Der Sinn und Wert des Lebens - 05

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und seine Ausbreitung zum Ausdruck dieser Tiefe gestalte. Das macht
erst die Forderung verständlich, daß der Mensch im Handeln etwas sei,
gemäß dem Schillerschen Worte: »Gemeine Naturen zahlen mit dem, was
sie tun, edle mit dem, was sie sind.« Denn offenbar bezeichnet hier das
Sein nicht ein hinter dem Leben befindliches Ding, sondern eine ihm
selbst gegenwärtige Einheit und Tiefe. Mit ihrer Bildung vollzieht sich
eine innere Abstufung des Lebens, und es rechtfertigt sich damit erst
die Bedeutung, welche wir Begriffen wie Gesinnung, Überzeugung, Denkart
usw. zuzuerkennen pflegen. Eine solche Anerkennung eines Seins im Leben
befreit uns auch von der Alleinherrschaft des »Dinges an sich«, das,
unserem Verhältnis zur Außenwelt entsprungen und dafür berechtigt,
bei Übertragung auf die innere Welt alles Wahrheitsstreben lähmen, ja
zerstören müßte. Denn wenn uns auch unsere Seele zur Außenwelt wird, so
besteht keine Möglichkeit einer Wahrheit.
Damit aber das Ganze des Selbst die Ausbreitung des Lebens voll
durchdringe, darf die Mannigfaltigkeit des Tuns nicht ein bloßes
Nebeneinander bleiben, sondern sie muß zu einem festen Zusammenhange
verbunden werden, in dem alles Einzelne einander ergänzt und
sich gegenseitig näher bestimmt, zugleich aber das Ganze einen
eigentümlichen Charakter ausprägt. So entstehen zunächst einzelne
Gebiete geschlossener Art, über sie alle hinaus aber drängt es zum
Schaffen eines Gesamtzusammenhanges, und erst ein solches Gesamtwerk
ergibt etwas, das in vollem Sinne Wirklichkeit genannt werden darf.
Wir erkannten in Arbeit und Schaffen bei uns eine Bewegung zur
Hervorbringung einer Wirklichkeit, da erst mit ihrer Erreichung das
Leben eine Festigkeit und einen bestimmten Gehalt gewinnt, ja erst
vollständiges Leben wird. Da eine derartige Wirklichkeit letzthin aber
nur von innen her, als eine Selbstentfaltung des Lebens entstehen kann,
dieses aber eine Welt in sich tragen muß, so erkennen wir wiederum das
Angewiesensein des Menschen auf ein umfassendes Weltgeschehen; ohne ein
Wurzeln darin und ein Schöpfen daraus ist alles menschliche Streben
nach Herstellung einer Wirklichkeit und damit nach Vollendung des
Lebens verloren. Denn nur so hört der Geist auf, bloß über den Wassern
zu schweben, nur so kommt er in volles Schaffen hinein und findet sich
selbst in solchem Schaffen.
Durchgängig erhellte, daß bei dem Aufstieg, der durch unser Leben geht,
nicht einem vorhandenen Stande nur dieses oder jenes hinzugefügt oder
auch jenem eine besondere Richtung gegeben wird, sondern daß die Frage
viel tiefer geht. Sie geht auf das Ganze des Lebens selbst: dieses hat
sich aus einem bloß anhangenden Halb- und Scheinleben zu selbständigem
und echtem Leben erst zu erheben, alle besonderen Aufgaben sind nur
Stücke und Seiten dieser einen Gesamtaufgabe, und es ist ihre Lösung
letzthin an die Entscheidung über diese gebunden. An solchem Erringen
eines wahrhaftigen Lebens, eines Lebens, das bei sich selber ist und
einen Inhalt besitzt, arbeitet die ganze Menschengeschichte, sofern sie
geistige Züge trägt; sie erhält ihren tiefsten Sinn und zugleich ihre
stärkste Kraft daraus, daß in ihr das Leben in unserem Bereich sich
selber sucht; sie verläuft nicht auf gegebener Grundlage, sondern sie
ist in stetem Mühen um einen sicheren Grund begriffen.
