Der Sinn und Wert des Lebens - 09

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Besonderheit hinausgehoben wird. Auch so verbleibt es freilich bei
bloßen Annäherungen, aber das macht uns den Grundgehalt mit seiner
Erhöhung des Lebens keineswegs unsicher oder machtlos. Die Sache sinkt
dadurch nicht zu einem bloßen Spiel der Phantasie, daß der Mensch zu
ihrer Darstellung der Bilder nicht entraten kann.
Daß jene Schranke dem Leben der Religion nicht allzu gefährlich
wurde, das bewirkt vornehmlich die tatsächliche Gestaltung des
Christentums auf dem Boden der Geschichte. Wir denken dabei namentlich
einerseits an den Aufbau einer religiösen Gemeinschaft als einer
lebensvollen Gegenwärtighaltung einer höheren Ordnung, eines Reiches
Gottes auf Erden, wie die Kirche sie bildet oder doch zu bilden
strebt, andererseits an die starken Persönlichkeiten, welche das
Christentum aufweist, und deren vollste Kraft es gewann, vor allem
an die begründende Persönlichkeit Jesu. Die Eigenschaften, die sich
uns zur Entfaltung alles höheren Lebens in der Menschheit vornehmlich
notwendig zeigten, erscheinen hier in einer das sonstige Maß weit
überschreitenden Verkörperung. Wir forderten Liebe, damit die
Bewegung zur Höhe alle Hemmungen des niederen Standes überwinde, hier
finden wir eine Liebe, welche die von Plato und Goethe gepriesene
Liebe mit ihrer Innigkeit und Opferwilligkeit weit übertrifft; wir
forderten volle Selbständigkeit und Ursprünglichkeit; wie könnte
sie größer sein als hier, wo ein von Grund aus neues Leben entsteht
und ganz und gar aus sich selber schöpft; wir forderten Tapferkeit
und Unerschrockenheit; wo könnte sie größer sein als hier, wo nicht
dieses oder jenes in der vorgefundenen Welt, sondern diese ganze Welt
angegriffen und entwertet wird? So ging von hier ein Lebensstrom aus,
der den Jahrtausenden ursprüngliches Leben zuführt und die Menschheit
immer wieder zu sich zurückruft, damit sie an ihm sich läutere und
aus ihm ein neues Leben schöpfe. Die verschiedenen Zeiten sahen und
fanden bei ihm verschiedenes, aber wer immer in nähere Berührung mit
ihm trat, der fühlte sich zur Ehrfurcht vor der schlichten Hoheit des
Zimmermannssohnes gezwungen und fand sein Leben durch ihn gehoben,
ja in neue Bahnen getrieben. Nur führe alle Verehrung nicht zu einem
Jesuskult und zu einer Anbetung, die dem göttlichen Wesen selbst allein
vorbehalten sei; sie darf das auch deshalb nicht, weil damit leicht
der Zusammenhang mit dem gemeinsamen Menschheitsleben gelockert und
das Christentum zu sehr als eine einmalige Tat, zu wenig als ein die
ganze Geschichte durchdringendes, jeden Einzelnen zur Mitarbeit und
zur Fortführung aufrufendes Werk verstanden wird. Die alte Kirche,
zum Beispiel der größte Kirchenlehrer des Morgenlandes, Origenes,
fand die Forderung nicht zu kühn, jeder solle nicht bloß ein Anhänger
Christi sein, sondern selbst ein Christus werden; wir Neueren werden
den Gedanken wohl anders fassen, aber darauf müssen auch wir bestehen,
daß das Christentum einen fortlaufenden Lebensstrom, ein gemeinsames
Werk bilden muß, wenn es die Menschheit geistig führen und in jedem
Einzelnen sichere Wurzel schlagen soll. Wir sehen, an Verwicklungen
fehlt es nicht, aber es sind Verwicklungen nicht der Kleinheit,
sondern der Größe, und allen Verwicklungen gegenüber erhält sich die
eindringliche Wahrheit und die schlichte Einfalt des Grundbestandes.
