Der Sinn und Wert des Lebens - 07

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der Probleme wird, wenn die Frage des Lebens überhaupt vor alle Fragen
der besonderen Gestaltung tritt. Zur Aufgabe wird damit, jeden
einzelnen Strom auf den Punkt zurückzuführen, wo er aus dem Ganzen
hervorbricht, und seine Bedeutung danach zu messen, was er für das
Ganze des Lebens leistet. Auch das stellt Aufgaben über Aufgaben, und
es erscheint auch von hier aus unser menschliches Leben als mitten
im Werden begriffen und daher als höchst unfertiger Art. Aber warum
sollte uns das erschrecken und niederdrücken, wenn nur feststeht,
daß Bedeutendes bei uns vorgeht, und daß die Sache hoch über aller
menschlichen Willkür liegt. Und darüber kann nicht wohl ein Zweifel
sein.


Auseinandersetzung mit der Welt und der Lage des Menschen.

Bisher hatten wir ein Gesamtbild des Lebens entworfen, ohne die Frage
zu stellen, wie weit unser menschlicher Bereich es zur Ausführung
bringt, was er an Hemmungen, aber auch an Überwindungen enthält. Nun
aber gilt es sich auch damit zu befassen; wir werden dabei nicht nur
einen eigentümlichen Tatbestand finden, wir werden im Bilde des Lebens
selbst weitere Züge entdecken. Es erwachsen aber Hemmungen vornehmlich
in dreifacher Richtung: aus der Übermacht der Natur, aus der
Unsicherheit des Geisteslebens, aus der Unlauterkeit und dem inneren
Widerspruch des menschlichen Standes. Diese Punkte wollen gesondert
behandelt sein.

Die Übermacht der Natur.
Verhält sich Geistesleben und Natur, wie unser Lebensbild behauptet,
wie eine höhere und niedere Stufe, so wäre zu erwarten, daß die
Natur durchgängig sich unterordnete und einen Zusammenhang mit dem
Geistesleben zeigte. Dem aber widerspricht zunächst die Unermeßlichkeit
der Natur, der gegenüber, was in der Menschheit an geistiger Art
erscheint, zu winziger Kleinheit herabsinkt. Es klingt vermessen, ein
so Verschwindendes für den Kern der Wirklichkeit auszugeben. Weiter
aber scheint der Natur alle Verknüpfung mit dem Geistesleben zu fehlen.
Frühere Zeiten haben wohl gewagt, eine solche aufzuweisen, so glaubte
das Mittelalter in der Pflanzen- und Tierwelt durchgängig Hinweise auf
das Leben, Leiden und Auferstehen Jesu zu entdecken, eine sinnbildliche
Deutung wob ein Band zwischen der Außen- und der Innenwelt. Wie fern
ist uns heute, schon durch die unermeßliche Erweiterung der Natur ins
Große wie ins Kleine hinein, diese Denkart gerückt! Nach dem jetzigen
Bilde scheint die Natur ganz und gar in sich selbst zu ruhen und bei
sich selbst zu verlaufen, scheint auch das Gebiet organischer Bildung
nicht über sich selbst hinauszuweisen. Welche Beziehung könnte zum
Beispiel die wunderbare Lebensfülle und der erstaunliche Formenreichtum
der Tiefseewelt zur Entwicklung des Geisteslebens haben? Wohl führt
in der Natur ein Strang zu der Höhe, wo sich solches Leben entfaltet,
aber dieser Strang ist nur einer neben vielen anderen, die sich an
mannigfachen Stellen abzweigen und ohne irgendwelchen Zusammenhang mit
jenem Leben verlaufen. Wie ein dunkles Rätsel steht vor uns das Ganze
der Natur. Ein Aufstieg der Bildung und des Lebens ist unverkennbar,
aber er erfolgt unter harten Widerständen und so, daß das Höhere streng
an die niederen Stufen gebunden bleibt. Schwerlich wird die Natur sich
letzthin mechanisch erklären lassen, die Anerkennung bildender Kräfte
aber macht es zu einem rätselhaften Widerspruch, daß vielfach die Natur
die Wesen gegen einander hetzt und sie auf gegenseitige Zerstörung
anweist; indem sie die Angriffswaffen des einen, die Schutzwehr
des anderen verstärkt, scheint sie sich selbst entgegenzuwirken.
