Der Sinn und Wert des Lebens - 10

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stammen vornehmlich daher, daß der Mensch kraft seiner geistigen Anlage
der bloßen Natur entwächst und bei ihr kein Genüge mehr findet, daß
der Durchschnitt seines Daseins aber geistiges Leben nicht genügend
entfaltet, um ihm Selbständigkeit zu erringen; so schwebt der Mensch
in unsicherer Mitte, und da die Versuche einer Hilfe sich bald als
unzulänglich erweisen, so läuft das Ganze schließlich in trübe
Entsagung aus; das Leben erscheint nach dem Ausdruck Schopenhauers als
ein Geschäft, das seine Kosten nicht deckt.
Der Verlauf des Lebens durch die verschiedenen Alter hindurch stellt
sich zunächst als ein Aufstieg, bald jedoch als ein Abstieg dar, damit
aber als ein überwiegender Verlust, als eine herbe Enttäuschung.
Beim Eintritt in das Leben wird das Individuum vom engen Kreise der
Seinigen freudig begrüßt und zärtlich gepflegt, auch den Weg des
Heranwachsenden behüten Liebe und Güte, und was an kleinen Sorgen
und Schmerzen erscheint, das stört nicht die Lebensfrische und
Lebenslust. Da die Abhängigkeit noch nicht drückend wirkt, so hat
das Kindesalter einen Stand harmlosen Glückes, nach dem das spätere
Leben oft wie nach einem verlorenen Paradiese zurückschaut. Dann aber
erwacht ein Verlangen nach voller Selbständigkeit, das Leben drängt
ins Freie und Weite, der Mensch sucht eigene Wege und schließt in
Freundschaft und Liebe selbstgewählte Bünde; neue Triebe erwachen und
neue Wünsche steigen auf, schwellende sinnliche Kraft führt auch dem
geistigen Leben fruchtbare Antriebe zu. Ins Endlose geht hier das
Sehnen und Hoffen, unbegrenzte Möglichkeiten stellen sich zur Wahl
vor den strebenden Geist, das ursprüngliche Aufquellen frischer Kraft
erzeugt das Gefühl, daß jetzt erst die Welt ihren Lauf beginne, jetzt
erst die Sonne voll leuchte, jetzt erst Lust und Liebe ihren Zauber
entfalten. Die Vergangenheit dünkt dabei leicht eine bloße Vorstufe
dessen, was jetzt an den Punkt der Entscheidung gelangt, eben jetzt
wird die Zukunft geschmiedet, eben jetzt aller Folgezeit der Weg
gewiesen. So groß kann die Jugend nicht von sich denken, ohne auch
manche Sorgen und Schmerzen auf sich zu nehmen, die hochfliegenden
Pläne selbst lassen den Widerstand der Erfahrung mit besonderer Stärke
empfinden. Aber ein freudiges Kraftgefühl schöpft daraus mehr Antrieb
als Hemmung; auch waltet ein fester Glaube an die Macht der Einsicht
und der Gerechtigkeit in menschlichen Dingen, ein Glaube auch an eine
Überlegenheit freier Entscheidung über alle starre Gewöhnung.
Aus der Zeit der Entwürfe und Pläne tritt der Mensch mit beginnendem
Mannesalter in die Zeit der Arbeit ein, nun gilt es selbst Hand
anzulegen, nun das Vermögen in Tat umzusetzen; ein Beruf wird
ergriffen, ein eigenes Heim begründet. Das bringt dem Leben eine
gewisse Verengung und lenkt es in eine ruhige Bahn. Aber wenn der Sturm
und Drang der Jugend verfliegt, so verflicht sich dafür das Leben
enger mit seiner Umgebung und gewinnt es einen festeren Boden; klarer
stehen die Ziele vor Augen, und das Wirken gewinnt an Sicherheit.