Vieles Grübeln führt dabei nicht weiter, geben wir uns vielmehr
rückhaltslos der Größe dieser Welttatsache hin, gedenken wir der Worte
Pestalozzis: »Das Staunen des Weisen in die Tiefen der Schöpfung und
sein Forschen in den Abgründen des Schöpfers ist nicht Bildung der
Menschheit zu diesem Glauben. In den Abgründen der Schöpfung kann sich
der Forscher verlieren, und in ihren Wassern kann er irre umhertreiben,
fern von der Quelle der unergründlichen Meere. -- Einfalt und Unschuld,
reines menschliches Gefühl für Dank und Liebe ist Quelle des Glaubens.
Im reinen Kindersinn der Menschheit erhebt sich die Hoffnung des ewigen
Lebens, und reiner Glaube der Menschheit an Gott lebt nicht in seiner
Kraft ohne diese Hoffnung.«
So vollzieht die Religion eine Erhebung über das Gebiet der Hemmung,
indem sie dem Menschen ein in Gott gegründetes und von göttlicher Liebe
getragenes Leben eröffnet; es tritt damit zur kämpfenden Geistigkeit
eine überwindende, und was der zunächst vorhandene Lebensstand an Gutem
getrübt und gebunden aufwies, das erlangt nunmehr eine Selbständigkeit,
es vermag sich zusammenzuschließen und eine reine Gestalt zu erstreben.
Aber so gewiß solche Wendung zeigt, daß der Lebenskampf nicht
vergeblich ist, sie besagt keinen reinen Sieg, sie löst nicht glatt
das Problem. Dazu läßt die Bewegung viel zu viel unergriffen, dazu
behält das Feindliche viel zu viel Wirklichkeit, die Welt des Menschen
wird damit keineswegs ein Reich der Vernunft. Das kann freilich nicht
dem Zweifel die Oberhand geben, denn die Tatsache des Erscheinens
eines neuen Lebens wird durch allen Widerstand keineswegs aufgehoben;
ja wenn sie außer allem Zweifel steht, so muß der Widerstand selbst
ihre Selbständigkeit und Überlegenheit bestärken, denn eben die
Verworrenheit und die Unlauterkeit des Weltgetriebes, sowie das
moralische Unvermögen des Menschen macht klar, daß nicht von da aus
jene Erhöhung des Lebens stammen kann, daß sie nicht ein Erzeugnis des
bloßen Weltlaufs ist, daß sie aus göttlicher Macht stammen muß. So die
eigentümliche Denkweise der Religion, die nicht mit dem »weil«, sondern
mit dem »obgleich« schließt, die nicht aus der Vernunft, sondern aus
der Unvernunft der Welt und den ihr innewohnenden Widersprüchen die
Gewißheit des Bestehens einer höheren Ordnung schöpft, eine Denkweise,
die freilich nicht ohne Gefahr ist und leicht überspannt werden kann.
