Der Sinn und Wert des Lebens - 06

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wenig das der Gegenwart die eigene Arbeit abnimmt, es kann sie in
dieser erheblich fördern, sofern nur im geschichtlichen Befunde eine
gründliche Scheidung von Zeitlichem und Ewigem erfolgt; eine solche
Scheidung läßt sich aber nur vom Ganzen des Lebens aus vollziehen. Denn
nur bei diesem kommen wir auf den letzten Punkt der Entscheidung, nur
von hier aus wird ein endgültiges Urteil darüber möglich, was von den
Erzeugnissen der bloßen Zeit angehört, und was über sie hinaus in eine
ewige Ordnung weist.
Die durch das alles gehende Anerkennung eines Hervorgehens der Welt
und Wirklichkeit aus der eigenen Bewegung des Lebens ist das sicherste
Mittel, den Menschen von der Herrschaft des bloßen Intellekts zu
befreien, wonach gerade unsere Zeit aus ganzer Seele schmachtet,
ohne es genügend erreichen zu können. Denn solange die Welt als eine
gegebene Wirklichkeit uns gegenübersteht, wird es immer der Intellekt
sein, der eine Verbindung mit ihr herstellt und damit die Führung des
Lebens an sich nimmt, erst wenn die Welt als ein Erzeugnis schaffenden
Lebens und innerhalb dieses befindlich erscheint, tritt die Tat an die
erste Stelle. Gewiß wird auch bei ihr als einer geistigen das Denken
eine große Rolle spielen, aber es bildet dann nur die Form, in der sich
das Leben entfaltet, eine Form, die eine Erfüllung und Belebung erst
von dem wirklichkeitschaffenden Selbst erwartet; von diesem Selbst
abgelöst werden die Erzeugnisse des Denkens bloße Schatten und das
aus diesen bestehende Reich ein Scheinersatz echter Wirklichkeit. Die
Welten aller großen Denker waren an erster Stelle Erweisungen ihres
Selbst, Erhaltungen dieses Selbst; nur das gab ihnen ihren Charakter.
Alles miteinander verlegt das Leben mehr in die Innerlichkeit zurück,
aber in eine Innerlichkeit, welche nicht nachbildender, sondern
schaffender Art ist, welche nicht neben den Dingen steht, sondern sie
aus ihrem eigenen Grunde hervorbringt. In einer solchen Innenwelt wird
für die Einzelenergie zum Grundverhältnis des Lebens das Verhältnis zur
Gesamtenergie, nur dann vollzieht sich die gesamte Lebensentfaltung
innerhalb einer bei sich selbst befindlichen Welt, und gehört dieser
Welt alles an, was den Grundbestand des Lebens betrifft. Hier steht in
Frage das, was in der Sprache der Religion Rettung der Seele heißt. Das
besagt zugleich, daß, was hier geschieht, gewonnen oder verloren wird,
an Gehalt und Wert alles andere unvergleichlich überragt, was sonst dem
Menschen zufallen und zur Aufgabe werden kann.
Eine derartige geistige Innerlichkeit kann sich aber nur behaupten
unter steter Abwehr eines Eindringens bloßmenschlicher Elemente und
eines Sinkens unter die Zwecke der bloßen Menschen. Die Geschichte
zeigt hier einen durchgängigen Gegensatz niederer und höherer Art.