Zweckmäßigkeit an den einzelnen Stellen, aber kein erkennbarer Zweck
im Ganzen. So bleibt zunächst völlig unklar, wie das Geistesleben eine
innere Verbindung mit diesem Reiche haben könnte; hat es sie aber
nicht, so scheint es vereinsamt in dem unermeßlichen All, dessen Seele
zu sein es behauptet.
Dazu zeigt sich der Lauf der großen Welt, dem auch wir aufs engste
verflochten sind, völlig gleichgültig gegen unser Ergehen; von
altersher hat den Menschen die Wahrnehmung beschäftigt, aufgeregt und
wohl gar zur Verzweiflung getrieben, daß das, was ihm von innen her
als das Höchste gilt und woran er sein Hauptstreben setzt, im Ganzen
der Welt aller Schätzung und Bedeutung zu entbehren scheint; wie im
Spiel zerstört die Natur, sei es in langsamer Verzehrung, sei es in
gewaltigen Umwälzungen, was geistig von höchstem Werte ist, sie kennt
kein gut oder böse, ihr gilt kein Unterschied. Es hat nicht an Bemühung
gefehlt, den Widerspruch wegzudeuten und nachzuweisen, daß mit jenem
Befunde ein Reich der Gerechtigkeit und sittlichen Ordnung, ja der
Liebe und gütigen Vorsehung, wohl vereinbar sei, aber mochten weite
Kreise und lange Epochen in solchen Gedankengängen eine Befriedigung
finden, die Menschheit ist aus einer solchen immer wieder aufgescheucht
und von dem Zweifel befallen, ob jene Ausgleichung nicht eine bloße
Ausrede sei, ein Erzeugnis bloßer Wünsche und Träume.
Dazu unterliegt der Mensch nicht nur nach außen hin, sondern auch im
eigenen Bereich der Herrschaft der Natur. Alle Entfaltung seelischen
Lebens bei ihm zeigt eine solche Abhängigkeit von körperlichen
Zuständen und Vorgängen, daß versucht werden konnte, sie ganz und
gar darauf zurückzuführen. Auch in das Handeln reicht solche Bindung
hinein. Denn das Sinnliche nimmt in ihm eine überragende Stellung
ein; statt geistigen Zwecken zu dienen, bemächtigt es sich der
seelischen Kräfte, das aber über den eigenen Entschluß der Menschen
hinaus, aus bitterem Zwange der Notwendigkeit. Wie die Menschheit
sich im Durchschnitt der Erfahrung ausnimmt, wird die natürliche
Selbsterhaltung des Individuums wie der Gesellschaft der beherrschende
Haupttrieb des Lebens. Unablässig haben wir um die Behauptung unseres
Daseins zu kämpfen, und zwar so hart, daß diese Aufgabe oft das ganze
Streben einnimmt, das nicht nur bei den Individuen, sondern auch bei
den Völkern und der gesamten Menschheit. Nicht die Ideen, sondern
die Interessen, und zwar die materiellen Interessen, beherrschen den
Durchschnitt des menschlichen Daseins. Wie sehr sie auch bei großen
geschichtlichen Wendungen, zum Beispiel bei religiösen Umwälzungen,
im Spiele sind, das hat eben die neueste Zeit mit ihrer Hervorkehrung
der ökonomischen Betrachtungsweise anzuerkennen gezwungen. Dabei
müssen wir zugestehen, daß der Kampf mit seiner harten Not und seiner
Aufrüttelung der Kräfte für den Menschen, wie er nun einmal ist,
sich nicht entbehren läßt; bloßgeistige Ziele bewegen ihn viel zu
wenig, ein sorgenfreies Leben würde für die meisten ein träges und
schlaffes werden. Dazu kommt die Selbsterhaltung der Gattung mit ihrer
Voranstellung der geschlechtlichen Seite des Lebens. Mit Unrecht
hat eine ältere Denkart unter dem Einfluß theologischer Dogmen der
Menschheit den Geschlechtstrieb als eine sittliche Schuld aufgebürdet,
da vielmehr der Zwang der Natur ihn ihr eingepflanzt hat und er für ihr
Fortbestehen durchaus unentbehrlich ist. Demnach erscheint durchgängig
die sinnliche Lebenserhaltung als die stärkste Macht im menschlichen
Dasein, und es behält Schiller Recht mit dem Wort, daß Hunger und Liebe
die Welt regieren. Von hier aus mag alles geistige Leben eine bloße
Nebensache scheinen, die anderen Zwecken zu dienen hat.
