völker verbunden, sie hat unzähligen Seelen
sowohl eine kräftige Aufrüttelung als seligen Frieden gebracht. Ihr
eigentümlich sind besonders die schroffen Kontraste, worin sie das
menschliche Leben versetzt: die Gottheit zugleich in weltüberlegener
Hoheit und in nächster seelischer Nähe (»Gott ist mir näher als ich mir
selber bin«, Meister Eckhart), der Mensch verschwindend klein und doch
zur Gemeinschaft mit dem Höchsten berufen, Liebe und Ehrfurcht, Milde
und Ernst eng miteinander verflochten, tiefes Dunkel und strahlendes
Licht, Elend und Seligkeit sich gegenseitig steigernd, ein Aufstieg
zum Ja durch ein Nein hindurch, eine volle Anerkennung, aber zugleich
auch Heiligung des Leides, in dem allen eine starke Bewegung, die
allererst der Seele des Einzelnen wie dem Leben der Menschheit eine
wahrhaftige Geschichte eröffnet und diese zum Kern aller Wirklichkeit
macht, ein unablässiges Hinausstreben über alle Gegenwart bloßer Zeit,
aber zugleich ein sicheres Ruhen in einer gegenwärtigen Ewigkeit. Eine
so heroische Größe und zugleich eine solche Innigkeit hat das Leben an
keiner anderen Stelle erreicht.
Trotzdem haben sich gegen dieses Leben starke Zweifel erhoben, Zweifel
nicht bloß aus eitler Widerspruchslust flacher Seelen, sondern auch
aus dem heiligen Ernst eines Ringens um lautere Wahrheit. Bedenken
entstanden zunächst aus der eingreifenden Veränderung, welche seit
Beginn der Neuzeit das Bild der Natur und bald auch das der Geschichte
empfing, es ergab das wachsenden Widerspruch nicht nur an einzelnen
Stellen, wie bei der Frage der Wunder, sondern die ganze Welt der
Religion konnte von hier aus als zu eng und mit viel menschlicher Zutat
behaftet erscheinen. Dieser Widerspruch der Weltbetrachtung läßt sich
überschätzen, er läßt sich aber auch unterschätzen. Sicherlich ist
Religion etwas anderes als bloße Weltanschauung, aber einen Widerspruch
mit gesicherten Zügen des Weltbildes kann auch die Religion nicht ohne
schweren Schaden ertragen; ihre Wahrhaftigkeit leidet darunter, wenn
sie einer Auseinandersetzung mit ihm aus dem Wege geht. Tiefer freilich
geht die schärfere Scheidung der geistigen Arbeit vom menschlichen
Seelenstande, wie das moderne Denken sie vollzogen hat. Der Mensch
konnte danach als ein Sonderwesen erscheinen, das ganz unfähig ist,
die Welt in seine Begriffe zu fassen und ihre Tiefen zu ergründen;
die Religion erschien von da aus leicht als ein bloßes Hineintragen
menschlicher Bilder und Wünsche in das All, sie konnte diesem
Gedankengange schließlich als ein bloßes Wahnbild erscheinen. Aber
gegen das alles hätte sich kämpfen und die Grundwahrheit der Religion
auch gegen den schroffsten Widerspruch durchsetzen lassen, wäre das
Ganze des Lebens in der Verfassung geblieben, aus der die Wendung
zur Religion hervorging. Hier aber war ein Umschlag erfolgt, der den
Gesamtstand völlig verschob. Jene Wendung war in einem Bruch mit der
nächsten Welt entstanden, zu einer Zeit, wo die Menschheit den Glauben
an sich selbst und ihr Vermögen verloren hatte, wo sie im besonderen
einen schweren moralischen Zwiespalt empfand, und wo nur das Ergreifen
einer neuen Welt ihre geistige Vernichtung schien verhüten zu können.