Einerseits das Streben, alle Lebensbewegung dem Wohl des bloßen
Menschen dienen zu lassen und ihn in seiner natürlichen Lebenshaltung
dadurch zu stärken, andererseits eine Entfaltung vom Ganzen des
Lebens her und damit eine Emporhebung über den bloßen Menschen; dort
bei aller Geschäftigkeit eine innere Leere und ein Abhängigbleiben
von der menschlichen Vorstellungsweise; hier eine Herausbildung
von Lebensinhalten und das Aufnehmen eines Kampfes gegen jene
Vorstellungsweise; dort bleibt der Mensch bei allem Sichstrecken
nach außen hin im Kerne unverändert, hier heißt es, ihn innerlich
zu erweitern und den Schwerpunkt seines Wesens zu verlegen. Am
deutlichsten ist dieser Gegensatz wohl bei der Religion. Denn alle
Gemeinschaft von Worten, Formeln und Einrichtungen verdeckt nicht den
weiten Abstand zwischen einer Religion, die dem Menschen, ohne ihn
wesentlich umzuwandeln, Glück und Fortbestand verheißt, und einer
Religion, welche ein neues Leben verkündet und in dieses den Menschen
versetzen will. Nur so gefaßt kann sie als lauterer Selbstzweck wirken,
nur so auch den Vorwurf widerlegen, ein Erzeugnis bloßmenschlicher
Begehrung und Meinung zu sein. Denn nun wird sie aus einer
Selbsterhaltung des bloßen Menschen eine Selbsterhaltung des Lebens
beim Menschen; was sie aus einer solchen an neuen Gehalten eröffnet und
mit überlegener Macht an ihn bringt, das kann mit seiner Unendlichkeit,
Ewigkeit, Vollkommenheit kein Machwerk des bloßen Menschen sein, das
bedeutet augenscheinlich die Erschließung eines neuen Lebens. Ähnlich
steht es mit den anderen Lebensgebieten; sie mußten oft genug dem
bloßen Menschen dienen, aber sie verloren damit eine Selbständigkeit,
einen inneren Zusammenhang, einen eigentümlichen Gehalt. Das
ändert sich nicht wesentlich, wenn für den einzelnen Menschen das
Nebeneinander der Menschen, die Masse, eingesetzt wird; denn die
Summierung befreit nicht von der Abhängigkeit gegen bloßmenschliches
Wohl und Wehe, sie ergibt keine höheren Ziele. Hier liegt eine nicht
geringe Gefahr für die an sich so segensreiche soziale Bewegung, sie
kann ein inneres Sinken nicht vermeiden, wenn sie als ein bloßes Mittel
für das menschliche Wohlsein behandelt, was ohne innere Zerstörung
keine solche Unterordnung verträgt. Wo zum Beispiel das Recht in
dieser Weise behandelt wird, da verliert es alle eigentümliche Art, da
steigert es nicht den Lebensgehalt, da hört es auf ein selbständiges
Lebensgebiet zu sein. Das Durchschauen dieses inneren Gegensatzes einer
bloßmenschlichen und einer selbständigen Behandlung der Lebensgebiete
erzeugt aber unmittelbar die Forderung, die Vermengung, die das
Durchschnittsleben beherrscht, mit aller Energie zu bekämpfen und den
Geistesgehalt der Gebiete als Glieder eines großen Lebenszusammenhanges
deutlich herauszuarbeiten.
Was die eigentümliche Art dieser Lebensbewegung an die einzelnen
Lebensträger und Lebensbereiche an Forderungen stellt, das dürfte
besonders deutlich aus der Vergleichung mit der modernen Lebensordnung
erhellen. Diese hat einen eigentümlichen Charakter vornehmlich dadurch
erhalten, daß sie die Kraft zum Kern des Lebens machte und in ihrer
Entfaltung und Steigerung seine Hauptaufgabe fand, an ihre Lösung
vornehmlich Gelingen und Glück des Lebens band. So hieß es beim
Individuum alle Kraft zu entfalten, so wurde in Staat und Gesellschaft
möglichst alle Kraft zur Betätigung aufgerufen und auch das gemeinsame
Wirken vornehmlich auf das Ziel der Befreiung aller Kräfte gelenkt,
so wurden die verschiedenen Kulturgebiete namentlich danach geschätzt
und gestaltet, was sie der Kraftentwicklung leisteten, so bestand
selbst die Neigung, das Weltall als einen großen Kraftkomplex zu
verstehen. Mit solcher Steigerung der Kraft schien auch das Glück ins
Unermeßliche zu wachsen. Die Durchführung dieses Strebens hat unendlich
viel Schlummerndes geweckt, Starres in Fluß gebracht, uns mehr Macht
nicht nur über die Umgebung, sondern auch über uns selbst gegeben,
sie hat damit den Gesamtstand des Lebens beträchtlich gehoben. Aber
diese Lebensordnung der Kraftentfaltung ließ auch manches verloren
