Der Sinn und Wert des Lebens - 02

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Der Verlauf des neunzehnten Jahrhunderts hat diese Angriffe mächtig
anschwellen lassen. Zunächst wirkt die Erschütterung der Religion auch
zu einer Schwächung des weltlichen Idealismus. Denn seine Überzeugung
von einer Tiefe des Alls und von dem Walten eines unsichtbaren Ganzen
hat die Menschheit meist nur im Anschluß an eine religiöse Überzeugung
gewonnen, nur eine solche machte den Bruch mit der sichtbaren Welt
auch dem Einzelnen zur zwingenden Notwendigkeit, und die Veredlung,
welche jener Idealismus an der Welt vollzieht, ist kaum denkbar ohne
das verklärende Licht, das die Überwelt der Religion auf diese wirft;
je mehr die Zurückdrängung der Religion dieses Licht verblassen läßt,
desto mehr verliert auch jener seine leitende Stellung im Leben,
wird er aus dessen Mittelpunkte an die Außenseite gedrängt. Sodann
aber hat die neueste Zeit der sichtbaren Welt eine Selbständigkeit
gegeben, welche sie nie zuvor für uns hatte; immer energischer hat
die wissenschaftliche Arbeit aus ihr alles Seelenleben vertrieben,
dafür aber ein neues Reich reiner Tatsächlichkeit eröffnet und aus ihm
eine überströmende Fülle neuer Aufgaben abgeleitet, deren Lösung das
menschliche Wohlsein aufs erheblichste zu steigern verspricht. Zugleich
hat die Forschung die Besonderheit und Gebundenheit des menschlichen
Lebens und Strebens aufs stärkste hervorgekehrt, es scheint ihr in enge
Schranken gebannt und dadurch gänzlich verhindert, jene Welt starrer
Tatsächlichkeit sich innerlich anzueignen und ihre Unermeßlichkeit als
ein Ganzes zu erleben; sie wird bei aller äußeren Annäherung unserer
Seele immer fremder. Kann ein solcher Gedankengang im Menschen den
Vollender des Weltalls sehen? Aber mehr als alles das widersprechen
dem weltlichen Idealismus im modernen Leben die Erfahrungen innerhalb
der Menschheit selbst. Es erschien hier so viel wilde Leidenschaft
und unbegrenzte Selbstsucht, so viel Kleinheit der Gesinnung, so viel
moralische Unlauterkeit, so viel Mangel an geistiger Größe und an Kraft
der Persönlichkeit, es stellte sich das menschliche Dasein so sehr
als ein wirres Chaos dar, daß alle Hoffnung verflog, in ihm ein Reich
der Vernunft entdecken oder es in ein solches verwandeln zu können.
Wie vermöchte sich aber bei solcher Lage geistiges Schaffen und edle
Bildung als der Kern des Lebens zu behaupten? Auch der gegenwärtige
Krieg muß den Eindruck ihrer Ohnmacht über die menschliche Seele
verstärken. Wäre eine gemeinsame Vernunft die Grundkraft menschlichen
Lebens, so müßte sie die Menschheit zusammenhalten und einen etwaigen
Zwiespalt rasch überwinden, sie müßte allem Rohen und Gemeinen
siegreich widerstehen, das an einzelnen Stellen erscheinen möchte.
Deutlich genug aber sehen wir, daß das keineswegs geschieht. Was hilft
uns dann aber jene Geisteskultur mit ihrer gepriesenen Bildung? Ist
sie nicht bloß ein gefälliger Schein, mit dem sich das menschliche
Leben umkleidet, um seine nackte Gestalt zu verhüllen? Und lohnt es
sich dann, so viel Muße und Arbeit an diesen Schein zu verwenden? So
ist es kaum zu verhüten, daß viel Geringschätzung dieses weltlichen
Idealismus aufkommt und um sich greift. Und doch haben wir uns zu
hüten, solcher Stimmung nachzugeben und die Güter geringzuschätzen, die
er mit Behauptung und Leistung vertritt. Denn sie berühren keineswegs
die bloße Oberfläche des Lebens, sie wirken weit über die Stimmung und
Neigung der Individuen hinaus zu seiner Durchbildung von innen her,
sie haben eine Klärung, Vertiefung, Veredlung an ihm vollzogen, deren
Preisgebung uns in den Stand der Barbarei zurückschleudern würde;
mag einer besonderen Zeit unter besonderen Geschicken sich ihr Bild
verzerren, sie hören darum nicht auf, im Grunde des Lebens tätig zu
sein und mehr aus dem Menschen zu machen, als sein eigenes Bewußtsein
ihm zeigt. Das Reich der geistigen Güter verbleibt, auch wenn sich dem
Menschen der Zugang zu ihm durch manche Hemmung zeitweilig versperrt.