Nun aber hatten neue Völker in langen Jahrhunderten der Erziehung neue
Kraft gesammelt, und diese Kraft strebte mit dem Beginn der Neuzeit
nach voller Betätigung, die nächste Welt wurde ihr zum willkommenen
Vorwurf, und das Wirken in ihr drängte die moralischen Probleme,
drängte im besonderen den moralischen Zwiespalt der Seele weit in den
Hintergrund. Wenn aber solche Wandlung des Lebensgefühls kein starkes
Verlangen nach einer Erlösung und völligen Umwandlung aufkommen ließ,
so verlor die Religion ihre seelische Nähe und ihre Überzeugungskraft;
die Gefahr entstand, daß sie mehr als ein Erbstück der Vergangenheit
fortgeführt wurde, als aus eigener Erfahrung hervorging, ja daß sie
als eine bloß gesellschaftliche Einrichtung erschien und als solche
aus Gründen der Wahrhaftigkeit hart angefochten wurde. Eine derartige
Bewegung hat sich von der Höhe der Gesellschaft, wo sie entstand,
immer mehr in die breiten Massen gesenkt; wie weit sie auch bei uns
Deutschen um sich gegriffen hat, das würde noch deutlicher zutage
treten, wenn nicht die sehr problematische Hilfe, welche bei uns der
Staat der Religion noch immer zukommen läßt, den wirklichen Stand der
Dinge schonend verdeckte. Auch dürfen wir nicht erwarten, daß der
gegenwärtige Weltkrieg diese Lage wesentlich ändert. Gewiß bringt er
mit seinen ungeheuren Gefahren und schweren Verlusten einen großen
Ernst in die Stimmung und lenkt zwingend die Gedanken auf die Fragen
des Geschicks und der Bestimmung des Menschen, auf die Fragen von
Zeit und Ewigkeit. Aber einer einfachen Beantwortung dieser Fragen
im Sinne der überkommenen Religion widerspricht der unabweisbare
Eindruck des Wirkens eines dunklen Schicksals, das unbekümmert um
menschliches Wohl und Wehe nur die blinde Notwendigkeit walten läßt,
den einen opfert, den anderen rettet, wie es sich eben trifft. Auch das
gewaltigste äußere Ereignis kann ohne ein inneres Entgegenkommen keine
seelische Wandlung erzeugen; so dürfte auch dieser Krieg auf die Seelen
verschieden wirken, je nachdem was sie an ihn bringen: er wird die
Gläubigen gläubiger und die Ungläubigen ungläubiger machen; er wird die
Religion wieder mehr als eine unabweisbare Frage empfinden lassen, aber
eine Frage ist keine Antwort.
So kann es scheinen, als sei die Zeit der religiösen Lebensordnung
abgelaufen, und als müsse die Religion als ein irreleitender Wahn aus
dem menschlichen Leben verschwinden. Aber so einfach, wie ihre Gegner
sich die Sache denken, ist diese nicht. Denn die Religion hat weit
über alle Lehren und Einrichtungen hinaus in den Grundbestand des
menschlichen Lebens eingegriffen und ihm Weiterbildungen gebracht,
deren Preisgebung es einer kläglichen Verarmung ausliefern würde. Von
ihr kam eine Befreiung von dem schweren Druck des Daseins, das uns
sonst unbarmherzig umklammert; sie eröffnete mit ihrer Erhebung über
dieses und ihrer Erschließung einer neuen Welt die einzige Möglichkeit,
alles Unzulängliche und Verfehlte des menschlichen Lebensstandes
vollauf anzuerkennen, ohne darüber die Festigkeit des Glaubens und den
Mut des Handelns einzubüßen; mit ihrer Umkehrung des Lebens wurde sie
ein Quell heroischer Größe und mit ihrer Vorhaltung absoluter Maße eine
gewaltige Kraft der Aufrüttelung und nimmer fertigen Bewegung; die
einzigartige Stellung, welche gemeinsame Schätzung der Menschheit der
moralischen Aufgabe zuerkennt, rechtfertigt sich vollauf nur in der
Welt der Religion; dazu ihre Entfaltung reiner Innerlichkeit -- auch
die eigentümlich deutsche Färbung des Ausdrucks Gemüt ist der Religion
zu verdanken --, sowie ihr Vermögen, den Menschen wie der Menschheit
der kaum erträglichen Vereinsamung in einem seelenlosen Weltall zu
entziehen, der sie sonst verfallen sind; -- wahrlich, wir können die
flachen Seelen nur bedauern, die ohne Schaden und Schmerz glauben das
alles aufgeben zu können; jedenfalls sind sie mit ihrer Flachheit nicht
die berufenen Vertreter der Menschheit, und bringt ihre leichtherzige
Verneinung die Sache nicht schon zum Abschluß. Aber zugleich bleibt
alles bestehen, was sich gegen die Religion an Bedenken und Zweifeln
erhob; so steht das Geistesleben der Gegenwart zwischen dem Ja und dem
Nein in haltloser Mitte, und es ist uns die Religion, mit ihr auch die
religiöse Lebensordnung, aus einem festen Besitz zu einem schweren
Problem geworden; auch das Ewige, was sie enthalten mag, hat sich der
Gegenwart neu zu bewähren, es ist zu einer offenen Frage geworden.