gehen, sie hat eine sehr bestimmte Grenze gezeigt. Denn so notwendig
die Entwicklung der Kraft, sie ist mehr ein Mittel für ein höheres
Ziel als ein vollgenügender Selbstzweck; wird sie als ein solcher
betrachtet und behandelt, so entsteht die Gefahr, daß das Leben ein
rastloses Weiter- und Weiterstreben werde, nie zu einem Ruhen in sich
selbst und daher auch nie zur Herausbildung eines Inhalts gelange,
demnach bei aller Aufregung und bei allen Erfolgen im Einzelnen als
Ganzes schließlich ins Leere verlaufe. Die Gegenwart empfindet das
schon deutlich genug, und sie empfindet zugleich die Notwendigkeit,
über diesen Abschluß des Lebens hinauszukommen. Das kann aber nur
geschehen, wenn die Kraftentwicklung einer überlegenen Ordnung des
Beisichselbstseins des Lebens und der Inhaltsbildung eingefügt wird,
es gilt durchgängig von den bloßen Kraftkomplexen zu bei sich selbst
befindlichen Lebensenergien, zu Lebenszentren zu streben, so bei allen
Lebensträgern und in allen Lebensgebieten. Eine solche Lebensenergie
mit einem selbständigen Zentrum muß das Individuum, müssen Staat und
Gesellschaft, müssen die einzelnen Lebensgebiete, muß schließlich
auch das Ganze des Weltalls werden. Die Bildung einer solchen Energie
fordert aber das Erringen einer inneren, der Mannigfaltigkeit
überlegenen und sie durchdringenden Einheit, das kann aber den
einzelnen Stellen nur innerhalb des Ganzen und im Schöpfen aus ihm
gelingen. So gilt es durchgängig eine Wendung des Lebens nach innen,
während die bloße Krafterweisung es unvermeidlich nach außen kehrt und
bei sich selbst zerspaltet. Der Kulturarbeit ergeben sich damit weite
Ausblicke und fruchtbare Aufgaben, die sich hier nur andeuten lassen.
Das Erkennen einer Grundtatsache des Lebens vor aller näheren
Gestaltung vermag auch der menschlichen Überzeugung einen festeren
Halt zu geben. Die nähere Durchbildung der Bewegung bringt viel
Arbeit und verwickelte Fragen mit sich, welche die Individuen und
ganze Kreise leicht weit auseinanderführen; der Zwiespalt und Streit
läßt dann leicht die Gesamtbewegung als unsicher erscheinen. Suchen
wir dagegen die erste Tatsächlichkeit beim Leben selbst, arbeiten
wir sein Grundgefüge heraus, so läßt sich in der Ausführung das
Auseinandergehen und selbst der Kampf wohl ertragen, ohne daß uns das
Ganze wankend wird. Das gilt zum Beispiel von der Religion. Nach der
Verschiedenheit der Individuen, der Bildungsstufen, der Kulturkreise
wird ihre Gestaltung unvermeidlich recht verschiedener Art sein; aber
wir brauchen uns dieser Spaltung nicht endgültig zu ergeben, wir können
uns bemühen, vom Grundbestande des Lebens her ein gemeinsames Geschehen
herauszuheben, das der Zersplitterung entgegenzuwirken vermag. Zugleich
aber auch dem Zweifel, der über der Unfertigkeit der Durchbildung die
bewegende Kraft übersieht, welche auch den Streit erst möglich macht,
der so den Wald vor Bäumen nicht sieht und eine im Fluß befindliche
Bewegung nach einem starren Maßstabe mißt.
Eben dieses muß dabei zur Befestigung der Überzeugung wirken, daß
die Bewegung nicht an einzelnen Punkten hängt, sondern einen Kampf
von Ganzem zu Ganzem in sich trägt. Einzelne Vorgänge lassen sich je
nach der Fassung des Ganzen verschieden deuten und wenden, wie denn
ein starkes Mißtrauen gegen sogenannte innere Erfahrungen berechtigt
ist, da der eine sie so, der andere anders zu deuten vermag; ja selbst
ganze Komplexe sind verschiedener Deutungen fähig und sehen wohl
ihre Ursprünglichkeit bestritten. Besteht doch selbst darüber in der
Wissenschaft keine Übereinstimmung, ob Größen wie Pflicht und Gewissen
Urphänomene oder abgeleiteter Art sind. Wird aber der Kampf von Ganzem
zu Ganzem geführt und die innerste Seele eingesetzt, so kommen wir auf
das letzte, das ursprüngliche Geschehen; wenn irgendwo, so wird hier
unsere Überzeugung eine elementare Festigkeit gewinnen. Denn hier wird
uns nicht etwas von außen her zugeführt oder auch als ein innerer
Zustand nur wahrgenommen, sondern hier steht die Sache auf unserer
Tat und Entscheidung; es handelt sich dabei um nichts Geringeres als
um unsere geistige Selbsterhaltung, um geistiges Sein oder Nichtsein.