So viel aber ist gewiß: das Beharren des Widerstandes zwingt zu einem
eigentümlichen Urteil über die Gesamtlage der Menschheit. Das Ganze der
Welt, das sie umfängt, mit seiner Unfertigkeit und seinen Gegensätzen,
mit seinem Angewiesensein auf eine der Verwicklung überlegene Ordnung,
kann nicht das Ganze der Wirklichkeit bilden und nicht in sich einen
Abschluß tragen, es ist ein Stück einer weiteren Wirklichkeit, eine
besondere Art des Seins, die tieferer Gründe und weiterer Zusammenhänge
bedarf, um überhaupt zu bestehen und einen Sinn zu erlangen. So suche
auch unser Handeln nicht in dieser widerspruchsvollen Welt seine
letzten Ziele, es bleibe vielmehr inmitten alles Kampfes unbeirrt auf
eine Welt überlegener, selbständiger Geistigkeit gerichtet, um sie bei
uns aufrechtzuhalten und möglichst zur Wirkung zu bringen, in festem
Vertrauen darauf, daß letzthin nichts von dem verloren sein kann,
was dem Aufbau wahrhaftigen Lebens dient. Unser Leben behält auch
dann einen Sinn und Wert, wenn es mehr ein inneres Vordringen als ein
äußeres Überwinden, mehr ein Wecken und Sammeln der Kräfte als ein
volles Erreichen der Ziele ist, wenn es in Zusammenhängen steht, die
wir nicht klar durchschauen. So dachte auch Luther, wenn er sprach: »Es
ist noch nicht getan und geschehen, es ist aber im Gange und Schwange,
es ist nicht das Ende, aber der Weg. Es glühet und glänzet nicht alles,
es feget sich aber alles.«
Solcher Stand der Dinge führt notwendig auf die Unsterblichkeitsfrage
und zugleich unter all die Verwicklung, welche dieser Frage
innewohnt. Wie viele Gründe den Menschen der Gegenwart an einer
glatten Bejahung hindern, das bedarf keiner näheren Darlegung, nur
das eine sei angeführt, daß ein unbegrenztes Fortbestehen in dieser
zeiträumlichen Existenz, ein Fortbestehen der besonderen Individualität
mit all ihrer Enge und Zufälligkeit, manchem von uns weniger ein
Glück als ein schweres Unglück dünken möchte; wir brauchen das nur
durchzudenken, um es geradezu unerträglich zu finden. Aber trotzdem
macht es sich auch nicht so leicht mit einer völligen Verneinung.
Zunächst ist es nicht bloß niedrige Lebensgier, welche eine Fortdauer
suchen heißt, und es handelt sich dabei nicht bloß um eine Rettung
unserer natürlichen Besonderheit, sondern um das selbständige Leben,
das bei uns durchbricht, uns zu selbsttätigen Lebensträgern macht
und uns an Unendlichkeit und Ewigkeit teilnehmen läßt. Erlösche
alles, was an Geistigem im Menschenwesen belebt wird, mit dem
körperlichen Untergange, so würde ja auch das ganze Menschengeschlecht
dahinschwinden, wie die welken Blätter vom Baume fallen, und all sein
Mühen und Wirken, das ja, wie wir sahen, kein Reich der Vernunft
ergibt, sondern in den Gegensätzen stecken bleibt, mitten im Streben
abbrechen und damit völlig sinnlos werden. Das müßten wir uns so lange
gefallen lassen, als wir die Sache vom bloßen Menschen aus betrachten;
steht sie aber so, daß darin das absolute Leben sich dem Menschen
eröffnet und ihn zu selbständiger Mitwirkung aufruft, so würde der
Zweifel und die Verneinung jenes Leben selber treffen; ist der Aufbau
des Geisteslebens in der Menschheit ein göttliches Werk, so kann sie
nicht schlechthin vergehen. Daher verficht die religiöse Überzeugung
die Unsterblichkeit nicht vom bloßen Menschen, sondern von Gott her,
nach den Worten Augustins: »Für sich selbst kann nicht untergehen, was
für Gott nicht untergeht.« Wird aber dieser Gedankengang eingeschlagen,
so ist er auch zu Ende zu führen; Unsterblichkeit kann dann nicht eine
unbegrenzte Fortdauer in Zeit und Raum, sie muß eine Erhaltung im
göttlichen Leben mit seiner ewigen Ordnung bedeuten. Worauf es ankommt,
ist die Überzeugung, daß des Menschen Leben und Streben sich nicht in
die bloße Zeit erschöpft, sondern auf Ewiges geht, und daß dies Ewige
nicht auf einzelne Leistungen beschränkt bleibt, sondern den Kern des
Wesens betrifft. Eine derartige Ewigkeit dürfen wir um so getroster
verfechten, als wir sie nicht erst von der Zukunft erwarten, nicht
bloß auf sie hoffen und harren, sondern sie schon besitzen, mitten
in ihr stehen, in ihr den Standort unseres geistigen Lebens haben.