Solchem Übergewicht des Sinnlichen entspricht die Tatsache, daß die
Formen des natürlichen Daseins in Raum und Zeit, die das schaffende
Leben überwinden wollte, in Wahrheit beharren und unser Streben
beherrschen. Das bloße Nebeneinander des sinnlichen Daseins umfängt
uns mit starrer Tatsächlichkeit und isoliert den einen gegen den
anderen, während alle Entfaltung geistigen Lebens ein Wirken aus dem
Ganzen verlangt; nicht minder befinden wir uns in dem Nacheinander der
Zeit, wo keine Leistung und kein Zustand beharrt, vielmehr alles fließt
und der Wandel der Dinge leicht das heutige Recht morgen in Unrecht
verkehrt. Einen wie raschen Wechsel der Ziele, der Überzeugungen und
des Geschmackes zeigt das menschliche Dasein, während das geistige
Schaffen seinen Gehalt als zeitüberlegen gibt und auf solcher Forderung
bestehen muß, um seine Kraft voll einzusetzen.
Das alles läßt sich nicht leugnen, noch auch beiseite schieben, es
bleibt bei der Tatsache, daß geistiges Leben bei uns Menschen in
starker Abhängigkeit steht und sich oft recht kümmerlich ausnimmt. Das
anerkennen heißt aber keineswegs einem endgültigen Nein unterliegen.
Dem widersteht schon die Tatsache, daß inmitten unseres Daseins weit
über die bewußte Absicht des Menschen hinaus eine Weiterbewegung gegen
die bloße Natur und ihre Maße im Gange ist. Denn vielfache Erfahrung
zeigt, daß, was der Mensch unter dem Zwange der Not und seiner
Selbsterhaltung wegen ergriff, sich ihm durch den eigenen Verlauf des
Lebens verwandelt und veredelt: was zunächst nur äußerlich war, das
wird ins Innere gewandt; was als bloßes Mittel diente, das gewinnt
einen Wert bei sich selbst; auf solchem Wege erfolgt durch die ganze
Weite und Breite des Lebens ein Aufstieg zu geistiger Höhe.
Betrachten wir die persönlichen Verhältnisse von Mensch zu Mensch
in Liebe und Freundschaft. Was Liebe genannt wird, ist zunächst dem
Naturtrieb verwachsen und oft recht flacher Art, es trägt geistige
Züge nur nebenbei, der andere Mensch erscheint vornehmlich als ein
Mittel zur Erhöhung des eigenen Wohlseins. Aber im Zusammensein
vollzieht sich nach und nach eine Wendung dahin, daß jener auch bei
sich selbst einen Wert erhält, und daß der Förderung seines Wohles das
Ich sich unterordnen, ja aufopfern kann, daß unter Durchbrechung der
anfänglichen Enge eine innere Erweiterung des Lebens erfolgt. Nicht
anders steht es mit der Freundschaft. Äußere Gründe der Nützlichkeit
und der Annehmlichkeit pflegen die Menschen zusammenzuführen, es ist
meist eine Gemeinschaft der Zwecke, welche sie zusammenhält. Aber bei
einiger Dauer pflegt das gegenseitige Verhältnis sich ins Innere zu
wenden, und jedes Glied eine innere Teilnahme, ja Freude am anderen
auszubilden. Schon Aristoteles hat geschildert, wie der Verlauf des
Lebens aus dem zunächst bloß Nützlichen und Angenehmen etwas an sich
Wertvolles, etwas Gutes bereitet, und wie damit der Mensch seinen
eigenen Beweggründen entwächst, wie hier nach dem Ausspruch des Denkers
auch in dem Menschen niederer Art etwas Göttliches wirkt, das stärker
ist als er selbst.