Diese Selbsterhaltung mit ihrer Selbstbejahung ist aber die Wurzel
aller Gewißheit, aus ihr entspringt alles Suchen einer solchen. Dabei
sei stets gegenwärtig, daß, was wir einerseits als eine Grundtatsache
ergreifen, sich andererseits als eine unermeßliche Aufgabe darstellt.
Denn volle Festigkeit kann uns das Leben nicht mit einem Schlage
gewinnen, sondern nur durch ein fortschreitendes Zusammenschließen,
durch ein Wachstum in gegenseitiger Verschränkung und Durchbildung der
Mannigfaltigkeit, das aber innerhalb eines umfassenden Selbst, das
durch alles hindurch sich entfaltet und den ganzen Umkreis beseelt.
Je mehr das Leben das Gewebe einer Wirklichkeit aus sich entwickelt,
zugleich aber ein volles Beisichselbstsein gewinnt, desto stärker wird
die Befestigung; das Einzelne wird um so sicherer werden, je enger es
sich dem Ganzen verkettet, und je mehr das Leben des Ganzen in ihm
gegenwärtig ist. Wenn demnach volle Sicherheit uns Menschen als ein
hohes und fernes Ziel gelten muß, so bleibt die Bewegung zu diesem
Ziele mit ihrer Überlegenheit gegen alle menschliche Willkür eine
Tatsache ursprünglicher und unbestreitbarer Art; wir könnten jenes Ziel
nicht suchen, nicht unsere Seele daran setzen, wirkte es nicht von
vornherein als treibende Kraft in uns; das aber kann es nicht, ohne
irgendwie in uns selbst gegründet zu sein.
Was so vom Ganzen des Lebens gilt, das gilt auch von seinen einzelnen
Trägern: auch die Kulturepochen, die Völker, die Individuen erlangen
eine Festigkeit der Überzeugung und eine Sicherheit des Weges nicht
durch angestrengtes Grübeln, hinter das immer wieder ein neues Grübeln
treten kann, sondern nur durch einen inneren Zusammenschluß ihres
Lebens und seine Lagerung um einen beherrschenden Mittelpunkt; nur das
verscheucht den Zweifel und gibt dem Handeln eine freudige Zuversicht,
nur von hier aus wird uns das Leben aus halber zu voller Wirklichkeit.

Geistiges Leben und menschliche Lage.
Daß ein neues Leben in der Menschheit und auch beim einzelnen Menschen
erwacht, sie über den nächsten Stand hinaustreibt und dafür eine große
Wendung fordert, das spricht zu uns mit zu viel Tatsächlichkeit, um
sich bestreiten zu lassen. Aber zugleich ist nicht zu verkennen, daß
nicht das gesamte Leben in diese Bewegung aufgeht, daß das Dasein mit
seinen eigentümlichen Lebensformen ihr gegenüber beharrt, daß damit
das Ganze des Lebens unter einen Widerspruch gerät. Selbständiges
Leben fordert eine Überlegenheit gegen Raum und Zeit, der Mensch des
Daseins bleibt streng an diese gebunden; jenes entwickelt ein Ganzes
der Gedankenwelt, das menschliche Leben verläuft in der Fläche des
Bewußtseins mit seiner begrenzten Fassungskraft und seiner unablässigen
Veränderung; inmitten alles geistigen Aufschwungs beharren die
Bedürfnisse der natürlichen Selbsterhaltung mit starkem Zwange; eine
Losreißung vom gesellschaftlichen Durchschnitt, ja ein Kampf gegen ihn
erwies sich als unentbehrlich, und doch bleibt der Mensch ein Stück von
jenem und muß hier seine Stellung wahren. So behauptet sich das Dasein,
das von der Tatwelt aus als eine niedere Stufe erschien, mit zäher
Kraft ihr gegenüber und macht eigentümliche Rechte geltend. Ein solcher
Stand der Dinge muß den Menschen in starke Unruhe versetzen, er hat
ihn auf weit abweichende Bahnen getrieben.