Aus emsiger Arbeit quillt Liebe und Freude hervor, die Hingebung
und Opfer zu erzeugen vermag und zur ethischen Erhöhung wirkt. Aber
diese Wendung bringt das Leben bald an einen kritischen Punkt, den
am meisten kritischen Punkt unseres Daseins. Die Arbeit zwingt, das
Streben auf die Leistung zu richten, sie lenkt damit den Menschen vom
eigenen Innern ab, sie verlegt den Schwerpunkt des Lebens mehr und
mehr in das Verhältnis zur gesellschaftlichen Umgebung und unterwirft
den Einzelnen ihren Forderungen. Das ergibt so lange keine schwere
Verwicklung, als das Feuer der Jugend noch anhält und das Werk des
Tages erwärmt; aber allmählich erlischt jenes Feuer, es erschlafft
mehr und mehr die Jugendkraft der Natur, und es fragt sich nun,
ob, was damit verloren geht, irgendwelchen Ersatz erhalte. Damit
aber wird das Leben vor eine folgenschwere Entscheidung gestellt.
Nur geistige Kraft vermöchte die sinkende Natur zu ersetzen, sie
könnte das aber nur, wenn die geistige Anregung, die dem Individuum
zugeführt wurde, in ihm tief genug Wurzel geschlagen hätte, um eine
Selbständigkeit zu erreichen und den Hemmungen gewachsen zu werden.
Dies aber geschieht, wie der Augenschein zeigt, in den meisten Fällen
nicht, das geistige Leben wird weniger durch eigene Kraft als durch
das verwickelte Triebwerk des gesellschaftlichen Lebens aufrecht
gehalten; das aber besagt gerade nach unserer Darlegung deshalb einen
schroffen Widerspruch, weil geistiges Leben ein Selbständigwerden
der Innerlichkeit bedeutet; eine Beugung unter eine fremde Ordnung
muß es verflachen und entstellen, ja setzt es schließlich zu bloßem
Aufputz und Schein herab. Das muß auch das Individuum am eigenen Leibe
erfahren: es kann nicht vornehmlich nach draußen blicken und die
Wirkung auf die Umgebung berechnen, ohne daß die Kraft des Lebens sinkt
und seine Gefühle ermatten; ursprüngliches Schaffen weicht träger
Gewöhnung, und eine geistlose Mechanisierung gewinnt immer weiteren
Raum. Die Arbeit sinkt zur Routine, und was feurige Liebe schuf, das
muß die Gewohnheit des Alltags und kühle Erwägung der Zweckmäßigkeit
mühsam aufrecht erhalten. Zugleich weicht das stürmische Hochgefühl
der Jugend einem nüchternen Realismus, der Trägheitswiderstand der
Verhältnisse, der die Jugend so wenig bekümmerte, wird nun überschätzt
und lähmt allen kühnen Aufschwung; dasselbe gilt von der Macht des
Kleinen und Gemeinen, sowie des Zufalls, der oft mühsame Arbeit und
wohlerwogene Pläne in spielender Laune zerstört. Ist es dem Individuum
zu verdenken, wenn solche Eindrücke und Erfahrungen es auf eine
Beherrschung der Dinge verzichten und möglichst eine Anpassung an seine
Umgebung suchen lassen? Auch unterstützt das gesellschaftliche Leben
eine derartige Wendung, indem es sich eifrig bemüht, den Menschen die
drohende innere Leere nicht voll empfinden zu lassen. Die Gesellschaft
läßt es an Anerkennung der Leistung nicht fehlen, sie stachelt den
Ehrgeiz des Individuums an und schmeichelt mit mannigfachen Mitteln
seiner Eitelkeit; oft verkehrt sich das in wunderlicher Weise dahin,
daß das Nichts dem Nichts eine Bedeutung zuspricht und ihm damit
ein Selbstbewußtsein verleiht; auch ersinnt die Gesellschaft mit
großem Geschick Unterhaltungen und Zerstreuungen, Spiele, Sport
usw., Ersatzmittel echten Lebens, die durch unablässige Erregung der
einzelnen Augenblicke die Leere des Ganzen verdecken möchten. Aber das
Gefühl der Leere verscheuchen, heißt nicht die Leere vertreiben, in
aller künstlich erzeugten Erregung führen die Seelen kein wahrhaftiges
Leben, sind sie, innerlich angesehen, tote Seelen, geistig tot, bevor
der körperliche Tod sie dahinrafft. Und nun erwacht oft eine wehmütige
Sehnsucht nach der Kindheit, wo das Leben in so weitem Ausblick vor dem
Menschen lag, wo alle Möglichkeiten noch offen standen, und die Pulse
so viel kräftiger schlugen.