Insofern können wir mit Goethe zusammengehen, wenn er meint, daß »das
Beständige der ird'schen Tage uns ewigen Bestand verbürge«, wir können
sogar mit Kant einen Vorteil darin finden, daß uns bei dieser Frage
alle nähere Vorstellung versagt ist, da eine solche uns leicht an der
vollen Hingebung an das gegenwärtige Leben hindern würde, das uns
wahrlich genug zu tun gibt. Ein Glaube an eine ewige Ordnung und unsere
Zugehörigkeit zu ihr sei unbedingt festgehalten; ohne eine Begründung
in solcher Ordnung wird alles Leben und Streben in der Zeit zu bloßem
Schatten und Schein, und verfällt unser Leben unrettbar einer völligen
Sinnlosigkeit. Dafür aber steckt doch zu viel in ihm.

Auseinandersetzung mit dem Zweifel.
Unsere Untersuchung hat wiederholt den Zweifel gestreift, der ihrem
Hauptzuge widerspricht, aber es fehlt bisher noch eine gründliche
Auseinandersetzung mit ihm; eine solche aber ist nicht zu entbehren,
wenn unsere Überzeugung die notwendige Sicherheit erreichen und sich
auch nach verschiedenen Seiten hin noch deutlicher ausprägen soll.
Jenes können wir aber nicht tun, ohne dem Zweifel selbst das Wort zu
geben.
Der Zweifel: »Du hast eine Reihe von Gründen vorgebracht und dabei den
Eindruck zu erwecken gesucht, als entsprängen sie einer unbefangenen
Würdigung der Sache. In Wahrheit ist das ein bloßer Schein. Denn du
hast eine bestimmte Tendenz an die Sache herangebracht und sie in ihrer
Beleuchtung gesehen. Du suchtest mit aller Kraft eine Bejahung des
Lebens durchzusetzen, du hobst hervor, was ihr günstig ist, und schobst
zurück, was ihr widerspricht. Wohl anerkanntest du die Übermacht der
Natur, das Schwanken im Geistesleben, selbst die moralische Verwicklung
der Menschheit, aber du strebtest durchgängig möglichst rasch über
das Hemmnis hinaus, und wenn du es überwunden zu haben glaubtest, so
ließest du es hinter dir liegen und behandeltest es als ein Nebending.
So erhielt deine Untersuchung einen optimistischen Einschlag, und es
ergab sich ein viel zu beruhigtes, ein schöngefärbtes Bild unseres
Lebens.«
Ich: Ich bestreite entschieden, die Untersuchung im Dienst einer
bloßen Tendenz zu führen. Aber ich behaupte, daß jede Arbeit, die
nicht fruchtlos auslaufen soll, eine bestimmte Richtung haben muß,
nicht ziellos hin und her schwanken darf. Zu verlangen ist nur,
daß sie diese Richtung aus der Sache und nicht aus bloßer Neigung
des Menschen erhalte. Nun aber suchte ich durchgängig zu zeigen,
daß die Wendung des Lebens zur Selbständigkeit, dieser Leitgedanke
unserer ganzen Untersuchung, nicht dem Vermögen des bloßen Menschen
entspringt, und daß sie seinen Neigungen eher widerspricht, daß sie
vielmehr eine Bewegung aus dem Weltall bedeutet, die in sich selbst
eine Richtung trägt und mit überlegener Kraft das Streben des Menschen
in diese zwingt. Daß diese Bewegung in unserem Bereich härtesten
Widerständen begegnet, das weiß ich wohl und habe es auch möglichst
zum Ausdruck gebracht, aber ich finde, daß sie diesem Widerstande
keineswegs erliegt, sondern sich gegen ihn behauptet und ihn an
Hauptstellen siegreich überwindet. Daß vieles nicht in die Überwindung
eingeht, das habe ich nicht verschwiegen und auch nicht zu verkleinern
gesucht. Mir tritt damit das ganze Leben unter den Anblick eines
Kampfes, und ich meine, daß dieser Kampf nicht gelingen kann, wenn
der Gegner unterschätzt wird. Aber ein anderes ist es, den Gegner
nicht zu unterschätzen, ein anderes, keinen Kampf gegen ihn zu wagen;
letzteres scheint mir schon deshalb verkehrt, weil mir geistiges Leben
kraft seiner Begründung in Weltzusammenhängen keine starre Größe
bedeutet, sondern einer unermeßlichen Steigerung fähig dünkt. Diese
Steigerungsfähigkeit auch mitten im harten Kampfe anzuerkennen, ist
noch keineswegs Optimismus; will jemand das aber so nennen, so bekenne
ich mich gern zu einem derartigen Optimismus, zum Glauben an die
unbegrenzte Macht des Lebens.