Als einfachster Weg zur Lösung der Verwicklung konnte aufstrebenden
Seelen und Zeiten das Unternehmen erscheinen, die niedere Welt völlig
abzustoßen und den ganzen Umfang des Lebens von der in kühnem Sturm
gewonnenen Höhe aus zu entwickeln. So ward es in der Religion, so
in der Moral, so auch in der Philosophie gewagt. Aber überall hat
sich gezeigt, daß solche Ablösung von der Erfahrungswelt, solcher
Versuch, alle Wirklichkeit von innen her zu erzeugen, unüberwindliche
Widerstände fand und das Geistesleben selbst mit Verarmung bedrohte.
So geschah es der Mystik, wenn sie sich nicht damit begnügte, eine
allumfassende Einheit zu verkünden und ihre Gegenwart an jeder
Stelle zu fordern, sondern wenn sie alle Mannigfaltigkeit zu bloßem
Scheine herabsetzen wollte; denn unrettbar verfiel sie dabei in
ein Gefühlsleben völlig gestaltloser Art, und sah sie sich vom
höchsten Aufschwung oft in einen Stand gänzlicher Verlassenheit
zurückgeschleudert. Ähnliches erfuhr die Moral, wenn sie die notwendige
Begründung des Handelns auf das alle Mannigfaltigkeit tragende
Gesamtleben so verstand, daß nun alle Befassung mit menschlichen
Angelegenheiten als ein Raub am Höchsten erschien; denn so kamen
Gottesliebe und Menschenliebe in einen schroffen Widerspruch, und jene
Gottesliebe selbst drohte erzwungen und innerlich leer zu werden.
Auch die Philosophie hat die notwendige Überlegenheit des Denkens
wohl dahin überspannt, aus seiner Bewegung die ganze Wirklichkeit
entspringen zu lassen, sie hat diese aber damit in ein Gewebe formaler
Größen verwandelt; sie hätte das noch mehr getan, wäre ihrer Arbeit
nicht immerfort aus der Erfahrungswelt eine versteckte Ergänzung
zugeflossen. Demnach muß überall die geistige Bewegung allerdings
volle Selbständigkeit erreichen und ihre Überlegenheit wahren, aber
unmittelbar aus eigenem Vermögen kommt sie über Entwürfe und Umrisse
nicht hinaus, auch gewinnt sie damit nicht die erforderliche Kraft,
um die harten Widerstände zu brechen. Das Dasein ist keineswegs bloß
etwas Niederes, über das sich ohne Verlust hinweggehen ließe, sondern
in ihm stecken Tatsachen, deren Ergreifung der geistigen Bewegung
erst eine genauere Richtung gibt, in ihm stecken Kräfte, die gewonnen
sein wollen, damit das geistige Leben die notwendige Stärke erhalte.
Freilich wird sich dabei nicht einfach aufnehmen lassen, die Aneignung
muß zugleich eine Umwandlung sein, aber es bleibt die Forderung
einer Ergänzung des Lebens von dorther. Das bildet eine entschiedene
Wendung und einen erheblichen Fortschritt der Neuzeit, daß sie das
Dasein keineswegs bloß als ein niederes, für das geistige Leben
gleichgültiges, ja gefährliches Gebiet behandelt, daß sie vielmehr auf
die Notwendigkeit dringt, sich unbefangen auch in jenes zu versetzen
und es für das Hauptziel zu verwerten. Vorher hatte das Bestehen auf
einen aller individuellen Willkür überlegenen Gesamtstand die einzelnen
Menschen und auch die einzelnen Lebensgebiete von vornherein als
Glieder eines Ganzen behandelt und jede Selbständigkeit ihm gegenüber
zu einem Unrecht gestempelt, jetzt haben wir uns überzeugt, daß das
Gelingen des Ganzen selbst einer freieren Entwicklung der Elemente
bedarf; früher ging das Streben auf eine zeitüberlegene Ordnung, die
alle Veränderung zu etwas Niederem, ja Verwerflichem herabsetzte und
damit der Geschichte nur eine untergeordnete Stellung zuwies, die
Neuzeit brachte zur Geltung, daß sich uns Menschen viel Wertvolles, ja
Unentbehrliches nur mit Hilfe der Bewegung zu eröffnen vermag, obschon
es selbst der Bewegung überlegen ist, sie erhob damit die Geschichte zu
einer wesentlichen Seite des Lebens; die sinnliche Welt schien vorher
durchaus untergeordnet und das Streben nach sinnlichen Gütern als ein
Ausdruck niedriger Gesinnung, der Neuzeit hat sich herausgestellt, daß
das Leben der Erfahrungen der sinnlichen Welt zur eigenen Weiterbildung
bedarf, und daß die sinnlichen Güter auch die seelische Kraft zu
steigern vermögen. So wird durchgängig dem Dasein ein höherer Wert
zuerkannt und der Tatwelt seine Aneignung geboten.