Auch unser Verhältnis zu den Gegenständen, mit denen unsere Arbeit zu
tun hat, nimmt teil an solcher Erhöhung. Wir pflegen die Arbeit um der
Selbsterhaltung willen aufzunehmen, in der Not des Kampfes ums Dasein
müssen wir notgedrungen einen Lohn für sie verlangen; die Sache mag uns
dabei zunächst völlig gleichgültig sein. Aber nach und nach wird uns
die Arbeit durch ihren eigenen Gehalt lieb und wert, ihr Fortgang wird
zur Herzenssache, die Sorge um ihr Gelingen läßt uns willig große Mühen
und Opfer ertragen. Das namentlich, wenn sich die Arbeit über einzelne
Leistungen hinaus zur Lebensarbeit steigert, einen eigentümlichen
Beruf erzeugt und damit allem Handeln eine beharrende Richtung gibt.
Das widersteht mit besonderer Stärke einem Beharren bei kleinlicher
Selbstsucht und wirkt zur inneren Erhöhung des Lebens.
Wie so im Verhältnis zu Menschen und Gegenständen das Leben vom Äußeren
ins Innere, vom Natürlichen ins Geistige übergeleitet wird, so trägt
der Einzelne auch in seiner eigenen Seele eine Macht, die ihn vorwärts
treibt. Das ist die Besonderheit seiner Art, seine Individualität.
Sie ist zunächst eine Gabe der Natur, in der Niederes und Höheres
zusammenfließt; diesen Befund zu wahren und durchzusetzen entspricht
dem Naturtrieb der Selbsterhaltung und gewinnt daher leicht die Neigung
des Menschen. Aber die Bewegung, die damit in Fluß kommt, führt
immer mehr und mehr über den Anfang hinaus, es drängt den Menschen
dahin, jenen Kreis enger zusammenzuschließen, einen beherrschenden
Mittelpunkt auszubilden, Haupt- und Nebensachen zu scheiden; je mehr
das gelingt, desto deutlicher wird eine Hauptrichtung ersichtlich und
wird die Wendung von einem niederen Selbst der Natur zu einem höheren
des Geistes gefördert. Die individuelle Art erscheint damit als ein
Pfeiler, an dem sich das Leben in die Höhe rankt.
Auch das menschliche Zusammenleben zeigt einen ähnlichen Aufstieg vom
Niederen zum Höheren, ein Hinauswachsen des Menschen über seine eigenen
Triebe. So in der Verbindung der einzelnen Kräfte. Zunächst ist es
das äußere Nebeneinander und der Zwang der Lebenserhaltung, welche
die Menschen zusammenführen und zu kleineren oder größeren Gruppen
verbinden. Aber nun ergibt die Verbindung gemeinsame Erfahrungen und
Kämpfe, gemeinsame Erfolge und Leiden; sowenig daraus unmittelbar eine
innere Gemeinschaft hervorgeht, eine solche wird durch den gemeinsamen
Besitz doch vorbereitet, es werden Anhaltspunkte gewonnen, die einem
Leben aus dem Ganzen entgegenkommen. So wird, was Volk und Vaterland
auf der Stufe des geistigen Lebens dem Menschen bedeuten können, auch
durch die natürliche Entwicklung angebahnt.
Ähnliches erfahren wir gegenüber der Zeit mit ihrem Nacheinander.
Denn gegenüber dem bloßen Nacheinander bildet das gesellschaftliche
Leben beharrende Züge und Lagen aus, die sich von der geistigen Arbeit
aneignen und einer neuen Stufe zuführen lassen. Es erscheint damit eine
gewisse Vermittlung zwischen der bloßen Zeit, die das nächste Dasein
beherrscht, und der Ewigkeit, die das geistige Schaffen fordert.
Demnach erweist schon im Bereich des Daseins das Leben selbst ein
erziehendes Wirken. Wir verstehen von hier aus, wie Plato von einer
dem Niederen innewohnenden Sehnsucht nach Ewigkeit reden und eine
Stufenleiter des Strebens im Weltall aufsuchen konnte; nur sei das
nicht als ein bloßes Hervorgehen aus der Natur verstanden, sondern als
eine Emporhebung durch die Kraft des Geisteslebens. Die Natur könnte
unmöglich in jenen Aufstieg gelangen, wirkte nicht ein tieferer Grund
in ihr und gäbe ihr den Trieb zur Weiterbewegung.