So ist das Leben in seiner neuen Erschließung allem Wunsch und Vermögen
des bloßen Menschen zweifellos überlegen. Aber ebenso will die Tatsache
anerkannt und gewürdigt sein, daß dieses Überlegene zugleich innerhalb
des Menschen als eigene Kraft zu wirken und weiterzutreiben vermag,
daß das »Über dem Menschen« zugleich ein »In dem Menschen« werden
kann, eine Tatsache, die um so wunderbarer scheint, je mehr man sich
in sie vertieft. Und doch ist ein solches Innewohnen des neuen Lebens
unentbehrlich, wenn alles, was sich uns beim Menschen an Aufstieg des
Lebens zeigte, echt, kräftig, ja überhaupt möglich sein soll. Umfinge
den Menschen ganz und gar eine begrenzte Sondernatur, und müßte sie
ihm auch alles vermitteln, was vom Gesamtleben an ihn kommt, so könnte
er nie eine innere Gemeinschaft mit diesem gewinnen, so würde alles an
ihn Herangebrachte durch jene besondere Art verzerrt und verbogen, so
könnte das Neue nie bei ihm die Kraft einer Selbsterhaltung gewinnen,
die doch für alles Vordringen unentbehrlich ist. Daß es in Wahrheit
anders steht, daß unser Leben das Übermenschliche zugleich als ein
Innermenschliches haben kann, das erweist sich durch das Ganze des
Lebens bis in seine Grundformen hinein. Durchgängig besteht die
Möglichkeit, daß etwas die volle Kraft und Hingebung des Menschen
gewinne, was den Zwecken und dem gesamten Glück des bloßen Menschen
schnurstracks widerspricht. Dies allein erklärt zum Beispiel die Macht
und rechtfertigt die übliche Schätzung der Pflichtidee. Hier kommt im
Menschen etwas zur Wirkung, was seinem Handeln feste Schranken zieht
und seinen Naturtrieben schroff widerspricht, und zugleich wird es ihm
zu eignem Entscheiden und Wollen, es gibt ihm eben in der Unterordnung
das Bewußtsein vollster Freiheit. Der Pflichtgedanke ist aber nur ein
besonders reiner Ausdruck einer Bewegung, die durch das ganze Leben
geht. Denn wo immer es die Stufe der bloßen Natur überschreitet, da
tritt es unter bindende Normen, die ihm kein fremdes Gebot, sondern
seine eigene Zuwendung auferlegt, die den Menschen in Wahrheit erhöhen,
indem sie ihn herabzusetzen scheinen. So beim Denken, das mit seiner
Versetzung in die Sache und seiner Vertretung ihrer Forderungen das
Wohl des bloßen Menschen ganz wohl schwer schädigen kann. Wie oft
zwang uns das Denken, namentlich auf politischem und sozialem Gebiet,
Folgerungen zu ziehen, die uns höchst unbequem waren, und wie oft
haben die von ihm herausgestellten Widersprüche das Leben aus seinem
Gleichgewichtsstand unsanft aufgescheucht! Das konnte das Denken nur
als ein eigenes Werk und als eigene Triebkraft des Menschen; hinter
der Selbstverneinung, die es vollzog, stand schließlich notwendig
irgendwelche Selbstbejahung.
Am deutlichsten ist die Bewegung des Menschenlebens über den bloßen
Menschen hinaus bei der Religion, das aber sowohl im Gedankengehalt als
in der Gestaltung des Handelns. Die Religion enthält, wie schon der
Begriff des Heiligen zeigt, einen starken Trieb, einen gewissen Bereich
vom gewöhnlichen Leben abzusondern, ihn darüber hinauszuheben und ihm
Verehrung darzubringen; wo sie mit ursprünglicher Kraft die Gemüter
einnahm, da war sie kein bloßes Hinausstrahlen menschlicher Größen und
Wünsche in das All, wie es fälschlich oft dargestellt wird, sondern ein
Kampf gegen die Festlegung des Strebens bei diesen Größen und Gütern.