Die Lebensordnung des weltlichen Idealismus.
Die Verwicklungen der Religion zu vermeiden, ohne die Tiefe des Lebens
zu mindern, glaubt ein der Welt zugekehrter, sie umfassender und
durchdringender Idealismus, ein Idealismus, der mit seiner Entfaltung
einer Geisteskultur seit Jahrtausenden eine selbständige Art neben der
Religion entwickelt, bald sie freundlich ergänzend, bald ihr als Feind
begegnend. Die Lebensordnung des Mittelalters hatte diesen Idealismus
ihren eigenen Überzeugungen angegliedert, die Neuzeit gab ihm eine
wachsende Selbständigkeit, so daß er sich schließlich der Religion
überlegen fühlte und ihr die Beherrschung des Lebens bestreiten konnte.
Auch dieser Idealismus nimmt seinen Standort in einer unsichtbaren
Welt, aber ihm bedeutet diese nicht ein neben dem sinnlichen Dasein
befindliches, von ihr abgelöstes Reich, sondern seinen eigenen Grund,
seine belebende Seele; daß das All nicht in das Nebeneinander der
einzelnen Erscheinungen aufgeht, sondern eine dem äußeren Auge
verborgene Tiefe besitzt, daß es ein Ganzes bildet und ein inneres
Leben führt, das ist die Grundüberzeugung, mit der diese Lebensordnung
steht und fällt. Aus solcher Überzeugung verbindet dieser Idealismus
den Menschen eng mit dem All und läßt ihn sein Leben aus diesem
schöpfen, aber zugleich gewährt er ihm eine einzigartige Stellung und
ein ausgezeichnetes Werk. Denn alles Untermenschliche scheint das
Leben bewußtlos und aus dunklem Zwange zu führen, es verwandelt das
Vermögen des Ganzen nicht in den Besitz der einzelnen Stelle; dies aber
geschieht beim Menschen, der den Gedanken des Ganzen denkt und dieses
selbst damit weiterführt. Erst bei ihm erhebt sich die Welt zu voller
Klarheit und Freiheit und erlangt damit ihre Vollendung; der Mensch
darf groß von sich denken, indem sein Wirken so viel für das Ganze
bedeutet.
Diese Lebensordnung bewegt sich vornehmlich um den Gegensatz von
Innerem und Äußerem, von unsichtbarer und sichtbarer Welt. Das Innere
hat als der Hauptträger des Lebens das Äußere zu ergreifen und zu
beseelen, es tut das namentlich in Kunst und Wissenschaft, aber auch
durch Entwicklung einer in der menschlichen Natur angelegten Moral; das
Äußere aber ist unentbehrlich, um das Innere von mattem Umriß zu voller
Durchbildung zu bringen. So entsteht ein geistiges Schaffen, das,
getragen von einer Weltvernunft, gegenüber der gebundenen Natur, auch
gegenüber der äußeren Ordnung des Menschenlebens, wie die Zivilisation
sie vertritt, ein höheres Leben schafft, eine Geisteskultur, deren
Wahres, Schönes, Gutes den Menschen den reichsten Gehalt gewinnen und
den ganzen Umkreis des Daseins veredeln läßt. Dieses Leben bedarf
keines außer ihm gelegenen Lohnes und ist nicht auf einen Nutzen
gerichtet, es findet vollste Befriedigung in seiner eigenen Entfaltung
und freudigen Selbstanschauung; bei unablässigem Wirken ruht es
sicher im eigenen Wesen und bewahrt bei allem Streben ins Weite einen
beherrschenden Mittelpunkt.