Uns aber erschöpft sich die Wirkung des geistigen Lebens nicht in
eine solche Emporbildung der Natur, sondern, wie wir sahen, erzeugt
dieses Leben ein selbständiges Reich, das wesentlich anderer Art ist
als das der Natur. Nicht nur in besonderen Richtungen vollziehen
sich erhebliche Wandlungen, nicht nur weichen hier die Güter des
Nützlichen und Angenehmen denen des Guten, Wahren und Schönen, sondern
es verwandelt sich der Grundbegriff der Wirklichkeit, indem diese
nicht mehr ein bloßes Nebeneinander in Raum und Zeit, nicht ein
bloßes Gewebe von Einzelpunkten bildet, sondern alle Mannigfaltigkeit
mit einem Ganzen des Lebens umfaßt und sie sich innerhalb dieses
entfalten läßt. Wie das eine Erhebung über Raum und Zeit vollzieht,
so erweist hier ein Geschehen seine Tatsächlichkeit nicht durch ein
Vorhandensein im zeiträumlichen Nebeneinander, sondern durch die
Zugehörigkeit zum Leben des Ganzen. Hier bildet nicht die Beziehung
von Einzelnem zu Einzelnem, sondern das Verhältnis des Einzelnen zum
Ganzen das Grundverhältnis des Lebens, im Gesamtleben hat jedes seine
Stelle und sein Recht aufzuweisen, was als wahr gelten will. Jenes ist
nach unseren Darlegungen nicht eine Welt neben einer anderen, sondern
es ist die Welt, in der allererst das Leben ein Beisichselbstsein
erreicht; es muß daher als die Grund- und Hauptwelt, als der Kern
alles Geschehens anerkannt werden. Erst von hier aus sahen wir auch
ein wissenschaftliches Bild der Natur entstehen, dies Bild aber
läßt eine überschauende Erwägung manche Züge gewahren, welche bei
aller Rätselhaftigkeit eine größere Tiefe des Ganzen verraten, als
der Mechanismus des bloßen Nebeneinander zu erklären vermag; so die
Wechselwirkung der Elemente, so das Durchgehen einfacher Grundgesetze,
so die Macht der Formbildung in der Natur, so auch der Aufstieg zu
höheren Stufen in ihr. Ja selbst die enge Verkettung unseres geistigen
Vermögens mit der Natur wird einer naturalistischen Deutung entzogen,
sobald anerkannt wird, daß im Beisichselbstsein des Lebens etwas der
Natur wesentlich Überlegenes eintritt. Denn dann wird der Gedanke
unabweisbar, daß die Natur zu einer derartigen Erhöhung nicht führen
könnte, besäße nicht sie selbst einen tieferen Grund, und stellte
sie sich damit nicht als eine bloße Stufe eines weiteren Geschehens
dar. Freilich müssen uns zugleich die Grenzen unseres Erkennens und
die Überlegenheit der Natur über alle menschlichen Maße gegenwärtig
bleiben; daß aber ein innerer Zusammenhang von Natur und Geist besteht
und auch uns sich eröffnet, das erweist die Kunst mit ihrem das Leben
durchwaltenden Wirken. Denn sie läßt das Sinnliche zum Ausdruck des
Geistigen werden und seiner Fortbildung dienen, ihr vermögen Worte,
Töne, Farben innerlichste Seelenlagen zu verkörpern, nicht minder aber
bringt sie zur Anerkennung, daß beim Menschen das Geistesleben solcher
Verkörperung bedarf, um ihm volle Wirklichkeit zu werden. So erweist
die Kunst den Zusammenhang beider Welten und gibt, um mit Goethe zu
reden, »von des Daseins ewiger Harmonie die seligste Versicherung«.
Mag demnach im Gesamtbild des Lebens die Natur eine gewaltige Macht
behaupten und für den äußeren Eindruck weit überlegen bleiben, in
unserer Seele erhebt sich eine neue Welt, deren Tatsächlichkeit alle
Schranken des Menschen nicht aufheben können. Denn diese Welt hat
von Haus aus eine Selbständigkeit und Überlegenheit gegen den Stand
und das Befinden des Menschen, sie aber ist uns das Allernächste und
Allergewisseste, das, von wo aus wir die Natur innerlich erst erleben;
wer daher der Macht der bloßen Natur unterliegt, der bekundet damit nur
die Schwäche seiner eigenen Stellung im Geistesleben.

Die Unsicherheit des menschlichen Geisteslebens.