Solches Angewiesensein der Tatwelt auf das Dasein bringt aber manche
Fragen mit sich und legt Wendungen nahe, die das menschliche Leben
auf eine falsche Bahn verleiten. Vornehmlich diese Wendung, daß, was
das Dasein in der Beleuchtung und der Behandlung von der Tatwelt aus
leistet, als sein eigenes Werk erachtet, der Tatwelt aber damit alle
Selbständigkeit abgesprochen wird. So geschieht es, wenn man glaubt,
aus bloßer Erfahrung ein Ganzes der Erkenntnis gewinnen zu können,
da die Bildung einer Erfahrung selbst das Wirken des Denkens fordert
und damit die Tatwelt voraussetzt; so geschieht es weiter, wenn der
Naturalismus ein wissenschaftliches Bild der Natur, eine Umsetzung der
sinnlichen Eindrücke in Gedankengrößen, aus sich zu gewinnen hofft,
da jenes Bild von der Tatwelt aus entworfen wird; hierher gehört es
auch, wenn eine flachere Fassung der Sozialethik das bloßmenschliche
Zusammensein Moral erzeugen läßt, da ohne eine Ursprünglichkeit
der Moral jenes Zusammensein nun und nimmer eine Wendung zur Moral
vollziehen könnte. Es kann aber solche Verkehrung nicht die zweite
Stelle zur ersten machen, ohne daß der Bestand des Lebens in ein jähes
Sinken gerät; so erklärt sich vollauf der Ernst, ja die Leidenschaft
des um diese Fragen geführten Kampfes.
Minder stark ist die Irrung, aber es bleibt eben bei der Verfeinerung
eine gefährliche Irrung, den Bestand des Lebens aus Tatwelt und Dasein
zusammenzusetzen, etwa das Erkennen aus Denken und Sinnlichkeit.
Denn einmal erzeugt eine solche Zusammensetzung unvermeidlich einen
Streit darüber, welche der beiden Seiten die wichtigere sei und das
Maß zu geben habe, wie das zum Beispiel der Streit des Idealismus
und des Realismus um das Verständnis Kants mit voller Deutlichkeit
zeigt; dann aber erreicht eine bloße Zusammensetzung nie eine innere
Einheit und daher auch kein volles Leben. Von altersher bis in die
Neuzeit hinein ward versucht, das Leben aus einem Zusammenwirken von
Stoff und Form zu erklären, aber das genügt nicht einmal für die
Kunst, die jener Versuch zunächst im Auge hatte. Denn Form und Stoff
ergeben miteinander keineswegs schon ein lebensvolles Kunstwerk; sonst
würde ja die »akademische« Kunst den Gipfel aller Kunst bedeuten.
Noch weniger ergibt die peinlichste Anwendung von Denkgesetzen auf
den Stoff der Erfahrung eine lebendige Wissenschaft, am wenigsten
aber die gewissenhafteste Anwendung moralischer Regeln auf die Fülle
der Lebenslagen die lebendige Selbstentfaltung einer Persönlichkeit.