Schließlich versagen die Kräfte zur Arbeit, und gilt es ein Scheiden
von ihr, das Greisenalter beginnt. Dieser Abschied von der Arbeit,
die mehr und mehr zu einer lastenden Bürde wurde, mag zunächst wie
eine Erleichterung und Befreiung erscheinen, die Ruhe wird zum Genuß,
der harte Kampf erlischt, die Stimmung wird weicher, das Urteil des
unbeteiligten Zuschauers milder; zugleich wird er selbst, da er nun
ja aus der Wettbewerbung ausschied, freundlicher beurteilt oder
doch schonungsvoller behandelt. Das Greisenalter ist die Zeit der
Selbstbetrachtung, aber einer Betrachtung, die sich vom Schaffen
abgelöst hat; so hat diese Weisheit einen matten und unfruchtbaren
Charakter, sie erleichtert mehr das Scheiden vom Leben, als sie diesem
nachträglich einen Wert verleiht. Die Beleuchtung, welche sein Verlauf
beim Rückblick erhält, gibt eher dem Pessimismus als dem Optimismus
Recht. Die Natur versah jeden von uns mit einem Kapital für das
Leben, aber dieses Kapital war begrenzt, und wir haben es allmählich
aufgezehrt; was sollen wir nun noch beginnen? Wir hatten manche
Erfolge, aber sie ließen die Seele vergessen und verkümmern, und sie
selbst geraten in Unsicherheit, wenn der Sinn und Wert des gesamten
Lebens zweifelhaft wird, und wie sollte das hier nicht geschehen?
Wir strebten von Augenblick zu Augenblick und hofften stets mit dem
Erklimmen der nächsten Höhe den höchsten Gipfel gewonnen zu haben, aber
immer wieder erschienen neue Höhen und zwangen uns weiter zu wandern.
Das Leben kam nicht zu sich selbst und ging nicht in ein Ganzes
zusammen; so hatte es dem Strom der Zeit nichts entgegenzusetzen,
sondern trieb wehrlos mit ihm dahin. Im Hoffen und Harren auf ein
Glück, das irgendwoher kommen sollte, entrann uns die Gegenwart und
schließlich das ganze Leben, es war mehr ein Suchen und Haschen, ein
Verlangen nach Leben als wahres und wirkliches Leben.
Zugleich verschiebt sich durch den Verlauf des Lebens in schmerzlicher
Weise das Verhältnis des Einzelnen zur Zeit und zur menschlichen
Umgebung. Im Aufstreben fühlte er sich seiner Zeit aufs allerengste
verbunden, und ihre Förderung bildete den Hauptantrieb seines Strebens.
Am Schluß aber entweicht ihm die Zeit, die alten Probleme treten zurück
und machen neuen Platz; das macht ihn fremd in der Zeit und mit seinem
Hangen an der Vergangenheit selbst zu einer Vergangenheit. Nicht viel
anderes erfährt er mit den einzelnen Menschen. Als er aufstrebte, hatte
er viele Genossen, deren Teilnahme er sicher war, und die er zu führen
oder doch zu fördern hoffte. Diese Genossen und Freunde werden ihm
nach und nach entrissen, und Fremde besetzen ihren Platz. So findet er
sich immer weniger verstanden, und muß sich immer einsamer fühlen, ja
schließlich mag er sich wie ein bloßes Überbleibsel erscheinen, das
die Wogen des Geschickes bisher verschonten, nun aber bald dahinraffen
werden. Das alles führt zu der Stimmung, der Goethe den Ausdruck gab:
»Ein alter Mann ist stets ein König Lear.