Der Zweifel: »Du übersiehst, daß du bei allem dem bloße Möglichkeiten
für Wirklichkeiten gibst. Weil der Mensch nach deiner Behauptung sich
über die Natur erheben kann, nimmst du an, er tue das in Wirklichkeit;
weil der Gewinn eines festen Bestandes im Leben nicht unbedingt
ausgeschlossen ist, behandelst du ihn als schon gewonnen; weil Sehnen
und Hoffen des Menschen den elenden moralischen Durchschnittsstand
überschreitet, dünkt dir ein Mehr schon vorhanden. Du übersiehst, daß
der Durchschnittsstand der Menschheit unter eben den Hemmungen bleibt,
die deine Betrachtung übersprang: die Natur bleibt übermächtig auch
beim Menschen, den höchst unsicheren Stand des menschlichen Strebens
läßt eben die Gegenwart deutlich empfinden, und wie wenig die Moral
die tiefste Gesinnung der Menschheit beherrscht, das haben gerade die
führenden Geister der Religion aufs schmerzlichste empfunden.«
Ich: Den weiten Abstand des tatsächlichen Verhaltens der Menschen von
den ihnen gesteckten Zielen anerkenne ich vollauf, aber dieser Abstand
setzt die Ziele noch nicht zu bloßen Möglichkeiten herab und damit,
wie du zu meinen scheinst, zu bloßen Gebilden menschlicher Meinung.
Mögen die Individuen noch so wenig die geistige Bewegung teilen, mag
der Durchschnittsstand ihre Forderungen noch so wenig erfüllen, die
Bewegung selbst bleibt eine Tatsächlichkeit, die der bloße Mensch nun
und nimmer ersinnen könnte, die als überlegen und von ihm unabhängig
an ihn kommt, ihn mit erhöhendem Wirken umfängt, ihm starke Antriebe
zuführt. Aber als Quell eines Reiches der Freiheit läßt sie sich nicht
mechanisch übertragen, verlangt sie eine Anerkennung und Aneignung
seitens des Menschen, mag sie insofern für den Einzelnen eine bloße
Möglichkeit heißen. Nicht aber ist sie dieses an sich selbst, nicht
auch ist sie es für das Ganze der Menschheit. Dieses hat mit der
Ausbildung einer Geisteskultur eine Überwindung der Natur vollzogen,
es hat der weltgeschichtlichen Arbeit bestimmte Richtungen und
Forderungen eingeprägt, es hat mit der Bewegung zur Religion eine
durchgreifende Vertiefung des Lebens vollzogen; das alles bildet eine
Tatsächlichkeit, ohne welche der Einzelne überhaupt nicht aufstreben
könnte. Nur darf man die Tatsachen nicht neben und außer dem Leben,
man muß sie innerhalb seiner suchen; solche Lebenstatsachen, die
sich deutlich genug von allen sogenannten inneren Erfahrungen,
subjektiv-seelischen Zuständen unterscheiden, ergeben überhaupt
erst Festigkeit, und können auch dem, was von außen kommt, erst den
Charakter der Tatsächlichkeit verleihen; es ist daher eine Verkehrung
der Sache, wenn diese grundlegenden Tatsachen als bloße Einbildungen
hingestellt werden. In der Entfaltung des Geisteslebens nur Wechsel und
Wandel, nur Widerspruch und Streit gewahren kann nur, wer sie lediglich
von außen betrachtet und mit Händen greifen will, was ihm als wirklich
gelten soll. Wer aber in die Bewegung eintritt und sie als eine eigene
miterlebt, der wird alsbald die Tatsächlichkeit erfahren, welche ihr
innewohnt, und die Kraft, die von ihr ausgeht, der wird erkennen, daß
auch im Streben und Suchen sich ein wirklichkeitbildendes Schaffen
erweist; ihm wird gewiß sein, daß geistige Festigkeit sich nicht von
außen her übermitteln, sondern nur aus eigener Bewegung erringen läßt,
so daß letzthin alle und jede Gewißheit auf einer Selbstbefestigung
ruht.