Xenophanes Wort, daß die Menschen nach ihrem eigenen Bilde das der
Götter gestaltet hätten, stimmt nicht zur Erfahrung der Geschichte; sie
zeigt vielmehr ein Verlangen, etwas Andersartiges, etwas wesentlich
Höheres gegenüber dem Menschen zu erreichen. In früheren Zeiten hat
sich das Streben dabei oft ins Ungeheuerliche verloren und Gestalten
geschaffen, die uns Späteren fratzenhaft scheinen mögen; bleibt aber
nicht auch in einem weiten Abstand, ja Gegensatz zum menschlichen
Dasein, wer bei der Gottheit etwas Reingeistiges, Ewiges, Unendliches
sucht? Daher hat die Religion, sofern sie nicht bloß das Leben
angenehm umsäumt und damit einer sicheren Auflösung entgegengeht,
einen herben und strengen Charakter; das Wort »Niemand wird Gott
sehen und leben« hat einen guten Sinn. Für das Handeln aber bildet
in ihrem Gebiet den Zentralbegriff der des Opfers. Auch hier hat
sich im Fortgang des Lebens die Sache vom Sinnlichen ins Unsinnliche
verschoben, aber nur eine Verflachung und Verflüchtigung kann das
Beharren, ja das Wachstum des Opfergedankens auf der geistigen Stufe
verkennen. Die Religion hat genau so viel Macht über das menschliche
Seelenleben, als sie zu Opfern zu treiben vermag. Aber -- merkwürdig
genug -- bei allem, was sie an Verneinung und Entsagung fordert, haben
die Menschen in ihr die höchste Seligkeit gesucht und auch zu finden
geglaubt; konnten sie das, wenn sie nicht in ihr die letzte Tiefe ihres
eigenen Wesens zu erreichen glaubten?
Dieses Ja und Nein, dieses Stirb und Werde, was alle Verzweigung der
Lebensgebiete durchdringt, faßt sich insofern auch in ein Ganzes
zusammen, als das Kulturleben der Menschheit für jede eindringende
Betrachtung nicht ein fortlaufendes Gewebe bildet, sondern sich
in den Gegensatz einer durch die Zwecke des Menschen beherrschten
Menschenkultur und einer ihr überlegenen, ja entgegengesetzten
Geisteskultur zerlegt. Die Menschenkultur war und ist unablässig
bemüht, die Geisteskultur zu sich herabzuziehen und in ihre Dienste
zu stellen, die Vorkämpfer dieser haben mit jener stets einen harten
Kampf zu bestehen gehabt, sie sind in ihm oft zu Märtyrern geworden
und mußten durchgängig ein einsames Leben führen, aber nicht nur haben
sie die Kraft dazu und eine Freudigkeit darin gefunden, sondern sie
sind es, welche mit ihrer Belebung der Tiefen allein dem Menschenleben
eine Seele erhalten und ihm einen Sinn und Wert verleihen. Streichen
wir sie und was sie vertreten, und das Menschenleben wird ein
verworrenes Chaos, ein vergebliches Mühen, die Naturstufe wesentlich
zu überschreiten. Auch in das Dasein des Einzelnen erstreckt sich
der Gegensatz. Der naturhaften Individualität tritt gegenüber die
Persönlichkeit mit ihrer Selbsttätigkeit; sie kann sich nicht ausbilden
und dem Menschen ein neues Leben erringen, ohne an jener eine scharfe
Kritik zu üben, zu sondern und auszuscheiden, sie findet dabei
mannigfachen Widerstand, den sie ohne Schmerz und Entsagung nicht
überwinden kann. Aber allem solchen Nein hält ein Ja vollauf die Wage,
und unter vielfacher Aufopferung kann sich das Leben doch zu einem
Gewinn gestalten.