Was Hand in Hand mitwirkte, stritt,
Ist längst vorbei gegangen,
Was mit und an dir liebte, litt,
Hat sich wo anders angehangen;
Die Jugend ist um ihretwillen hier,
Es wäre thörig zu verlangen:
Komm ältele du mit mir.«
Solchen Zweifeln und Enttäuschungen gegenüber ist es ein bloßer
Scheintrost, daß unsere Arbeit der Heranbildung eines neuen
Geschlechtes diene, unsere Mühe diesem fromme. Denn was wird damit
gewonnen, wenn das neue Geschlecht auch nur wieder ein neues
heranzieht, und dieses wieder ein anderes, wenn jedes die Frage einem
anderen zuschiebt, und damit das Leben nie über das Suchen hinaus zu
einem Beisichselbstsein gelangt? Schließlich erscheint das unermüdliche
Streben von Geschlecht zu Geschlecht als ein bloßes Mittel, die
Menschheit physisch zu erhalten; es mag dann eine grobe Irrung dünken,
daß wir uns als einen Selbstzweck behandeln und vom Leben einen Inhalt
begehren. Alle solche Größen stellen sich dann als bloße Lockmittel
heraus, die uns vorgespiegelt werden, um uns aus natürlicher Trägheit
aufzurütteln. Wir alle werden damit bloße Durchgangspunkte des Lebens,
Wogen, die sich rasch zusammenballen und ebenso rasch zerrinnen, Wogen,
die einander unaufhörlich verdrängen. Dieser Stand der Dinge mag so
lange verborgen bleiben, als der Blick nur an einzelnen Geschehnissen
haftet; sobald aber ein überschauendes Denken die Erfahrungen ins Ganze
faßt, wird die Sinnlosigkeit dessen offenbar, und das letzte Wort
behält die Verneinung.
So pflegt es zu sein, so braucht es aber nicht zu sein; daß es so ist,
das liegt am Menschen selbst, der sein Leben allein auf die Umgebung
richtet und es von ihr abhängig macht, statt ihm eine Selbständigkeit
zu erringen und die Bildung des Innern voranzustellen. Wir sahen, wie
hohe Ziele das menschliche Leben enthält, auch der Einzelne kann sie
ergreifen, sein Dasein in Tat verwandeln, eine Unendlichkeit in der
eigenen Seele entdecken, den Kampf gegen alles Schicksal getrosten
Mutes unternehmen. Er kann das von der Überzeugung aus, daß überlegene
Macht in ihm ein neues Leben und eine ursprüngliche Quelle erschließt;
zu dessen Aneignung und Entfaltung aber bedarf es seiner Gesinnung und
Tat. Das Leben erhält einen völlig anderen Anblick, wenn es nicht bloß
an uns vorgeht, sondern unser eigenes Werk werden kann, wenn es nicht
eine vorgeschriebene Linie nur fortsetzt, sondern die Forderung einer
großen Wendung in sich trägt, die Forderung eines Überlegenwerdens
nicht nur gegen die Natur, sondern auch gegen den flachen und
widerspruchsvollen gesellschaftlichen Durchschnitt, die Forderung, das
Ganze der Lebenswelt im eigenen Wesen zu ergreifen. Es stehen dabei
nicht bloß einzelne Leistungen in Frage, sondern ein einziges aller
Mannigfaltigkeit überlegenes Ziel, die Erhebung des Menschen zu einem
selbständigen Lebenszentrum, die Bildung eines geistigen Kernes, einer
geistigen Energie, die Geburt eines Geistesmenschen statt des bloßen
Daseinsmenschen. Denn »der Mensch muß zweimal geboren werden, einmal
natürlich und sodann geistig, wie der Brahmine« (Hegel). Brahminen in
diesem Sinne sind aber wir alle, mag der Daseinskreis des Einzelnen
noch so bescheiden sein. So darf es mit Goethe heißen: »Gott begegnet
sich immer selbst; Gott im Menschen sich selbst wieder im Menschen.
Daher keiner Ursache hat, sich gegen die Größten gering zu achten.«
Zum Gelingen der Wendung bedarf es einmal eines unablässigen
Hochhaltens der Gesinnung, es bedarf aber auch einer emsigen
Arbeit, welche dem Menschen einen eigenen Bereich erringt, ihm eine
eigentümliche Wirklichkeit schafft und ihn sich darin befestigen
läßt. Die Bewegung bleibe nicht ein bloßes Wogen und Wallen, sie
strebe auch zu irgendwelchem geschlossenen Werke, weniger wegen
der Leistung, die stets unvollkommen bleibt, als zur notwendigen
Aufrüttelung, Zusammenfassung und Lenkung der Kräfte; ohne das kann das
Leben nicht stark in sich selbst und zur vollen Wirklichkeit werden.