Immerhin verbleibt solche Hemmung und will vollauf gewürdigt sein;
die führende Stellung des weltlichen Idealismus wird jedenfalls durch
die Erfahrungen der Gegenwart schwer erschüttert. Und zugleich machen
sie zweifelhaft, wieviel wir an ihm überhaupt besitzen, und wo sein
Recht innerhalb eines weiteren Lebensganzen liegt. So verwandelt
sich uns auch hier in eine unsichere Frage, was früheren Zeiten eine
zuversichtliche Antwort gab.
* * * * *
Demnach ist die Lebensordnung des weltlichen Idealismus heute
nicht weniger erschüttert als die der Religion, wir verspüren die
Erschütterung nur nicht so stark, weil sie weniger durch einen direkten
Angriff als durch ein allmähliches Verblassen und Ermatten erfolgte;
wie der weltliche Idealismus nicht die Kühnheit der Religion besitzt,
so entzündet der Streit um ihn auch nicht so gewaltige Leidenschaft.
Aber hier wie da kommen wir zu demselben Endergebnis: Lebensmächte,
welche Jahrtausende lang die Menschheit beherrschten, ihrem Leben Ziele
gaben und ihm dadurch einen Sinn verliehen, haben eine feste Wurzel
im Bewußtsein des heutigen Geschlechts verloren und erhalten sich mehr
durch träge Gewohnheit als durch eigene Erfahrung. Nur die Verstrickung
in die Geschäfte des Alltags und das Überwiegen von Einzelfragen läßt
uns übersehen, wie Ungeheures bei uns vorgeht. Oder ist es nicht etwas
Ungeheures, wenn Ziele, an die Jahrtausende ihre beste Kraft gesetzt
haben, und im Glauben an die sie lebten und starben, nunmehr eine bloße
Einbildung scheinen und damit der bisherige Hauptzug des Strebens als
ein leerer Wahn befunden wird? Ist es nicht etwas Ungeheures, wenn
die unsichtbare Welt, früher als eine sichere Zuflucht ergriffen und
als ein Quell der Liebe und Wahrheit gepriesen, nunmehr sich völlig
auflösen muß? Wir müßten die Umwälzung anerkennen, wenn das Gebot
der Wahrheit sie forderte; aber nur flache Denkart kann leicht und
vergnüglich alles hinter sich werfen, was bisher als heilig galt. Zum
mindesten dürfte sie nicht übersehen, daß das Durchschauen eines so
langen Irregehens der ganzen Menschheit allen Glauben an ihr Vermögen
zur Wahrheit aufs tiefste erschüttern müßte.


Die neueren Lebensordnungen.

Die gemeinsame Grundlage.