Freilich muß dem Dasein eine gewisse Selbständigkeit zuerkannt
werden, aber es ist auf den Boden des Höheren zu versetzen und hier
umzugestalten, um das Ganze des Lebens weiterzuführen. So ist, wenn
die Kunst eines Goethe Inneres und Äußeres untrennbar miteinander
verbindet, das keine Zusammensetzung aus gleichwertigen Faktoren,
auch kein bloßer Parallelismus, sondern das Innere bleibt überlegen,
es zieht das Äußere an sich und teilt ihm seine Seele mit, es selbst
aber findet erst in der Darstellung nach außen seine Durchbildung und
Vollendung. Demnach ist die Lebensbewegung anders zu verstehen als eine
Zusammensetzung von Form und Stoff oder auch von Kraft und Gegenstand.
Eine Erhebung über den Gegensatz muß schon in der Tatwelt durch ein
volltätiges Schaffen erfolgen; dieses bleibt nur insofern begrenzt, als
es unmittelbar aus sich selbst nur die Grundlinien festzustellen, nur
den Umriß zu entwerfen vermag; eben darin enthält es auch einen Antrieb
zur Weitergestaltung. Dieser ist aber nur zu befriedigen, indem das
Dasein auf den Boden der Tatwelt gezogen wird und Anhaltspunkte für
die erstrebte Weiterbildung gewährt, aber so gewiß damit die Tatwelt
eine gewisse Bindung erfährt, sie ist es, in deren Bereich der Aufstieg
erfolgt. Zur ersten Aufgabe wird damit, die Wirklichkeitslinien und
Umrisse feststellen, welche die Tatwelt aus sich hervorbringt, erst
das ruft eine Bewegung hervor und stellt Fragen an das Dasein, deren
Beantwortung das Leben weiterzubilden vermag.
Immerhin behält auch bei solcher Unterordnung das Dasein eine gewisse
Selbständigkeit, das Leben aber bekommt zwei Ausgangspunkte, die
sich nicht miteinander vermengen dürfen. Nur wenn das Dasein eine
unbefangene Betrachtung und Würdigung findet, kann es seinen vollen
Beitrag zum Gelingen des Lebens liefern. So wenig damit unser Leben im
Grunde zwiespältig wird, es behält eine Abstufung in sich selbst, und
es kann auf gewisse Fragen keine schlechthin einfache Antwort geben.
Nehmen wir zum Beispiel die Frage des Glücks. Gewiß können wir den Kern
unseres Glückes nur in dem Gewinn eines selbständigen Lebens suchen,
aber auch als Teilhaber einer Geisteswelt bleiben wir Menschen zugleich
Wesen von Fleisch und Blut sowie Bürger eines gesellschaftlichen
Zusammenseins; auch hier steht ein Gelingen oder Mißlingen in Frage,
wir können, wir dürfen, was hier geschieht, nicht als gleichgültig
von uns weisen, wir können das nicht, weil es tatsächlich in den
Gesamtstand des Lebens eingreift, wir dürfen es nicht, weil durch
eine Mißachtung dessen, was hier geschieht, auch der innere Bestand
des Lebens Schaden leidet. Mit einem solchen Auseinanderhalten der
Ausgangspunkte braucht aber das Leben selbst nicht auseinanderzufallen,
es wird das nicht tun, solange die Überlegenheit der Tatwelt
voll gewahrt wird. Freilich liegt hier die Möglichkeit schwerer
Verwicklungen nahe, und daß es nicht bei der bloßen Möglichkeit bleibt,
das wird uns bald zu beschäftigen haben.
Zum Abschluß dieser Betrachtung sei nur noch dieses bemerkt, daß eben
das Auseinanderhalten von Tatwelt und Dasein es möglich macht, den
verschiedenen Lebensordnungen, die heute sich gegeneinander stellen,
ein gewisses Recht zuzuerkennen, ohne sie durch einen flachen Ausgleich
nur aneinanderzukleben, es möglich macht, die Gegensätze vollauf
anzuerkennen und ihnen dabei überlegen zu bleiben. Die Lebensordnungen
der unsichtbaren Welt verfechten das höhere Recht der Tatwelt und sind
darin unangreifbar; sie können aber ins Unrecht geraten und vermögen
ihren Idealismus nicht vollauf durchzubilden, wenn sie das Dasein
mißachten und damit auf die Hilfen verzichten, die sie für ihre eigenen
Zwecke aus ihm gewinnen könnten. Die Lebensordnungen der sichtbaren
Welt sind demgegenüber im Recht mit dem Ausweis, daß sie nicht bloß
einzelne Daten, sondern ganze Seiten des menschlichen Lebens vertreten,
die als Charakterzüge auch in sein Gesamtbild stärker einfließen
müssen, als es in früheren Zeiten geschah. Wir haben innerhalb des
Idealismus realistischer zu denken, ohne damit dem Widersinn eines
»Realidealismus« zu verfallen.