Gewiß wird es so gefaßt alles eher als ein sicheres Fortschreiten
oder gar ein behagliches Genießen. Mit seiner Forderung, Unendliches
im Endlichen, Zeitüberlegenes im Zeitlichen, Freischaffendes im
Gegebenen und Gebundenen, Liebe in der Welt der Selbstsucht und
des Streites zur Macht und Wirkung zu bringen, enthält es einen
durchgängigen Widerspruch; diesen Widerspruch kann das Alltagstreiben
verdunkeln und vergessen, den Höhen menschlichen Strebens aber war
er mit voller Klarheit gegenwärtig: die edelsten Menschen machten
sich die meisten moralischen Sorgen, »die Heiligen pflegen sich für
Sünder und die Sünder für Heilige zu halten« (Pascal), die größten
Künstler fühlten besonders schmerzlich den weiten Abstand zwischen
Wollen und Vollbringen, und tiefste Denker fühlten sich namentlich
getrieben, einer Überschätzung des menschlichen Erkenntnisvermögens
entgegenzuwirken und scharf seine Grenzen zu ziehen. Aber das
alles kann nicht erschrecken, wenn der Mensch der lebendigen
Gegenwart erhöhender Mächte gewiß ist und sein Werk nicht als eine
Privatangelegenheit, sondern als eine ihm zugewiesene, aber zugleich
vom Gesamtleben getragene Aufgabe führt, nicht aus eigener, sondern aus
verliehener Kraft. Dabei fällt auch das ins Gewicht, daß das Leben des
Menschen verschiedene Schichten enthält, und daß selbst das Mißlingen
bei einer von ihnen für das Ganze ein Gewinn werden kann. Wir haben uns
zunächst im Bereich der Natur und des gesellschaftlichen Zusammenseins
zu erhalten, über die dort waltende Notwendigkeit und Nützlichkeit
erhebt weltbauendes geistiges Wirken und Schaffen in ein Reich der
Geisteskultur, über diesem aber wölbt sich als letzter Abschluß ein
Reich weltüberlegener Innerlichkeit und weltüberwindender Liebe. In
diesem letzten kann auch das einen Wert erlangen, was äußerlich nicht
zur vollen Wirkung kam, ja es verschwinden hier alle Unterschiede der
Leistung. Denn hier wird zum entscheidenden Hauptwerk die Gesinnung,
Gesinnung als tätige Haltung, nicht als passiver Zustand, hier gilt das
Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg, das auch die geringste Arbeit
nicht verwirft, wenn sie nur aus der treuen Einsetzung der ganzen Seele
hervorging.
Steht es so mit dem Menschen, so kann er den Gefahren trotzen,
welche sein Leben nach kurzem Aufschwung in ein Stocken und Sinken
zu bringen drohten. Nun kann er dem Schicksal, das ihn umfängt, ein
ursprüngliches Leben entgegensetzen und damit sein Dasein in einen
unablässigen Kampf zwischen Schicksal und Freiheit verwandeln; nun
kann er die entweichende physische Jugend durch eine geistige ersetzen
und gegenüber einem erstarrenden Mechanismus das Leben in frischem
Fluß erhalten. Auch erschöpft sich nunmehr das Leben nicht mehr in
ein Nacheinander einzelner Vorgänge, es bleibt kein bloßes Kommen und
Gehen, sondern nunmehr vermag es gegen den Wirbel und Wandel eine
Hauptrichtung festzuhalten und eine beharrende Gegenwart auszubilden,
die alles, was dem inneren Fortgang dient, verbinden und durcheinander
befestigen kann. Hat unser Leben so viel bei sich selbst zu tun und
verheißt sein Verlauf so reichen Gewinn, so kann es auch nicht mehr
echte Weisheit bedeuten, das Leid, das uns traf, einfach abzuschütteln
und möglichst alle Spur von ihm auszutilgen, sondern dann hat es einem
Ganzen des Lebens gegenwärtig zu bleiben und zu seiner Förderung zu
wirken.
Solche innere Bildung vermag durch den ganzen Verlauf des Lebens im
Aufstieg zu bleiben und an geistiger Frische zu wachsen; es wird von
hier aus die Forderung der Mystik verständlich, der Mensch solle jeden
Tag jünger werden, jeden Tag mehr aus der Zeit in die Ewigkeit treten;
nur werden wir dabei weniger mit der Mystik an bloße Kontemplation als
an schaffende Tätigkeit denken. Wie in diesem Zusammenhange das Leben
sich nicht als ein Aufzehren eines gegebenen und begrenzten Kapitals
darstellt, sondern als das Schaffen eines neuen, das ins Grenzenlose
zunehmen kann, so wird nun das sentimentale Zurückblicken auf die
Jugendzeit und das Klagen über den Verlust ihrer Frische und Spannkraft
zu einem Ausdruck matter und flacher Denkart, ja zu einem Zeugnis
dessen, daß das Leben sein Ziel verfehlte.