Gegen die übermächtige Sinnenwelt suchten wir einen festen Halt im
Selbständigwerden des Lebens. Aber mit diesem Selbständigwerden
scheint es beim Menschen schlecht genug bestellt; wer möchte leugnen,
daß das Geistesleben dem ersten Eindruck hier sehr schwankende Umrisse
zeigt: die einzelnen Menschen und Kreise gehen bei seiner Fassung
weit auseinander bis zu völligem Gegensatz; nicht minder tun es die
verschiedenen Zeiten; gegenüber ihren Bewegungen und Wandlungen
erscheint jenes als völlig biegsam und weich, als etwas, das jeder
Forderung nachgibt, sich jeder Lage bereitwillig anpaßt. Solche
Schmiegsamkeit gewährt menschlichem Meinen und Wünschen den weitesten
Spielraum, der Streit der Parteien zieht die Sache an sich, auf Deutung
und Nutzen des bloßen Menschen scheint alles hinauszukommen, damit
aber eben das, was über den Menschen hinausheben sollte, ein Spielball
seines Beliebens, ein Werkzeug seiner Zwecke zu werden.
So das Chaos des ersten Eindrucks. Aber der Zusammenhang unserer
Betrachtung gestattet diesem Eindruck zu widerstehen. Das Leben
entbehrt keineswegs alles festen Tatbestandes, weil die Menschen
sich über seine Fassung streiten, es gilt nur die Tatsächlichkeit an
der rechten Stelle zu suchen, sie nicht gegenüber dem Leben, sondern
innerhalb seiner zu suchen. Denn auch Bewegung und Streben enthüllen
einen eigentümlichen Tatbestand, eröffnen bestimmte Züge, zeigen
eine Richtung des Weges, lassen ein Vermögen des Geistes ersehen. Es
erwacht zum Beispiel in der Menschheit, wie wir sahen, ein Streben
nach einer neuen Art der Geschichte, nach einer Erhebung über das
bloße Vorüberziehen der Zeiten, nach einer inneren Festhaltung
dessen, was äußerlich versank; erweist das darin bekundete Vermögen,
die Zeiten zu überschauen und in ein Gesamtbild zu fassen, ihrem
Wandel Bleibendes abzuringen und in Aneignung dieses Bleibenden eine
zeitüberlegene Gegenwart zu bilden, erweist ein derartiges Vermögen
nicht eine eigentümliche Beschaffenheit des Lebens, und zugleich eine
Tatsächlichkeit, die kein bloßes Deuten hervorbringen könnte? Gegenüber
solcher Zurückverlegung der Tatsächlichkeit in das Grundgewebe des
Lebens erscheint die übliche Behandlung der Sache als viel zu flach
und summarisch. Diese fragt nur nach dem Endergebnis wie der Händler
nach der fertigen Ware, die Arbeit ist ihr gleichgültig; so gewahrt
sie nicht, daß auch diese im Entfalten der Kräfte einen eigentümlichen
Tatbestand enthält. Ja, es kann bei diesen inneren Fragen das Wie der
Arbeit wichtiger sein als ihr Erzeugnis, da jenes neue Fragen stellen,
neue Möglichkeiten eröffnen, den Lebensprozeß vertiefen kann.
Auch sind es nicht bloß einzelne Bewegungen, die einen Tatbestand in
sich tragen, sondern es entstehen auch innerhalb des Lebens größere
Zusammenhänge, geschlossene Gebiete mit eigentümlichen Gesetzen
und Forderungen, wie Kunst und Wissenschaft, Moral und Religion.