So schwer wir die Erschütterung der Gegenwart durch das Verblassen
der unsichtbaren Welt nehmen mögen, es sei nicht vergessen, daß zu
ihrem Ersatz ein vielverheißender Aufbau im Werke ist, und daß einem
neuen Leben die sichtbare Welt unvergleichlich mehr geworden ist, als
sie früheren Zeiten war. Diese Welt hat sich nicht nur in der Natur
um uns wie in der eigenen Geschichte der Menschheit der Erkenntnis
in ungeahnter Weise erschlossen, sie hat auch dem menschlichen Wirken
immer mehr Angriffspunkte gezeigt; der Befund der Dinge, sonst wie
ein unentrinnbares Schicksal hingenommen, zeigt sich jetzt sehr wohl
einer Veränderung und Verbesserung fähig: Elend und Roheit werden
angegriffen, das Leben durchgängig in rascheren Fluß versetzt und zu
mehr Fülle und Freude gebracht. Den Kern des neuen Lebens bildet aber
die Arbeit, das heißt die Tätigkeit, welche den Gegenstand ergreift
und ihn für den Menschen bereitet; was von altersher davon vorlag,
das hat die Neuzeit erheblich dadurch gesteigert, daß ihr die Arbeit
weit mehr über die Kräfte und Zwecke der Individuen hinauswächst, ja
durch Bildung eigener Zusammenhänge eine Selbständigkeit gegen den
Menschen erlangt. So zeigen es Wissenschaft und Technik, so zeigen es
auch politisches und soziales Wirken; sie alle machen den Menschen
zum Gliede eines Arbeitsganzen, dessen Forderungen er unbedingt
nachkommen muß. In solcher Unterordnung der Einzelnen gewinnt das Ganze
eine gewaltige Macht, es faßt das Nebeneinander der Kräfte und das
Nacheinander der Zeiten zu gemeinsamem Wirken zusammen, das in sicherem
Zuge vordringt und keine Grenze als endgültig anerkennt. So gewinnt
die Menschheit einen frischen Mut und ein stolzes Selbstvertrauen,
sie entwickelt in ihrem eigenen Bereich ein mannhaftes, klares,
zielbewußtes Leben, das auch zu entsagen vermag, aber durch das
Entsagen keineswegs niedergedrückt wird. Denn für alles, worauf zu
verzichten ist, scheint der Gewinn an Sicherheit und an Wahrhaftigkeit
vollen Ersatz zu bieten. Unerschütterlich fest scheint der Boden, der
hier die Arbeit trägt, alle Einbildungen und Vorurteile, die gleich
trübem Nebel die Dinge umhüllten, sind gewichen und machen hellem
Sonnenlicht Platz, die Tätigkeit findet nach allen Seiten ein offenes
und unbegrenztes Feld; so scheint erst hier das Leben sich selbst und
seine Kraft zu finden, von einem Schlummerstand in volle Wachheit
überzugehen. Alles Wirken hat dabei den Reiz eines frischen Sehens und
selbständigen Entdeckens. Dürfen wir uns wundern, daß dieses Leben eine
starke Anziehungskraft ausübt, und daß ihm das Goethewort zugute kam.
»Er stehe fest und sehe hier sich um,
Dem Tüchtigen ist diese Welt nicht stumm«?
Die Wendung vom allgemeinen Gedanken zur näheren Durchführung ließ
jedoch ersehen, daß das hier gebotene Leben keineswegs einfach ist.
In zwei Bereichen liegt uns das Dasein vor: in der Natur und im
Menschheitsleben. Jeder dieser Bereiche läßt sich zur Hauptsache
machen, jeder kann von sich aus eine allumfassende Lebensordnung
zu bilden suchen. So entspringen aus dem gemeinsamen Grunde zwei
verschiedene Lebensströme und wollen gesondert behandelt sein. Es sei
zunächst als der einfachere derjenige behandelt, dem das Verhältnis des
Menschen zur Natur als das Grundverhältnis seines Lebens gilt.

Die Lebensordnung des Naturalismus.
Eine Lebensordnung des Naturalismus konnte nicht entstehen, bevor
das Bild der Natur alles Fremdartige ausgeschieden und seine
Eigentümlichkeit deutlich ausgeprägt hatte; das aber ist zuerst seit
Beginn der Neuzeit geschehen. In Abweisung aller religiösen und
spekulativen Deutung wird hier zum Ziel der Forschung die Erfassung
der Natur in ihrer reinen und bloßen Tatsächlichkeit; hier entsagt
jene aller inneren Eigenschaft und allem seelenartigen Streben und
verwandelt sich in ein Reich unbeseelter Massen und Bewegungen, das
sich in festen Zusammenhängen und unwandelbaren Ordnungen darstellt,
ohne dem Menschen eine besondere Stellung einzuräumen und ihn zum
Gegenstand besonderer Sorge zu machen. Von Anfang an bestand viel
Neigung, dies Reich der Natur für das Ganze der Wirklichkeit auszugeben
und zugleich alle Wissenschaft nach Art der Naturwissenschaft zu
gestalten; schon Bacon (1561 bis 1626) nannte die Naturwissenschaft
»die große Mutter und die Wurzel alles Erkennens«, diese Neigung hat
immer mehr Boden gewonnen und Naturbegriffe immer tiefer in alle
Gebiete eindringen lassen, so daß heute »naturwissenschaftliche
Weltanschauung« vielen als Weltanschauung überhaupt gilt. Um sich so
zum All zu erweitern, mußte die Natur auch den Menschen an sich zu
ziehen und ganz und gar in sich aufzunehmen suchen. Das konnte so lange
nicht gelingen, als eine unübersteigbare Kluft Ursprung und Wesen
des Menschen von der Natur zu trennen schien; aber der Anerkennung
einer solchen Kluft hat die Naturwissenschaft immer entschiedener
widersprochen, sie hat immer mehr verbindende Fäden aufgewiesen, bis
die moderne Entwicklungslehre eine völlige Verkettung herzustellen
schien.