Nicht minder als dem Sinken der Jugendkraft läßt sich auch der
Mechanisierung der Arbeit und dem Unterliegen unter starre Routine
erfolgreich Widerstand leisten. Uns bezwingen nicht sowohl die
Außendinge als unsere innere Schwäche, unser Unvermögen, inmitten der
Arbeit ein Werk des ganzen Menschen zu wahren und von ihm aus die
Arbeit zu beseelen. Werfen wir nicht auf das Schicksal, was in Wahrheit
wir selbst verschulden!
Wenn die Festhaltung einer durchgehenden inneren Aufgabe das Leben in
ein fortlaufendes Werk verwandelt und der Verlust nach außen hin sich
durch einen inneren Gewinn ersetzen läßt, so behalten auch die späteren
Lebensstufen ein eigentümliches Recht und einen eigentümlichen Wert.
Auch Güter wie Kraft und Schönheit beschränken sich nicht auf die
Jugendzeit, auch die späteren Alter können sie besitzen, nur werden
diese sie anders gestalten und mehr ins Seelische wenden müssen. Wir
ergeben uns gewöhnlich viel zu früh und machen weit weniger aus uns,
als wir könnten, unser schlimmster Feind ist die eigene Verzagtheit,
ist der Mangel an rechtem Glauben. Richtig verstanden hat auch das
Greisenalter seinen besonderen Wert, es braucht kein mattes Verklingen
zu sein, es kann ein inneres Zusammenfassen des Lebens werden und eine
Emporhebung über alle äußeren Maße vollziehen. Wohl lockert sich das
Verhältnis zur Zeit, jedoch nur das zu ihrer Oberfläche, nicht zu dem
Ewigkeitsgehalt, der allein den Zeiten eine Tiefe gibt und sie zu einem
gemeinsamen Werke verbindet. Auch das Einsamerwerden gegen die Menschen
braucht keine Vereinsamung zu bedeuten, wenn Liebe zum Menschenwesen
bleibt und immer neue Tätigkeit wachruft, wenn vor allem der Mensch
in den Zusammenhängen des geistigen und göttlichen Lebens sich sicher
geborgen fühlt und als Glied einer ewigen Ordnung weiß. Dann mag das
Leben nach dem Ausdrucke Leibnizens gegenüber der früheren Evolution
eine Art von Involution vollziehen, eine Einkehr in sich selbst, aber
es fällt damit nicht ins Leere, wenn es von innen her eine Welt zu
eigen gewann, die den Grundbestand aller Wirklichkeit bildet, der
gegenüber alles Dasein zu einer niederen Stufe herabsinkt. So erscheint
das Greisenalter als ein Prüfstein für den Ertrag des Lebens, für sein
Gelingen oder Mißlingen. Wir erwähnten vorhin ein trübe gestimmtes
Goethewort; wie der große Lebensweise sich selbst über solche Stimmung
hinaushob, das zeigt ein anderer Ausspruch, der seine individuelle Art
in unnachahmlicher Sprache verkörpert:
»Die Jahre nahmen dir, du sagst, so vieles:
Die eigentliche Lust des Sinnenspieles,
Erinnerung des allerliebsten Tandes
Von gestern; weit und breiten Landes
Durchschweifen frommt nicht mehr; selbst nicht von oben
Der Ehren anerkannte Zier, das Loben,
Erfreulich sonst. Aus eignem Tun Behagen
Quillt nicht mehr auf, dir fehlt ein dreistes Wagen!
Nun wüßt ich nicht, was dir besondres bliebe.«
»Mir bleibt genug! Es bleibt Idee und Liebe.«

Folgerungen für die Aufgaben der Gegenwart.