Der Zweifel: »Du magst sagen, was du willst; deine Beweisführung
ist zu künstlich, zu verwickelt; sie wird nie den Menschen als
Menschen gewinnen, er muß seine Überzeugung auf einen festeren Grund
bauen können als auf weitausgesponnene philosophische Erörterungen.
Wie schwer muß es einem schlichten Manne sein, den Begriff eines
selbständigen Lebens auch nur zu fassen und ihn gar zu einer Macht
für sein Handeln zu erheben! Durch zu viel Gestrüpp ist hier der Weg
zu bahnen und zu viel davon ist zu beseitigen, damit nur ein Ausblick
möglich werde; ehe man dazu gelangt, wird man ermüdet sein. Was zu den
Menschen wirken will, muß einfacher Art sein und unmittelbar zum Herzen
sprechen; alles andere bleibt Sache der bloßen Schule.«
Ich: Du verkennst die Eigentümlichkeit philosophischer Behandlung,
würdigst nicht die besondere Art unserer Zeit und gibst auch
unserer Arbeit nicht ihr volles Recht, wenn du bei ihr lediglich
Verwicklung siehst. Um dieses vorauszuschicken, so meine ich, daß
alle Mannigfaltigkeit unserer Erörterung einen einzigen Grundgedanken
bekennt, und daß sich von ihm aus ein Entweder -- Oder ergibt, welches
das ganze Leben durchdringt und auf entgegengesetzte Bahnen treibt.
Das ist aber die Behauptung, daß im Menschen aus überlegener Macht
ein neues Leben gesetzt wird, das ihn in eine Weltbewegung aufnimmt
und zugleich zur selbständigen Mitarbeit an dieser Bewegung aufruft.
Nur kraft eines solchen Lebens kann er es unternehmen, der Natur ein
Reich der Geisteskultur gegenüberzusetzen; nur ein solches Leben vermag
durch seinen Gehalt ihn der schwankenden und tastenden Reflexion zu
entwinden und ihm inmitten aller Unfertigkeit eine volle Sicherheit zu
geben; nur die Selbstvertiefung dieses Lebens macht ihm gewiß, daß jene
überlegene Macht nicht in jenseitiger Hoheit beharrt, sondern ihn in
die Verwicklungen des Daseins begleitet und ihn über sie hinaus einer
höheren Stufe zuführt. In Wahrheit entwickelt das alles nur jenen einen
Grundgedanken, die Grundtatsache eines dem Menschen nicht aus eigener
Kraft geschöpften, sondern ihm verliehenen neuen Lebens; sicherlich
kann nur eine solche einfache Grundwahrheit unserem Streben einen
festen Halt und einen inneren Zusammenhang geben. Diese Grundwahrheit,
die alle Geistesgeschichte der Menschheit durchdringt, wurde früheren
Zeiten mehr aus gemeinsamer Überzeugung, im besonderen durch die
Religion zugeführt; wir wissen, wie die Wandlungen der Neuzeit sie für
viele weit zurückgedrängt und arg verdunkelt haben, so daß dadurch für
die ewige Wahrheit eine neue Form notwendig wird. Für solche Aufgabe
ist die Arbeit der Philosophie nicht zu entbehren, diese Arbeit kann
aber nicht so unmittelbar wie die Religion zur Seele jedes Einzelnen
sprechen, ihr Weg führt durch begriffliche Erörterung hindurch; so
mag die Sache von außen betrachtet als künstlich und verwickelt
erscheinen, obwohl sie im Grundgehalt einfach ist. Wer besitzt, kann
auch in der Form einfacher sein als wer erst sucht; daß wir aber suchen
müssen, das liegt an der ganzen Zeit, dafür trifft den Einzelnen keine
Verantwortung und keine Schuld.