Gehört aber der Mensch ganz und gar zur Natur, so muß auch sein Leben
ganz dem der Natur entsprechen, so hat alles auszuscheiden, was im
überkommenen Befunde dem widerspricht. Die Natur aber erscheint hier
als ein Nebeneinander einzelner Elemente, die in vielfachste Beziehung
treten und auch manche Verwebung bilden, deren Verbindung aber nie
mehr als eine Anhäufung und Zusammensetzung ist; es gibt hier keinen
inneren Zusammenhang und daher auch kein Wirken aus einem Ganzen, auch
kein Selbständigwerden eines Inneren. Wie die Natur in reiner und
bloßer Tatsächlichkeit verläuft, so kann auch das Menschenleben, das
zu ihr gehört, keine die natürliche Selbsterhaltung überschreitende
Wertschätzung, kein Gut und Böse anerkennen; nur die Entfaltung der
Kraft und die sie begleitende Lust kann dem Leben einen Antrieb geben,
und, soweit hier überhaupt von Zielen die Rede sein kann, haben sie in
die Kraftsteigerung einzumünden.
Die Übertragung dieser Maße auf das menschliche Leben erwies ein gutes
Recht dadurch, daß sie Tatsachen zur vollen Anerkennung brachte und
untereinander zusammenschloß, die früher vereinzelt geblieben und als
Nebensachen behandelt waren. So die Gebundenheit aller seelischen
Betätigung an körperliche Bedingungen, so die elementare Macht der
Naturtriebe und der natürlichen Selbsterhaltung, so die überwiegende
Macht der materiellen Faktoren im Menschenleben, so das aufrüttelnde
und vorwärtstreibende Wirken des Kampfes ums Dasein, so die weite
Ausdehnung der blinden und sinnlosen Tatsächlichkeit auch im Bereich
des Menschen. Alles zusammen ergibt einen eigentümlichen Lebenstypus,
der sich auch der geistigen Arbeit, die er an sich zieht, mitteilen muß.
Da diese Lebensordnung dem geschichtlich überkommenen Stande schroff
widerspricht, so muß sie mit einer entschiedenen Verneinung beginnen,
mit einer Verneinung alles dessen, was die Natur überschreitet und
damit die Wirklichkeit auseinanderzureißen scheint. So geschah es nach
ihrer Überzeugung in Religion und Metaphysik, gemeinsam war ihnen
der Fehler, das menschliche Subjekt von seiner Umgebung abzulösen
und seiner ungezügelten Phantasie eigene Wege zu gestatten. Dadurch
entstanden erdichtete Bildungen, die, so meint man, einen vielfachen
Druck auf den Menschen üben und mit ihren Satzungen und Vorurteilen
das Leben verengen und entstellen. Es scheint ein großer Gewinn an
Freiheit, wenn das aus dem Leben verschwindet. Zugleich ein Gewinn an
Einheit, indem die verhängnisvolle Spaltung aufhört, die aus jener
Überhebung des Subjekts hervorging. Im eigenen Aufbau aber verheißt
dies Leben eine gewaltige Steigerung der Kraft, der anschaulichen
Nähe, ja der Wahrhaftigkeit. Denn nur in Berührung mit dem Gegenstande
draußen scheint das menschliche Vermögen sich vollauf zu entfalten,
ja erst Leben in vollem Sinne zu werden. In endloser Weite und Fülle
breitet sich dabei vor dem Menschen das Reich der Arbeit aus, und was
in ihr das Erkennen erringt, das findet hier, wo sich der Tätigkeit
deutliche Angriffspunkte bieten, ohne viel Mühe den Weg zum Handeln;
wie aus der modernen Naturwissenschaft unmittelbar die moderne
Technik entsprang, so scheint diese Denkweise überhaupt der gegebene
Weg, die menschlichen Verhältnisse zu verbessern und den Gesamtstand
menschlichen Wohlseins zu heben.