So gewiß in den Bewegungen der Weltgeschichte die philosophische Arbeit
nur einen bescheidenen Platz einnimmt, so ist sie doch unentbehrlich
bei den Fragen, die den ganzen Menschen und die Gesamtrichtung des
Lebens betreffen. Daß aber die von uns vertretene Gedankenwelt nach
dieser Richtung hin wohl einiges nützen kann, das sei an einigen
Hauptpunkten kurz gezeigt.
1. Wir gehen vom Begriff des Lebens aus und stellen uns damit in
einen zwiefachen Gegensatz, in einen Gegensatz zu allem Beginnen vom
Sein und in den einer Voranstellung besonderer Tätigkeiten. Was jenen
betrifft, so geht er freilich mehr die eigentliche Philosophie als das
Leben an, so sei hier nur das bemerkt, daß beim Ausgehen vom Leben
das Erkennen nicht auf eine gegebene Welt, nicht auf ein starres Ding
an sich gewiesen wird, und daß überhaupt ein Leben sich weit leichter
und weit reicher eröffnen kann als ein Sein. Auch die Religion stellt
sich anders dar, wenn ihr höchstes Ziel nicht ein absolutes Sein,
sondern das absolute Leben bildet. Hier aber liegt uns vor allem an
dem Gegensatz des Lebens als eines Ganzen zu seinem Auseinandergehen
in die Besonderheit der Verzweigung. Es ist ein Hauptzug des modernen
Lebens, die Eigentümlichkeit der Einzelgebiete mehr zu entwickeln und
stärker hervorzukehren als frühere Zeiten es taten. Diese Verstärkung
aber hat bei allen Erfolgen mangels eines Gegengewichts immer mehr
dazu geführt, daß die Gebiete auseinandergingen und wohl gar in einen
schroffen Gegensatz zueinander gerieten. Da ihrer Arbeit naturgemäß
die Menschen folgten, so entstand eine ungeheure Zerklüftung und
Zersplitterung, wie wir heute schmerzlich empfinden. Mit diesem
überwiegenden Eingehen in die Verzweigung hängt auch zusammen, daß das
Leben sich mehr ins Technische wendet und immer komplizierter geworden
ist, daß einfache Grundgedanken den Spezialproblemen immer mehr weichen
mußten. Dem muß begegnet werden, dem läßt sich aber nur begegnen durch
ein Zurückgehen auf ein überlegenes Ganzes des Lebens. Es steht zu
hoffen, daß, wenn die großen Lebenswahrheiten und Lebensnotwendigkeiten
kräftiger herausgearbeitet und bewußter angeeignet werden, unser
Lebensstand eine Verjüngung und Vereinfachung erfährt, daß die Menschen
gemeinsame Aufgaben erkennen und sich bei ihnen zusammenfinden. Alle
schönen Worte von Menschenwürde und Humanität überwinden nicht die
Kluft, das kann nur durch eine Verstärkung der gemeinsamen Aufgaben
erfolgen, an deren Lösung das Gelingen und der Sinn alles Lebens hängt,
bei denen wir aber zugleich uns aufeinander angewiesen und innerlich
verbunden fühlen. Hier gilt es ein Bauen von innen heraus.
2. Das Leben als Grundlage dessen nehmen konnten wir nicht,
ohne anzuerkennen, daß ein derartiges Leben nicht ein Erzeugnis
bloßmenschlichen Vermögens ist, daß es vielmehr aus größeren
Zusammenhängen stammt, und daß damit innerhalb des Menschen etwas
Übermenschliches ersichtlich wird. Aus solcher Überzeugung läßt sich
der heutigen Unsicherheit in der Schätzung des Menschen entgegenwirken.
Es war der Neuzeit eigentümlich, beim Bilde der Welt wie bei der
Gestaltung des Lebens vom Menschen auszugehen und ihn damit sehr zu
steigern. Es hat das aber neben großem Gewinn auch manche Verwicklung
gebracht, im besonderen die Gefahr, daß der bloße Mensch die Rechte
und Ansprüche an sich riß, die nur dem schaffenden Leben gebühren.