Auch die Verzweigung innerhalb der beiden Hauptrichtungen ist aus
dem Zusammenhange unserer Betrachtung ganz wohl zu verstehen und zu
würdigen. Er macht begreiflich, daß das geistige Leben einerseits alle
Ausbreitung zurückstellen und sich in sich selbst befestigen muß, um
eine sichere Weltüberlegenheit und ein volles Beisichselbstsein zu
finden, daß andererseits aber zu seiner Durchbildung die Entfaltung
zu einer Welt schlechterdings unentbehrlich ist. Ganze Lebensgebiete
folgen mehr der einen oder der anderen Richtung und bekennen damit eine
Überzeugung vom Ganzen; die einen beherrscht der Kontrast, die anderen
der Zusammenhang der Wirklichkeit. Jenes geschieht bei der Religion
und auch bei der Moral, wo sie in strengem Sinne genommen wird, mit
ihrer Schärfung des Gegensatzes rütteln sie auf und treiben sie das
Leben weiter; dieses geschieht bei der Kunst und der Wissenschaft,
sie wirken damit zur Verbindung und zugleich zur Befestigung des
Lebens. Ein Überwiegen jener droht das Leben zu sehr im bloßen Umriß
zu halten und die durchbildende Kraft der Arbeit zu unterschätzen, ein
Überwiegen dieser hemmt leicht die volle Anerkennung der Tiefen und
auch der Abgründe des Lebens. Wie die menschliche Lage einmal ist,
müssen die beiden Ströme eine gewisse Selbständigkeit gegeneinander
bewahren, um ihre Eigentümlichkeit und ihre Kraft voll erweisen zu
können. Wenn demnach alles Ineinanderfließen fernzuhalten ist, so
darf auch die Erhebung über die Welt nicht so verstanden werden, daß
sie nur vorgenommen wird, um der Welt mehr Gehalt bei sich selbst zu
geben. Die Überlegenheit darf kein bloßer Durchgangspunkt sein, sie
ist auch bei kräftiger Erfassung der Welt festzuhalten, damit nicht
ein Pantheismus entstehe, der zugleich verneint und bejaht und daher
nur eine Übergangserscheinung sein kann. Auch die Lebensordnungen
der sichtbaren Welt werden gegenseitig ihre Grenze zu wahren haben;
die Natur mit ihrer reinen Tatsächlichkeit und ihrer durchgehenden
Verkettung, und das Menschenleben mit seinem unablässigen Weiterstreben
und seinen schroffen Gegensätzen dürfen nicht ineinander verfließen.
Das ist es, was den Positivismus eines Comte zu einem durchgehenden
Widerspruch macht, daß er einmal in naturwissenschaftlicher Denkart
eine bloße Schilderung, eine Beschreibung des Tatbestandes sein
will, andererseits aber mit höchstem Eifer eingreifende Wandlungen
des gesellschaftlichen Zusammenseins fordert. An solchem Widerspruch
leidet auch die Soziologie, indem sie das Leben der Gesellschaft unter
Naturgesetze stellt, aber es zugleich wesentlich umbilden will.
So ist es als eine Eigentümlichkeit der menschlichen Lage
anzuerkennen, daß das Leben sich vollauf zu entfalten nur vermag,
indem es verschiedenen Strömen eine gewisse Selbständigkeit gewährt.
Zugleich freilich ist mit größtem Nachdruck zu fordern, daß ein
Ganzes des Lebens den einzelnen Strömen überlegen bleibe und ihre
besonderen Erfahrungen in eine Gesamterfahrung verbinde, die aus
ihnen erwachsenden Lebensbilder an einem Gesamtbilde prüfe und
daraus berichtige. Das kann nur geschehen, wenn ein der Verzweigung
überlegener Standort gewonnen und zugleich das Lebensproblem weiter
zurückverlegt wird. Das wird aber möglich, wenn die Bildung eines
selbständigen schaffenden Lebens im Bereich des Menschen zum Problem
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