Auch die einzelnen Gebiete bringt diese Lebensordnung in eine starke
Bewegung nach eigentümlicher Richtung. Überall ein ausgeprägter
Realismus, der von erträumten Höhen abruft, alle Ziele, der Kunst wie
der Wissenschaft, der Erziehung wie der Moral, des politischen wie
des sozialen Lebens, innerhalb der sinnlichen Erfahrung findet und
ihren Gehalt damit eigentümlich gestaltet. Durchgängig gilt es, die
sinnlichen und materiellen Faktoren als die Wurzeln aller Kraft voll
zur Wirkung zu bringen, das Leben dadurch zu sättigen, es in frischen
Fluß und sicheren Fortgang zu bringen. So inmitten alles Realismus
ein Leben mit so viel Spannung, Leistung und Hoffnung, daß es auf die
weltüberfliegenden Ausblicke früherer Zeiten ohne Schmerz scheint
verzichten zu können. Ein neuer Tag scheint hier anzubrechen, dessen
helles Licht alle frühere Zeit zu einer trüben Dämmerung herabsetzt.
Dieser Lebensstrom hat viel zu viel Kräfte in Bewegung gesetzt, viel
zu viel Leistungen hervorgebracht, ja den Gesamtstand des menschlichen
Daseins viel zu sehr umgewandelt, als daß sich seine Macht verkennen
und seine Bedeutung angreifen ließe. Was in Frage kommen kann, ist
lediglich dieses, ob er das ganze Leben zu erfüllen und seinen
Gesamtstand zu beherrschen vermöge. Denn dagegen erheben sie freilich
schwere Bedenken, sie gehen von einem Punkte aus, der bei flüchtigem
Anblick nebensächlich scheinen mag, der sich aber bei näherer Prüfung
als so bedeutend herausstellt, daß jener ganze Lebensstrom mit all
seiner Tatsächlichkeit dadurch an die zweite Stelle gedrängt wird
und sich damit bescheiden muß, ein Stück eines weiteren Lebens zu
bilden. Jener behandelt den Menschen als ein bloßes Stück der Natur
und verlegt in sie sein ganzes Leben. Aber woher kennen wir die Natur,
wie wissen wir überhaupt von ihr? Wir kennen sie nur als ein Erlebnis
der menschlichen Seele, wir kennen sie nur in ihrer Wirkung auf die
Seele, und nur von der Seele aus wird das Bild entworfen, mit dem
sie uns vor Augen steht. Diesen Aufbau der Natur von der Seele her
hat eben die neuere Philosophie mit besonderer Klarheit aufgewiesen,
sie hat gezeigt, daß sowohl was in ihm an festen Elementen als an
Zusammenhängen vorliegt, uns nicht von außen zugeführt, sondern von
der Seele aufgebracht und von ihr in das auf uns eindringende Chaos
zu seiner Bewältigung hineingelegt wird; die Seele ist es, welche die
Natur erst im wissenschaftlichen Sinne entdeckt und aus der Flut der
Eindrücke herausarbeitet; dabei ist völlig klar, daß das nicht von
der sinnlichen Empfindung aus, sondern aus der Arbeit des Denkens
geschieht; das kann verkennen nur, wer wissenschaftliche und naive
Stellung des Menschen zur Umgebung in eins zusammenwirft. Mit der
Anerkennung des Unterschiedes tritt vor die sinnliche Empfindung die
Denkarbeit, also eine geistige Tätigkeit, und es zeigt sich zugleich,
daß im Bilde der Natur die Eindrücke auf ein Gerüst von Gedankengrößen,
von Begriffen aufgetragen und nur dadurch in ein Ganzes verwandelt
worden sind. In Wahrheit ist die Welt des Forschers mit ihrer Umsetzung
der Natur in Kräfte, Beziehungen, Gesetze etwas wesentlich anderes als
das, was die Sinne uns übermitteln. Diese Überlegenheit des geistigen
Wirkens bekundet aber eine Selbständigkeit des Seelenlebens gegen die
Natur und läßt uns zugleich verstehen, daß es seelische Antriebe sind,
welche über den Zwang der Selbsterhaltung hinaus der Befassung mit der
Natur einen Wert verleihen. Der Anhänger des Naturalismus legt, wenn
auch unwillkürlich, selbst dafür Zeugnis ab. Denn was ihn bewegt, ist
nicht bloß der Trieb, seine Kraft in Bewegung zu setzen, sondern ein