Wie haben wir dies alles zu verstehen? Wie kann im Menschen etwas
Wurzel schlagen und die bewegende Kraft seines Lebens werden, was
seiner besonderen Art so schroff widerspricht? Augenscheinlich kommt
an ihn etwas wesentlich Überlegenes und hält ihm neue Ziele vor. Aber
dies Überlegene mit seinen Zielen wird zugleich zum eigenen Leben des
Menschen, es kann ihm etwas, das sein bisheriges Leben entwertet, zu
wahrem Leben werden. Wie anders klärt sich das auf, und wie anders
kann das neue Leben Kraft gewinnen als dadurch, daß das Gesamtleben
mit seiner Tatwelt unmittelbar in den Menschen als eine ursprüngliche
Lebensquelle gesetzt ist, daß schaffendes Leben ihm unmittelbar als
sein eignes eingepflanzt wird. Eine Welt im Menschen aufbauen und von
ihr der ganzen Umwelt den Kampf ansagen läßt sich nur, wenn in ihm
selbst ein Weltleben von Haus aus angelegt ist; das kann aber nur
durch eine Eröffnung, eine Schöpfung des Gesamt- und Urlebens in ihm
geschehen. Daß er ein selbständiger Mittelpunkt, ein geistiges Selbst,
man könnte sagen, eine geistige Energie ist oder doch werden kann, das
besagt offenbar ein Gesetztsein, eine Tat, die nur aus dem Gesamtleben
stammen kann und daher stets an diesem hängt. Das stimmt zu einer
Erfahrung der Gesamtgeschichte geistigen Lebens. Denn diese zeigt,
daß durchgängig den schaffenden Höhen der Menschheit das Gesetztsein
durch eine überlegene Macht und ein Getragenwerden durch sie mit voller
Klarheit gegenwärtig war. So fühlte sich das künstlerische Schaffen
großen Stiles nicht als ein bloßes Erzeugnis individuellen Vermögens,
sondern als Eingebung einer höheren Macht, als eine zu Ehrfurcht und
Dank verpflichtende Gnade. Auch große Denker mußten unter einer inneren
Notwendigkeit stehen, wenn sie die Forderung einer neuen Denkart -- und
sie forderten alle eine neue Denkart, nicht bloß einzelne Veränderungen
-- zuversichtlich allem entgegenstellen konnten, was von altersher
und allen anderen als sichere Wahrheit galt. Auch die Helden der Tat
pflegten sich als Werkzeuge einer höheren, wenn auch geheimnisvollen
Macht zu fühlen; sonst hätten sie schwerlich den moralischen Mut zu
ihrem Handeln gefunden, das so viel Verantwortlichkeit in sich trug.
Daß aber das Überlegene sie mit solcher Gewalt ergreifen und der Kern
wie die treibende Kraft ihres eigenen Lebens werden konnte, das hellt
sich erst auf mit der Anerkennung dessen, daß in ihnen selbst das Ganze
des höheren Lebens als eine ursprüngliche Quelle gesetzt war. So nur
konnte ihnen jenes Höchste das Allernächste und Innerlichste werden,
so nur wurde das Gegründetsein in einer höheren Ordnung mit vollster
Freiheit des Handelns vereinbar, ja eine Grundbedingung dieser, so
nur konnte Meister Eckhart sagen: »Gott ist mir näher als ich mir
selber bin«, und Luther bekennen, daß »nichts Gegenwärtigeres und
Innerlicheres sein kann in allen Kreaturen denn Gott selbst und seine
Gewalt«.
Es erscheint aber das Leben des Menschen mit solcher Anerkennung einer
selbständigen Eröffnung des Gesamtlebens in ihm als ein ungeheurer
Widerspruch. Der Mensch ist seiner Lebensform nach begrenzt, er kann
diese Begrenzung unmöglich überspringen. Aber in dieser begrenzten
Form soll ein unendlicher Gehalt zur Entfaltung kommen. Das muß einmal
das Leben in eine unermüdliche Bewegung versetzen, es läßt es nicht
ruhen und rasten, es treibt über jedes erreichte Ziel immer weiter
zu neuen Zielen. Zugleich aber ruft es ein Streben hervor, durch
Ausbildung einer Gemeinschaft und auch durch ein Zusammenwirken der
Zeiten jene naturgegebene Enge zu überwinden. Das nämlich ist der
tiefste Antrieb zur Ausbildung einer Gesellschaft und einer Geschichte
eigentümlich-menschlicher Art, daß das Individuum hier ein seiner
Besonderheit und seiner Vergänglichkeit überlegenes Leben erstrebt
und damit das dem Einzelnen völlig Unmögliche wenigstens einigermaßen
anzunähern sucht.
Bei allem Aufschwung bleibt aber stets die Gefahr, daß das
Engmenschliche sich einschleiche und mit schillernden, zweideutigen
Formen die Bewegung zu sich zurückziehe. Das geschieht zum Beispiel oft
durch den Begriff der Persönlichkeit und die ihm gezollte Schätzung.