Der Zweifel: »Alle deine Reden und Gründe lösen nicht das Problem,
das von altersher mit schwerer Wucht auf der menschlichen Seele
lastet, sie lösen nicht die Frage, warum denn die höhere Macht, als
deren Offenbarung du das in der Menschheit neu aufquellende Leben
betrachtest, sich nicht in unseren Geschicken mit deutlichen Zügen
erweist, warum nach unbefangenem Eindruck der Weltlauf das Wohl und
Wehe des Menschen mit voller Gleichgültigkeit behandelt, weshalb Gut
und Böse bei ihm nicht in die Wage fallen, weshalb so viele zerstörende
Kräfte in unserem Dasein walten. Der gegenwärtige Krieg mit seinem
unbarmherzigen Vernichten so vieles blühenden Lebens und seiner Wendung
so vieler Geschicke aus hellem Licht in trübes Dunkel muß solche Frage
noch weit eindringlicher und peinlicher machen als der gewöhnliche
Lauf der Dinge. Wie kann eine Macht der Liebe, und sei es auch nur der
Gerechtigkeit, eine derartige Auslieferung der Menschheit an sinnlose
Mächte dulden? Erschüttern solche Eindrücke nicht allen Glauben an
jene höhere Macht, ja lassen sie diesen Glauben nicht als ein bloßes
Wahnbild des Menschen erscheinen?«
Ich: Das ist fürwahr ein gewichtiger Einwand, den nur die Flachheit
leicht nehmen kann. Jeder Einblick in die innere Geschichte der
Menschheit zeigt aber, daß er keineswegs neu aufgetaucht ist,
sondern von altersher ernste Seelen beschäftigt und aufgeregt hat,
ohne daß sie darüber ihren Glauben verloren haben. Da sie wahrlich
die Sache nicht leicht nahmen, so müssen sie Gründe gehabt haben,
die ihnen freilich nicht die Verwicklung glatt lösten, wohl aber
sie ihrem niederdrückenden Einfluß entwanden. Diese Gründe kommen
aber schließlich auf das Eine hinaus, daß ihnen trotz jenes Mangels
greifbarer Bekundung jene höhere Macht kein bloßer Hintergrund des
Weltgeschehens blieb, sondern daß sie ein unmittelbares Wirken von
ihr auch innerhalb jenes fanden und anerkannten, das aber in der
Erschließung eines höheren, wesenhafteren Lebens sowohl in der
Menschheit als in der Seele jedes Einzelnen. Es war das Wunder
des Geistes, das ihnen eine äußere Durchbrechung des Weltlaufs,
das ihnen sinnliche Wunder entbehrlich machte. Ein echtes Wunder
erkannte der Einzelne vornehmlich darin, daß ihm das Leben inmitten
des Kampfes gegen eine gleichgültige, ja feindliche Welt nicht nur
aufrecht gehalten wurde, sondern eine innere Erhöhung erfuhr; eine
weiterblickende Betrachtung mußte aber die ganze Menschheit umfassen
und dabei voll zur Geltung bringen, daß in ihr weit über ihr eigenes
Vermögen hinaus, ja ihrem eigenen natürlichen Streben zuwider ein
Reich des Geistes, ja der Liebe begründet und gegen alle Widerstände
nicht nur behauptet, sondern weiter und weiter verstärkt ward. Eben
dies, daß das nicht aus dem Menschen, sondern eher trotz seiner
geschah, und daß, was dabei bei ihm selbst zur Wirkung gelangte, nicht
aus eigener, sondern aus verliehener Kraft gewirkt ward, gab ihm die