Streben nach Befreiung von irreleitendem Wahn, nach mehr Einheit und
nach mehr Wahrhaftigkeit der Weltanschauung; sind aber solche Ziele von
der bloßen Natur aus irgendwie zu begreifen, bekunden sie nicht ein
aller Natur überlegenes Leben und Streben? Kurz, es hat der Naturalist,
indem er die ganze Weite der Welt überdachte, leider etwas vergessen,
was im Grunde das Allernächste ist, er hat sich selbst, die eigene
Seele, vergessen. Aber die Seele ist nun einmal da und läßt sich nicht
wegdisputieren; selbst wer sie leugnet, tut es aus einem Drange nach
Wahrheit, damit aber aus einem Antriebe seelischer Art. Und die Seele
ist nicht bloß da, sondern sie zeigt auch eine eigentümliche Art und
stellt aus ihr Forderungen, denen die naturalistische Lebensordnung
nicht zu entsprechen vermag. Das seelische Leben ist kein bloßes
Nebeneinander, es umfaßt alle Mannigfaltigkeit und bezieht sie auf
einen Mittelpunkt, es geht nicht in die Beziehungen nach außen hin
auf, sondern es bildet sich einen eigenen Kreis und gewinnt damit ein
Beisichselbstsein; es erschöpft sich nicht in bloße Tatsächlichkeit,
sondern es entwickelt Maße und Ziele aus sich selbst heraus und prüft
danach alles, was bei ihm vorgeht, kurz es ist ein wesentlich anderes
Leben, was hier entsteht, als das der sinnlichen Natur. Auch ist
dieses Leben nicht ohne ein gemeinsames Werk großen Stiles geblieben,
welches das menschliche Dasein wesentlich umgewandelt hat, in nichts
anderem liegt dies vor als in der Hervorbringung eines Kulturstandes,
womit der Mensch sich über die Natur hinaushob und ihr gegenüber ein
neues Reich mit eigentümlichen Größen und Gütern erzeugte. Das ergibt
allerdings eine Zweiheit, aber sollen wir den Aufstieg bekämpfen und
zugleich alle Kultur verwerfen, weil sie das Leben minder einfach
macht? Sehr wohl kann bei dieser Bewegung der Mensch die Natur zu weit
zurückgeschoben und sich in seiner Meinung zu sehr von ihr abgelöst
haben, -- die Bekämpfung dessen ist ein unbestreitbares Verdienst des
Naturalismus --, aber wenn der Kulturmensch zur Natur zurückkehrt und
ihr eine höhere Schätzung für das Ganze des Lebens verleiht, so wird er
dadurch nicht im mindesten ein bloßes Stück der Natur, seine geistige
Überlegenheit bleibt dabei unangetastet.
Von solcher Überlegenheit aus muß ihm aber die naturalistische
Lebensordnung als durchaus unzulänglich erscheinen. Denn folgerichtig
durchgedacht muß sie alles Bestehen einer Innerlichkeit und allen Wert
von inneren Gütern, muß sie zum Beispiel Größen wie Gesinnung, Pflicht,
Ehre, Persönlichkeit, Charakter als völlige Einbildungen verwerfen,
als ebenso verderbliche Einbildungen, wie es nach ihrer Meinung die
Ideen von Gott und Weltvernunft sind. Das will jene Lebensordnung
nicht, gewiß nicht; auch sie hält an jenen Größen fest, auch sie will
Moral, auch sie will eine Veredlung des Menschen, aber sie kann das
nur in Widerspruch mit den eigenen Grundgedanken. Selbst den Begriff
der Wahrheit kann sie nur in solchem Widerspruch beibehalten. Denn wie
kann von einer gemeinsamen und zwingenden Wahrheit die Rede sein, wenn
nur einzelne Individuen mit ihren verschiedenen, unablässig wechselnden
Meinungen nebeneinanderstehen, und wenn aus ihrem Zusammensein
höchstens ein gewisser Durchschnitt hervorgeht? Auch für echte Kultur
ist hier kein Platz. So sehr jene Ordnung die Lebensbedingungen nach
allen Richtungen hin zu verbessern vermag, sie gibt damit dem Leben
weder eine innere Bildung noch irgendwelchen Gehalt, sie überliefert es
geistiger Leere; über die bloß äußere Ordnung der Lebensverhältnisse,
die Zivilisation, kommt sie mit eigenen Mitteln nun und nimmer hinaus.