Persönlichkeit gehört zu den Begriffen, bei denen sich alles Mögliche
denken läßt, und bei denen daher leicht gar nichts gedacht, leicht
keine Rechenschaft gegeben wird. In diesem Begriff rinnt heute
Höheres und Niederes vielfach zusammen, man denkt oft dabei an die
Bildung eines geistigen Einzelkreises, der sich möglichst in sich
selbst befestigt und alles Erlebnis auf sich als den beherrschenden
Mittelpunkt und Selbstzweck bezieht. Bei solcher Fassung schützt alle
Weite der Interessen nicht vor einer inneren Absonderung von der großen
Welt, einem selbstischen Sicheinspinnen in einen besonderen Kreis und
schließlich einem verfeinerten Epikureismus. Dem sei die Behauptung und
die Forderung entgegengesetzt, daß das Gesamtleben den Hauptstandort zu
bilden habe, damit das Streben volle Offenheit und Weite behalte; was
an der besonderen Stelle an eigentümlichem Leben entsteht, das ist von
jenem her als seine Individualisierung und Gestaltung zu verstehen. Daß
eine solche eigentümliche Gestaltung des Gesamtlebens an den einzelnen
Stellen möglich ist, und daß sie gewaltige Kraft zu üben vermag, das
zeigen deutlich die großen geschichtlichen Persönlichkeiten, das wird
zur Aufgabe für jedes Einzelleben.
So viel bleibt gewiß, daß das geistige Schaffen beim Menschen durch
jenes Zusammentreffen von unendlichem Gehalt und endlicher Lebensform
nicht nur in rastlose Bewegung versetzt wird, sondern daß es auch
unter einander widerstreitende Richtungen gerät. Einmal zwingt jene
Begrenztheit es nach geschlossenen Gestaltungen zu streben, um
zusammenfassen und übersehen zu können, von der anderen Seite aber
treibt die uns innewohnende Unendlichkeit zur Ablehnung aller Grenzen
und damit in das Gestaltlose, Fließende, die bloße und reine Stimmung
hinein. Daß hier große Lebenswogen gegeneinandergehen, das zeigt
besonders deutlich die Kunst mit ihrem Kampf zwischen klassischem und
romantischem Schaffen, im Grunde aber durchdringt der Gegensatz alle
Weite des Lebens.
So scheinen wir großer Unfertigkeit, ja Unsicherheit ausgeliefert.
Aber wir tun das nur für den ersten Anblick, jede tiefere Erwägung
zeigt, daß inmitten aller Unfertigkeit das Leben einen festen Halt
gewinnt und in sichere Bahnen geleitet wird, auch daß jene Unfertigkeit
selbst eine unvergleichliche Größe bekundet. Jenes neue Leben in uns
kann, so sahen wir, unmöglich vom Menschen selbst hervorgebracht sein;
es als sein Werk verstehen, das heißt es verflachen, verkümmern,
zerstören. Ist es aber vom Gesamtleben in uns gesetzt, so erfahren wir
einmal darin, daß dieses Leben eine dem Gemenge der menschlichen Welt
überlegene Wirklichkeit hat, wir erfahren aber zugleich, daß es bei
dieser Überlegenheit sich uns mitteilt, nicht in einzelnen Wirkungen
oder Stücken, sondern mit seiner ganzen Unendlichkeit; gerade daß das
in so schroffem Gegensatz zur eigenen Lage und zum eigenen Wollen
steht, bezeugt, daß sich damit eine Uroffenbarung in uns vollzieht,
ein neues Leben uns mitgeteilt, ein hohes Ziel eingeprägt wird. Es
ist nicht eigene Kraft, es ist verliehene Kraft, woraus wir streben
und wirken. Mag dabei alle nähere Ausführung noch so unsicher und
fließend bleiben, wir erkennen in jener Schöpfung eines neuen Lebens
eine Grundtatsache, die uns allem Zweifel enthebt und zugleich das
sichere Bewußtsein einer Bedeutung unseres Lebens gewährt. Derartige
Umwälzungen und Erneuerungen liegen über aller bloßen Einbildung. Auch
gewinnen wir hier die Gewißheit, nicht bloß ein Stück einer gegebenen
Welt, ein Stiftchen eines seelenlosen Mechanismus zu sein, sondern
jenes neue Leben mit seiner neuen Welt verlangt unsere Ergreifung und
Aneignung, es versichert uns damit einer Freiheit. So gewiß Freiheit
ein Unding, solange wir nur ein Stück einer natürlichen Ordnung bilden,
sie wird zur unerläßlichen Forderung und felsenfesten Gewißheit,
sofern ein Zusammentreffen und ein Zusammenstoß zweier Welten in
unserem Lebensbereiche ersichtlich wird, in dem uns eine Entscheidung
auferlegt ist. Mit der Sicherheit und der Freiheit gewinnt unser
Leben aber zugleich ein hohes Ziel und eine unvergleichliche Größe.