Solche Mißstände wurden so lange minder bemerklich, als von früheren
Lebensordnungen her noch ein Glanz auf der Menschheit lag und sie als
ein Glied größerer Zusammenhänge sehen ließ. Aber diese Verklärung ist
mehr und mehr gewichen, und der Mensch hat sich immer ausschließlicher
auf sein natürliches und gesellschaftliches Dasein gestellt. Wenn
dabei manche Grenze und Schwäche sich nicht verkennen ließ, so suchte
man das wohl durch eine Summierung der Kräfte zu überwinden, sei
es in dem Nacheinander der Geschichte, sei es in dem Nebeneinander
der Gesellschaft. Wie wenig das aber auslangt, das hat sich unserer
Erörterung oft erwiesen; die Eindrücke des Krieges bekräftigen das,
indem sie den Menschen mit sehr widersprechenden Zügen zeigen, im
Verhältnis der Nationen unermeßlich viel Haß und Neid, Unwahrheit
und Ungerechtigkeit, innerhalb der Nationen aber viel Kraft und
Aufopferungsfähigkeit, wie wir das auch unseren Gegnern zuerkennen
müssen; so ein höchst verworrenes Bild des Menschen. Die Unsicherheit,
ja Hilflosigkeit wird dadurch verstärkt, daß die moderne Wissenschaft
die Bedeutung des Menschen im Weltall immer geringer anschlägt; wir
auf unserem kleinen Planeten und mit unserer zeitlich begrenzten
Dauer scheinen völlig nebensächlich und gleichgültig im Ganzen der
Wirklichkeit. Und doch können wir unmöglich auf eine Schätzung der
Menschheit verzichten, wenn unser Handeln hohe Ziele entwerfen und
unserem Vermögen sie zu erreichen vertrauen soll. So geht ein Sehnen
durch die Menschheit der Gegenwart, den Menschen von innen heraus zu
erhöhen. Das aber kann unmöglich vom bloßen Dasein aus geschehen,
es verlangt die Eröffnung einer neuen Welt, einer Tatwelt, in der
menschlichen Seele, und die Schöpfung eines selbständigen Lebens im
Menschen; unsererseits bedarf es dabei einer kräftigen Herausarbeitung
jenes Übermenschlichen im Menschen und zugleich eines Zusammenschlusses
der Streiter für eine echte Geisteskultur zu einer festen Gemeinschaft;
früher haben die Kirchen sich dieser Aufgabe angenommen, vieles
in ihnen ist sicherlich heute veraltet, aber der sie beseelende
Grundgedanke bleibt schlechterdings unentbehrlich und wird sich
durch alle Verneinung und Bekämpfung hindurch immer wieder Geltung
verschaffen.
3. Wir verlangten für das Leben die Bildung eines festen Kerns im
Menschen, eines Selbst, das alle Mannigfaltigkeit trägt, sich erhöhend
in sie hineinlegt, damit aber das Leben zu einem Beisichselbstsein
erhöht. Wir verlangen zugleich einen Lebensinhalt und eine
Wesenskultur. Damit widersprechen wir einer bloßen Kraftkultur, wie
sie in der Neuzeit die Herrschaft an sich gerissen hat. Auch hier lag
zugrunde eine unverwerfliche Forderung. Die früheren Lebensordnungen
nahmen den Menschen zu sehr als eine fertige Größe und setzten daher
nicht genügend den ganzen Umfang seiner Kraft in Bewegung. Nun zeigte
die Neuzeit, wieviel sich im Menschen steigern und in den Verhältnissen
bessern läßt; darüber ist aber die Steigerung zum Selbstzweck
geworden, und es entsteht die Gefahr, das Beisichselbstsein des
Lebens und alle Inhaltsbildung als nebensächlich, ja gleichgültig
zu behandeln. Denn mag die Kraft in der einen Richtung als Wachstum
materiellen Vermögens, in der anderen als eine Steigerung des
seelischen Standes mittels eines durchleuchtenden Denkens verstanden
werden, weder hier noch da kommt es zu einem wahrhaftigen Leben, wird
das Leben mehr als ein bloßes Lebenwollen, als ein ruheloses Hasten
und Jagen. Wollen wir aber dem mit Aussicht auf Erfolg widerstehen,
so gilt es gegenüber dem Kraftideal ein neues Ideal zu gewinnen und
durchzusetzen; das aber kann nur durch eine Wesensbildung mit ihrer
Vertiefung des Lebens geschehen.
4. Jene Wesenskultur erhebt den Anspruch, allein dem Leben einen
Selbstwert und eine innere Freudigkeit zu verleihen. Damit stellt
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