Auch bei diesen Lebensgebieten, die im Lauf der Geschichte immer
selbständiger geworden sind und namentlich in der Neuzeit ihre
eigentümliche Art deutlich hervorgekehrt haben, verdeckt leicht der
Streit um die nähere Fassung die Grundtatsache, welche schon ihr
Entstehen und Bestehen enthält; man sieht den Wald nicht vor lauter
Bäumen. Weil zum Beispiel bei der Moral und der Religion die näheren
Fassungen weit auseinandergehen, erscheinen jene leicht als ein
bloßes Machwerk menschlicher Meinung; sie können das nicht mehr,
wenn gegenüber allen besonderen Arten von Moral und Religion eine
überlegene Tatsache darin erkannt und anerkannt wird, daß überhaupt
Religion und Moral im menschlichen Kreise entstehen und nicht bloß
die Einzelnen beschäftigen, sondern das Ganze des Lebens eigentümlich
gestalten. Denn durch alles, was die einzelnen Religionen voneinander
trennt, geht ein gemeinsamer Zug des Lebens, geht die Abhebung einer
höheren Art von seinem sonstigen Stande, geht die Forderung, alles
menschliche Wohlsein gegenüber jener zurückzustellen; das ergibt
eine eigentümliche Welt der Gedanken nicht bloß, sondern auch der
Gefühle, eine Entwicklung von Erhabenheit und Gnade einerseits,
von Ehrfurcht und Glaube andererseits; auch läßt sich das nicht
in seine Geschichte verfolgen, ohne in dieser einen Aufstieg vom
Sinnlichen ins Unsinnliche, vom Einzelnen ins Ganze, von äußerem Werk
zur Gesinnung des Herzens zu erkennen, allen Zweifeln und Irrungen
gegenüber erscheint darin eine eigentümliche Entfaltung des Lebens.
Ähnlich steht es mit der Moral. Allem Unterschied ihrer Gestaltungen
und allem Streit der Moralsysteme bleibt die Tatsache überlegen, daß
die Menschheit sich überhaupt der Herrschaft des bloßen Naturtriebs
entwand und die Wendung zu einer Ordnung vollzog, welche ihr schwere
Gebote auferlegt und doch als ihr zugehörig anerkannt wird. Es lag
darin ein Aufruf zur Befreiung von allen selbstischen Zwecken, auch die
Forderung einer freien Entscheidung und Zuwendung, dabei der Anspruch,
allen anderen Zwecken überlegen zu sein und unbedingten Gehorsam
verlangen zu dürfen. Mag eine solche Bewegung langsam vordringen und
immerfort harten Widerstand finden, sie ist vorgedrungen und hat sich
gegenüber allem Widerstande behauptet. Ist nicht auch das eine aller
Willkür überlegene Tatsächlichkeit? Welche Macht solche Lebenskomplexe
ausüben können, das zeigt besonders deutlich die Wissenschaft mit
ihrer Erhebung des Denkens zu voller Selbständigkeit. Sie fordert eine
sachliche Verkettung, die alle Mannigfaltigkeit zum Ganzen eines
Systems verbindet, jeden Satz streng in seine Konsequenzen entwickelt,
keinerlei Widerspruch der einzelnen Behauptungen duldet; es kann
das seinem Inhalt nach den Interessen des bloßen Menschen geradezu
widersprechen, und doch zwingt es ihn mit unwiderstehlicher Macht zum
Gehorsam, den Einzelnen sowohl als das Ganze des Völkerlebens.
Solche Zurückverlegung der Tatsächlichkeit stellt auch die
Überzeugungen des Menschen vom Ganzen der Welt auf einen festeren
und breiteren Grund, als die übliche Art es tut, die alle Wahrheit
von bloßem Verstande erwartet. Wie die einzelnen Lebensgebiete eine
Bewegung des Gesamtlebens hinter sich haben und sie zum Ausdruck
bringen, so vertritt jedes in der Durchführung seines Unternehmens eine
Überzeugung vom Ganzen; auch innerhalb der einzelnen Gebiete wird keine
Leistung wahrhaft groß, die nicht ein Bekenntnis vom Ganzen enthält.
Dabei erschließt aber die Arbeit der verschiedenen Gebiete verschiedene
Seiten des Ganzen, wie schon vorher beim Gegensatz des Überweltlichen
und Innerweltlichen ersichtlich wurde. Hier sei nur noch hinzugefügt,
daß das Erziehungswerk eine Vermittlung beider Richtungen und ihrer
Bekenntnisse fordert und auf seiner Höhe vollzieht. Denn wenn es
einerseits die Schärfe der Gegensätze voll anerkennen muß, um genügende
Tiefe und Kraft zu erreichen, so könnte es keinen Mut zu seiner Aufgabe
finden, schlummerte nicht in jeder Menschenseele ein geistiger Keim
und bestünde nicht die Möglichkeit, ihn durch treue Arbeit zu wecken.