Denn nun gilt es, an unserer Stelle das Gesamtleben auszubilden und
weiterzuführen, wir werden Mitarbeiter an der Weltbewegung, an einem
Aufstieg des Lebens, und eben darin finden wir zugleich ein echtes
Selbst. Die Tiefen des Lebens eröffnen sich uns damit zu eigenem
Besitz, das Ringen nach Aneignung und Förderung seiner Unendlichkeit
kann uns eine Freudigkeit bereiten, die aller bloßen Lust weitaus
überlegen ist. Gewinnt damit unser Leben in seinem Kern ein helles
Licht, so kann es ganz wohl alle Dunkelheit der Umgebung ertragen; auch
kann dann kein Zweifel darüber bestehen, daß es so verstanden einen
vollen Sinn und einen hohen Wert besitzt.

Hauptzüge des neuen Lebens.
Die Gestaltung des Lebens, die sich für uns ergab, in alle Breite zu
verfolgen, kann nicht unsere Aufgabe sein; wohl aber scheint es zur
Erreichung eines deutlicheren Bildes nötig, einige seiner Hauptzüge
herauszuheben. Zunächst zeigte sich, daß das Leben zum Selbständigsein
nicht gelangen konnte ohne eine Aufrüttelung aus dem vorgefundenen
Gemenge, ohne einen Bruch mit der nächsten Lage und das Erringen
eines neuen Standorts. Es zeigte sich, daß es nicht nur einzelne
Aufgaben, sondern eine Aufgabe auch als Ganzes enthält, es ist nicht
nur hier und da zu verbessern, es ist im Ganzen umzuwandeln. Daher
paßt für sein Grundgefüge nicht der Begriff der Entwicklung als eines
sicheren, ja notwendigen Hervorgehens des Höheren aus dem Niederen,
hier verwandt führt er unvermeidlich unter Naturbegriffe zurück. Jener
Abbruch fordert eine Entscheidung und Tat, und zwar eine Tat, die,
wenn auch bei besonderen Temperamenten als eine plötzliche Erleuchtung
und Bekehrung erscheinend, sich nicht in den Augenblick erschöpft,
sondern fortdauernder Art sein muß; denn das Neue ist dem Alten
gegenüber immerfort aufrechtzuhalten, immerfort durchzusetzen. Mit
solcher Tathaltung, wie man sagen könnte, erhält das ganze Leben einen
Charakter ethischer Art, das Ethische entwächst dabei der Einschränkung
auf ein besonderes Gebiet und dehnt seine erhöhende Kraft über das
gesamte Leben aus, es betrifft dann keineswegs bloß das Verhältnis von
Mensch zu Mensch und das dem zugewandte praktische Handeln, sondern
durch alle Verzweigung des Lebens, so auch durch das Erkennen und das
künstlerische Schaffen geht ein völliger Gegensatz, indem entweder
vom Standort und von den Zwecken des bloßen Menschen aus gehandelt
wird, oder aber darin selbständiges Leben mit seiner neuen Welt zur
Entfaltung strebt. Demnach liegt die ethische Aufgabe nicht in einer
Reihe mit anderen, sondern als eine Wendung des Ganzen geht sie allen
anderen voran und macht ihr Gelingen erst möglich.
So gefaßt kann die ethische Betätigung keine Knechtung und
Herabdrückung, sondern nur eine Befreiung und Erhöhung des Lebens
bedeuten. Denn bei ihr steht in Frage, daß das selbständige Leben
voll zu eigenem werde; dies aber kann nur dadurch geschehen, daß das
Gesamtleben an dieser Stelle eine selbständige Wurzel schlägt und
auch sie zur Bildung eines Selbst, zu einer Selbsterzeugung befähigt.