Dies Leben ist verschiedener Färbungen fähig, je nachdem Wissenschaft,
Kunst oder Moral den leitenden Grundton geben, und an Kämpfen im
eigenen Bereich hat es ihm nicht gefehlt. Aber alle Mannigfaltigkeit
beläßt ihm der Religion gegenüber eine eigentümliche Art. Die Religion
ist mehr auf die Schärfung, die Weltkultur mehr auf die Ausgleichung
der Gegensätze bedacht; jene richtet das Leben auf einen Punkt, diese
gibt ihm mehr Weite; jene sieht mehr Schwäche und Kleinheit, diese
mehr Kraft und Größe am Menschen; ist sie es doch, die vor allem
das Menschsein zu einem hohen Wertbegriff erhoben und Achtung vor
allem geweckt hat, was menschliches Angesicht trägt; jene findet den
Weg zur Lebensbejahung erst durch schwere Erschütterung und herbe
Verneinung hindurch, diese glaubt sie durch vollste Anspannung eigener
Kraft unmittelbar vollziehen zu können; jener gilt das Böse mehr als
eine Verderbtheit, dieser dagegen als eine Schwäche und Mattheit
des Wollens. Vielleicht mag ein Leben weiterer Art den Gegensatz
umspannen und zu einer Ausgleichung führen, zunächst ist ein weites
Auseinandergehen nicht zu verkennen.
Dieser weltliche Idealismus gewann eine besondere Höhe im
altgriechischen Leben; im Mittelalter ein bloßer Nebenstrom, brach er
in der Neuzeit mit frischer Kraft hervor, aus ihm entsprang bei uns
Deutschen die Epoche geistigen Schaffens, welche wir unsere klassische
nennen, und die uns den Ruf eines Volkes der Dichter und Denker
eintrug.
Von den reichen Schätzen, welche die Gesamtbewegung des weltlichen
Idealismus mit ihrer Geisteskultur erzeugte, zehren wir heute alle, und
können uns gar nicht denken, wie sie zu entbehren wären. Aber mit dem
Anspruch, das Leben zu führen, ist es dem weltlichen Idealismus nicht
anders ergangen als der Religion: die Grundlage wurde erschüttert, das
Grunderlebnis verdunkelt; so erhielten feindliche Mächte die Oberhand
und vertrieben diese Gestaltung aus dem Mittelpunkte des Lebens. Daß
die Welt eine Tiefe habe, und daß diese dem Menschen zugänglich sei,
das ist jetzt dem vorwiegenden Zuge des Lebens nicht minder zweifelhaft
geworden als die Grundwahrheiten der Religion. Der weltliche Idealismus
hatte stets Mühe, seine Behauptung in vollem Sinne zu erhärten. Eine
sichere Überzeugungskraft gaben ihm nur besondere Höhepunkte geistigen
Schaffens, seltene Sonn- und Festtage der Menschheit, wo eine Gunst
des Schicksals mit hohen Aufgaben der weltgeschichtlichen Lage
selbstwüchsige Persönlichkeiten großen Stils zusammenführte; dann wurde
allerdings eine unsichtbare Tiefe der Welt zu allergewissester Nähe und
zum sicheren Standort des Handelns. Aber solche schaffenden Zeiten sind
Ausnahmezeiten, und der Alltag übt sein Recht, jenes hohe Leben sinkt
und zugleich sein Vermögen, den ganzen Menschen an sich zu ziehen und
einzunehmen; aus der eigenen Betätigung wird dann ein bloßes Aneignen
und Genießen überkommener Schätze, es verflacht damit das geistige
Schaffen unvermeidlich zu einer bloßen Bildung, einer geschmackvollen
Formung des Lebens; gewiß hat auch eine solche ihren Wert, aber sie
bewegt nicht die letzten Tiefen des Lebens, und sie ist dem Dunklen,
ja Dämonischen in der Menschennatur bei weitem nicht gewachsen; sie
befreit nicht genügend von innerer Leere, und sie erleidet leicht
dadurch Schaden an ihrer Wahrhaftigkeit, daß sie oft weniger aus einer
Notwendigkeit eigenen Verlangens als der sozialen Umgebung halber
gesucht wird. Alles in allem erscheint die Bildung mehr als ein Leben
aus zweiter Hand, ein solches aber kann schwer den Angriffen Widerstand
leisten, welche der Grundbehauptung erwachsen.
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