So kann die naturalistische Lebensordnung die höheren Forderungen des
Menschenwesens nur in Widerspruch mit sich selbst festhalten; daß
bei solchem inneren Widerspruch zur Erfüllung jener viel geschehen
kann, ist schwerlich zu erwarten. Die Leere und Sinnlosigkeit, in die
hier das Leben gerät, muß augenscheinlich und zugleich unerträglich
werden, sobald die Frage aufs Ganze gerichtet wird, was der zum Denken
erwachte Mensch schließlich doch nicht unterlassen kann. Was wird hier
aus dem Ganzen des Lebens, was aus dem Lebensstand der Menschheit?
Kein inneres Band verknüpft hier die Menschheit mit dem All, auch kein
solches Band die Menschen untereinander. Wir mühen und hasten uns im
wilden Lebenskampf, damit sich mehr und mehr Kraft entfalte, aber es
gibt nichts, dem diese Kraft zugute komme, es gibt keine Möglichkeit,
sie in ein wahrhaftiges Leben eines Beisichselbstseins überzuführen.
Die der Kraftentfaltung anhangende Lust steht in grellem Mißverhältnis
zu all der Mühe und Arbeit, all der Aufregung und Aufopferung,
welche die Erhaltung des Lebens vom Kulturmenschen fordert. So
viel Verwicklung und Umständlichkeit in Erziehung und Bildung, in
staatlicher Ordnung und sozialem Aufbau, und das alles, damit wir im
wesentlichen dasselbe erreichen, was das Tier so viel leichter erreicht!
Über solche Bedenken sich leicht hinwegsetzen kann nur, wer einem
starken Optimismus gegen den Menschen und die menschliche Lage huldigt,
wer keine inneren Verwicklungen, keine schweren Probleme in ihr
anerkennt. So ging in der Tat der Naturalismus oft mit einem flachen
Optimismus zusammen. Dieser Optimismus hatte schon vor dem Kriege
manche Erschütterung erlitten, es waren im menschlichen Leben manche
Probleme und Widersprüche ersichtlich geworden, denen gegenüber der
Naturalismus vollständig wehrlos ist; so waren seine Flitterwochen
schon vorher abgelaufen. Die Erfahrungen des Weltkrieges müssen das
weiter vertiefen. Denn wären wir in den ungeheuren Erschütterungen, die
er bringt, und den Problemen, die er eröffnet, allein auf die Hilfen
angewiesen, die der Naturalismus zu bieten vermag, so bliebe nichts
anderes als eine völlige Verzweiflung, ein trostloser Pessimismus.
Und einem solchen Abschlusse wird doch die Menschheit mit aller Kraft
widerstehen, selbst in den schweren Verlusten und den durch sie
geweckten Zweifeln wird sie eine Überlegenheit gegen die bloße Natur
empfinden. Das Leid selbst erweist sich als der stärkste Gegner des
Naturalismus, sobald es ins Innere gewandt wird.
So wird dieser seinen Anspruch auf eine führende Stellung nicht
durchzusetzen vermögen. Aber glauben wir deshalb nicht, daß wir schon
mit ihm fertig sind, daß nicht viele offene Fragen verbleiben. Die
naturalistische Lebensordnung hat nicht nur einzelne Daten aufgedeckt
und zur Geltung gebracht, ihr Verdienst ist, in zwingender Weise einer
ganzen Seite unseres Lebens zur Anerkennung verholfen zu haben, die
ihr früher mit Unrecht versagt ward. Diese Anerkennung läßt sich aber
nicht vollziehen, ohne daß schwierige Fragen erwachen, manche Zweifel
entstehen, das Ganze unseres Lebens eine neue Beleuchtung erhält.