Diese Erzeugung eines neuen, eines geistigen Selbst ist der Punkt, an
dem das Gelingen des Lebens hängt; denn kein Streben gewinnt rechte
Kraft, das nicht als Ausdruck eines Selbst und zur Erhaltung dieses
Selbst geführt wird; ein Pseudoselbst, einen Selbstersatz bildet im
nächsten Lebensstande das natürliche Ich, das mit unheimlicher Macht
auch das Kulturleben ergreift und entstellt; seine Macht ist nur
dadurch zu erschüttern, daß dem Pseudoselbst ein echtes, ein geistiges
Selbst entgegentritt und der Bewegung die elementare Kraft und Glut
einer Selbstbehauptung verleiht. Das ist die Hauptwaffe gegen das
Scheinwesen und die Stumpfheit der Durchschnittskultur, das allein
macht ein kraftvolles Leben ohne allen Egoismus möglich. Wenn demnach
das Entstehen eines selbständigen Lebenszentrums die Hauptsache beim
Aufstieg des neuen Lebens bildet, so erscheint dabei das Merkwürdige,
ja Wunderbare, daß eben das, was gegenüber der Welt und auch gegenüber
der ihrer Verkettung unterliegenden Seelenlage unser Allereigenstes
und Ursprünglichstes ist und uns allein auf uns selber stellt, der
höheren Ordnung gegenüber sich als ein Geschaffenes und uns Verliehenes
darstellt. So hatte Luther in seinem Gedankenkreise völlig Recht, wenn
er das, was ihm als das Innerlichste und Wesentlichste am Menschen
galt, den Glauben, in keiner Weise als ein Werk des Menschen, sondern
eine göttliche Gabe und Gnade verstand: »das Übrige wirkt Gott mit uns
und durch uns, dies allein wirkt er in uns und ohne uns.« Nur eine
flachere Fassung des Glaubens kann das Leben aus Glauben und Werken
zusammensetzen. Wir brauchen jenen Grundgedanken Luthers nur weiter
zu fassen, um ihn schlechterdings unentbehrlich zu finden. Nur er
gestattet, mit tiefer Bescheidenheit und Demut im Grunde des Lebens
eine volle Selbständigkeit, Unerschrockenheit, ja, wenn es sein muß,
Trotz gegen alles Menschengetriebe zu verbinden.
Zur Vertiefung des Lebens, so sahen wir, muß sich notwendig eine
Gestaltung gesellen: das aufsteigende Leben muß, um volles Leben zu
werden, sich einen festen Zusammenhang, eine eigene Wirklichkeit
bilden. So gilt es durchgängig, vom neuen Leben aus einen
eigentümlichen Kreis zu bereiten unter Führung des Schaffens, unter
Ausführung durch die Arbeit. Sonst bleibt die Umwandlung bei aller
seelischen Wärme leicht ein bloßer Aufschwung, der keine genügende
Kraft gegenüber der Starre und Sinnlosigkeit des gewöhnlichen Lebens
aufbieten kann. So bleibt namentlich auf religiösem Gebiet viel
ehrliche Begeisterung ohne rechte Frucht, weil sie nicht den Weg zur
werktätigen Arbeit fand. Auch diese aber muß sich durch die Verbindung
mit dem geistigen Selbst erhöhen. Denn erst diese läßt sie einen
inneren Zusammenhang und eine durchgehende Beseelung gewinnen und sich
damit deutlich von aller bloßen Nutzung der Kräfte unterscheiden, der
ein geistiger Hintergrund fehlt.