Solches den Lebensgebieten innewohnende Bekenntnis erklärt es auch, daß
die Überzeugungen der Individuen wie die ganzer Zeiten sich nach den
Lebensgebieten zu richten pflegen, denen ihre Arbeit dient, daß zum
Beispiel die Wege der Naturforscher und die der Geistesforscher meist
auseinandergehen.
Aber eben dies Auseinandergehen zeigt, daß die von den einzelnen
Gebieten gebotene Tatsächlichkeit nicht auslangt, daß wir, um völlig
sicher zu werden, auch eine Gesamtleistung suchen und fordern müssen,
die den Gesamtumfang des Lebens eigentümlich gestalte und aller
Tätigkeit eine deutliche Richtung weise. Nun kommt uns freilich eine
solche Gesamtleistung nicht als eine fertige Tatsache entgegen, wohl
aber zeigt die weltgeschichtliche Arbeit eine unablässige Bewegung nach
diesem Ziele, ja diese Bewegung bildet den Kern und die Hauptspannung
der Weltgeschichte. Das nämlich bezeichnet die Höhepunkte menschlichen
Strebens, daß dort eine aller Mannigfaltigkeit überlegene und sie
durchdringende Art des Schaffens gewonnen wurde, alle Verzweigung der
Lebensarbeit zusammenhielt und dem Gesamtbereich einen ausgeprägten
Charakter verlieh. So schuf die Höhe des Griechentums eine
Lebenseinheit künstlerischer, namentlich plastischer Art, und suchte
ihren Zielen und Forderungen gemäß alle Lebensgebiete zu gestalten.
Solche Behandlung nach der Art eines plastischen Kunstwerks ließ nicht
nur das Weltall eigentümlich als einen herrlichen Kosmos sehen, sie
gab auch der staatlichen Gemeinschaft wie der Seele des Einzelnen ein
festes Gefüge und hielt ihnen ein Gesetz der Anordnung und Abstufung
vor. Was aus solchen Bewegungen hervorging, das hat neue Seiten des
Lebens erschlossen und viel Schlummerndes geweckt; auf seiner Höhe
konnte dieses Schaffen sich als den letzten Abschluß betrachten. Es hat
dann freilich die Erfahrung gezeigt, daß jenes künstlerische Gestalten
den Umfang und die Tiefe des Lebens nicht erschöpft, aber es wird
dadurch keineswegs zu einer Erscheinung vorübergehender Art, sondern
was es an bildendem und veredelndem Vermögen eröffnet hat, das bleibt
als eine Quelle des Lebens allen folgenden Zeiten gegenwärtig und
widersteht mit mächtiger Kraft einer sonst drohenden Barbarei. Jener
künstlerischen Behandlung des Lebensproblems ist die ethisch-religiöse
des Christentums gefolgt und hat die Herrschaft über weite Kreise der
Menschheit gewonnen. Auch sie hat später Widerspruch erfahren, aber
ihre Umwandlung des Lebensbestandes, die von ihr bewirkte Vertiefung,
ihre Aufdeckung schroffer Gegensätze im Menschenwesen, aber auch
einer Erhebung darüber durch göttliche Liebe und Gnade, ist ein
unverlierbarer Besitz der Menschheit; wo das aufgegeben oder auch nur
verdunkelt wurde, da geriet das Leben rasch in ein jähes Sinken. Dem
Christentum widersprach dann eine moderne Lebensordnung, welche das
Wachstum der Macht sowohl nach außen als auch nach innen zum Ziel der
Ziele machte, dabei der intellektuellen Arbeit eine hervorragende
Stellung zuwies und im Fortschreiten um des Fortschreitens willen
das höchste Glück zu finden hoffte; der Lebensbestand geriet dadurch
in einen rascheren Fluß, neue Ziele wurden erreichbar, das Handeln
gewann unermeßlich an bewegender Kraft. Das erhält sich auch in die
Gegenwart hinein und wird aus dem Lebensbestande nicht wieder zu
streichen sein. Aber auch ihm gegenüber steigt unverkennbar wieder eine
neue Woge des Lebens auf, welche mehr Beisichselbstsein und zugleich
mehr Gehalt des Lebens verlangt, die inneren Probleme mit ihren
Verwicklungen stärker hervorkehrt, weitere Tiefen und Zusammenhänge
fordert und in Durchbildung solches Strebens alle Gebiete umwandeln
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