Den Naturalismus zu schelten mag der landläufigen Apologetik als ein
billiges Vergnügen überlassen bleiben; die vom Naturalismus vertretene
Tatsächlichkeit im Ganzen des Lebens zu würdigen ist eine Aufgabe, die
noch immer recht viel zu tun gibt. Der Mensch ist nicht bloß Natur,
aber er ist weit mehr Natur, als die älteren Ordnungen ihm zuerkennen,
und dieses Mehr wird nicht eher zur Ruhe kommen, als bis es sein Recht
gefunden hat.


Die Wendung des Menschen zu sich selbst.

Die Sozial- und die Individualkultur.
Wenn das Dasein Gottes dem Menschen ungewiß wird und die Weltvernunft
ihm verblaßt, wenn zugleich die Natur eben bei wachsender äußerer
Annäherung ihm innerlich fremder wird und sein seelisches Leben
leer läßt, so scheint, um unserem Dasein einen Sinn und Wert zu
bewahren, nur noch ein einziger Weg zu verbleiben: die Wendung des
Menschen zu sich selbst, die Ergreifung, Nutzung, Ausbildung alles
dessen, was im eigenen Bereiche vorgeht. Solche Wendung läßt sich
aber in zwiefachem Sinne verstehen. Einmal kann sie bedeuten, daß
der menschliche Kreis die Stätte bildet, wo allein sich uns Tiefen
der Wirklichkeit erschließen, von wo aus alles zu entwickeln ist,
was mehr aus uns machen soll; dann geht der Mensch keineswegs in
das Bild auf, das sein unmittelbarer Anblick zeigt, dann können
große Möglichkeiten in ihm liegen und weitere Zusammenhänge von Welt
und Leben von ihm aus ersichtlich werden. So erfahren wir es heute
in erhebender Weise, wenn uns der Mensch in Staat und Nation weit
über den nächsten Anblick hinauswächst. Dies aber soll uns später
beschäftigen, an dieser Stelle kommt nur in Frage, ob das moderne
Leben eine Bewegung enthält, vom Menschen, wie er in der Erfahrung
vorliegt, vom Menschen, wie er leibt und lebt, eine allumfassende
Lebensordnung als eine reine Menschenkultur aufzubauen. Das würde die
Behauptung schärfer zuspitzen und dem Leben eine engere Bahn abstecken.
Eine derartige Behauptung ist aber in der Tat vorhanden und hat einen
eigentümlichen Anblick vom Leben und Sein hervorgebracht. Während von
früheren Zeiten her und bis in die Gegenwart hinein der Mensch sich
selbst und seinen Kreis im Lichte einer unsichtbaren Welt, sei es des
Gottesreiches, sei es einer Weltvernunft, sieht und versteht, ist
neuerdings auch eine breite Bewegung dahin aufgekommen, ihn ganz und
gar auf das sichtbare Dasein zu stellen, hier alle Ziele zu suchen,
ihn mit seinesgleichen nicht durch irgendwelche Vermittlung eines
Gedankenreiches, sondern nur durch das tatsächliche Zusammentreffen
auf dem Boden des Daseins zu verbinden. Eine solche Wendung darf sich
auf tatsächliche Veränderungen des Lebens berufen. In der Neuzeit sind
auf Grund der modernen Technik und der Beschleunigung des Verkehrs die
Berührungen und Beziehungen von Mensch zu Mensch unermeßlich gewachsen,
die Kräfte haben sich mehr zu fruchtbarer Arbeit zusammengefunden und
dadurch ihr Vermögen gesteigert, auch die Individuen sind weit mehr
in Bewegung versetzt und zu mehr unmittelbarem Empfinden geweckt;
durch alles zusammen ist der Mensch sich selbst und dem Menschen
weit mehr geworden. Solche Erfahrungen lassen es nicht als überkühn
erscheinen, daß der Mensch sein Schicksal selbst in die Hand nimmt und
mit emsigem wie zielbewußtem Handeln einen zusagenden Stand des Lebens
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  • Der Sinn und Wert des Lebens - 11
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