Wie aber die Einzelstelle ihre Kraft letzthin aus dem Ganzen zu
empfangen hat, so muß auch der Fortgang ihres Lebens vom Gesamtleben
umfangen bleiben. Das um so mehr, als das Gesamtleben kein leeres Gefäß
ist, sondern als schaffendes bestimmte Richtungen in sich trägt und
Forderungen stellt, auch besondere Erfahrungen in Auseinandersetzung
mit der menschlichen Lage macht; diese Forderungen und Erfahrungen hat
die Einzelstelle erst herauszuarbeiten und bei sich zur Wirkung zu
bringen; ihr Geschick wie ihre Aufgabe klärt sich ihr nur vom Ganzen
her auf. Indem aber ihr Ziel und Los auf das des Ganzen aufgetragen
wird, gewinnt ihr Leben unmittelbaren Anteil an Weltgeschehnissen und
damit eine Größe; wird jene Verbindung unterbrochen und der Einzelpunkt
lediglich auf sich selbst und sein Verhältnis zur Umgebung gestellt,
so muß das Leben rasch in ein Sinken kommen; denn dann bleibt es
an den kleinmenschlichen Kreis gebannt, und aller Radikalismus,
mag er sich noch so wild geberden, der innerhalb dessen entstehen
mag, befreit nicht von jener inneren Bindung und kleinmenschlichem
Spießbürgertum. Es gibt keine Freiheit und keine Größe ohne ein
Durchdringen zu den ursprünglichen Quellen des Lebens, wie es nur durch
ein selbständiges Aneignen des Gesamtlebens möglich wird. Demgemäß
haben auch die Wirklichkeiten der besonderen Kreise innerhalb der
Bewegung des Gesamtlebens zur Wirklichkeit zu verbleiben, darin ihre
Aufhellung und auch ihr Maß zu finden. Darin allein können sie sich
auch untereinander zu einem Lebensgewebe verbinden. So stellt sich
das Leben als eine unbegrenzte Fülle von Teilwirklichkeiten innerhalb
einer Gesamtwirklichkeit dar; die Beziehung der Einzelenergie zur
Gesamtenergie hat dabei als begründend allen Beziehungen zu den
einzelnen voranzugehen, da diese eine innere Erhöhung, ja Umwandlung
erst von jener zu empfangen haben. Es hatte daher guten Grund, wenn
nicht nur große Religionen, sondern auch philosophische Gedankenwelten
darauf bestanden, daß alle Beziehungen von Mensch zu Mensch, alle
gegenseitige Liebe auf das Verhältnis zu Gott und die in ihm erwiesene
göttliche Liebe gegründet und dadurch veredelt werde. Nur eine
solche Begründung ergibt eine innere Gemeinschaft des Lebens und
ein gegenseitiges seelisches Verständnis, während der dem bloßen
Nebeneinander angehörige Mensch einer seelischen Vereinsamung nicht
entgehen kann.
Wie aber in der Kraft, so müssen auch in ihrer Arbeit die einzelnen
Lebensgebiete vom Ganzen umfangen und von ihm gerichtet bleiben,
um nicht den Zusammenhang mit den ursprünglichen Lebensquellen
zu verlieren. Die verschiedenen Lebensgebiete bedürfen das in
verschiedenem Maße, im besonderen notwendig ist die Wahrung des
Zusammenhanges den Gebieten, die als Träger geistigen Schaffens
nur dadurch eine eigentümliche Aufgabe und eine sichere Stellung
gewinnen wie die Religion, die Kunst und auch die Philosophie. Sie
alle sinken und lassen den geistigen Gehalt zugunsten technischer
Leistung verkümmern, wenn sie jenen Zusammenhang lockern oder wohl
gar verschmähen. Wie wollte zum Beispiel die Philosophie mehr werden
als eine Zusammenstellung der Einzelwissenschaften oder eine nicht
sehr fruchtbare Fachwissenschaft neben anderen, wenn sie nicht ihre
Hauptaufgabe darin fände, die Forderungen, welche der Aufstieg des
Lebens zur Selbständigkeit enthält, deutlich herauszuarbeiten und sie
gegen den Widerspruch der nächsten Welt zu vertreten? Solche Fassung
macht die Einzelgebiete keineswegs zu bloßen Anwendungen einer schon
gesicherten und abgeschlossenen Wahrheit, ihre besonderen Erfahrungen
und Leistungen können auch das Gesamtleben fördern und weiterführen,
aber das nur unter Versetzung auf seinen Boden.
Diese Forderung eines Zusammenhanges der Einzelgebiete mit dem
Ganzen der Lebensentfaltung gibt der weltgeschichtlichen Bewegung
der Menschheit einen hohen Wert auch für das Lebensproblem, sie
drängt zur Ausbildung einer weiteren Gegenwart gegenüber der des
bloßen Augenblicks. Denn den geistigen Kern jener Bewegung bildet das
Sichselbersuchen und Entfalten des Lebens; darin sind eigentümliche
Linien vorgezeichnet, Eröffnungen erfolgt und Erfahrungen gemacht,
welche sich von der Zufälligkeit der Zeitlagen abzulösen vermögen,
alle weitere Bewegung begleiten und Forderungen an sie stellen; so
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  • Der Sinn und Wert des Lebens - 11
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