felsenfeste Überzeugung, daß er nicht bloß seine eigene Sache führt,
sondern in inneren Zusammenhängen steht und durch die Kraft des Ganzen
getragen wird. So befestigt aber fühlte er sich stark genug, den
Widerspruch der Außenwelt zu ertragen, so wenig er ihn leicht nehmen
konnte. Aber nunmehr gewann die Sache den Anblick, daß wir Menschen
auf die innere Welt gestellt sind und ihr treu bleiben sollen, auch
gegenüber der Undurchsichtigkeit der äußeren Geschicke und all ihrer
Hemmungen. Diese Undurchsichtigkeit selbst nimmt sich dabei anders aus,
wenn sich nunmehr das Gesamtbild des Lebens verändert. Müßten wir unser
höchstes Ziel darin finden, daß es uns wohl ergehe und wir lange leben
auf Erden, so wäre allerdings gegen jenen lähmenden Eindruck nicht
aufzukommen und der Unvernunft bliebe das letzte Wort. Nun aber haben
sich uns höhere Ziele aufgetan: es gilt einen inneren Aufstieg des
Lebens im Bereich der Menschheit, und dies kann bei der tatsächlichen
Schroffheit der Gegensätze nicht in ruhiger Entwicklung, sondern
nur durch Kampf und Schmerz, durch Wandlung und Entsagung hindurch
geschehen. Für solches inneres Aufklimmen, für dies »Stirb und Werde«
kann aber manches dienlich sein, was sich, äußerlich angesehen, wie ein
bloßer Verlust ausnimmt. Bringt das zunächst bloße Möglichkeiten, und
bleibt es uns in tiefes Dunkel gehüllt, woher so schroffe Gegensätze im
Weltbestande und so harte Widersprüche im menschlichen Wesen stammen:
alles Dunkel verkümmert uns nicht im mindesten den Aufstieg eines neuen
Lebens und die Verwandlung unseres Wesens dadurch. Stellen wir uns auf
diese eine Grundtatsache und halten uns fest an sie, so können alle
Rätsel der Weltlage uns nicht dem Zweifel zur Beute geben, so kann der
Widerstand selbst uns nur in der Überzeugung von der Ursprünglichkeit
und der Überlegenheit jener Grundwahrheit bestärken.
So vermögen wir uns mit dem Zweifel nicht zu verständigen, verstehen
aber können wir ihn sehr wohl. Es liegen schwere Verwicklungen und
ungeheure Widersprüche im Weltstande und im Menschenleben, die sich
aller Aufklärung durch menschliche Einsicht entziehen, die wir einfach
als Tatsachen hinnehmen müssen. Diesen Widerständen gewachsen und
überlegen werden können wir nur dadurch, daß wir uns selbst in die
Bewegung versetzen und sie als die unsrige führen, damit ihre Kraft
erfahren, damit in ihr eine unerschöpfliche Welt entdecken. Freilich
muß, wer die Bewegung teilt, auch ihre Mühen und Kämpfe teilen, auch
Zweifel werden ihn nicht verschonen. Aber die Zweifel liegen dann
innerhalb der Bewegung, ja sie entspringen erst aus ihr; so können sie
nun und nimmer ihre Tatsächlichkeit erschüttern, ja es kann der Zweifel
selbst zur Überwindung des Zweifels wirken. Denn vom Zweifel gilt
dasselbe, was von der moralischen Verwicklung: nichts hat die Menschen
mehr eines naturüberlegenen Lebens gewiß gemacht als das Gewahren
und Durchleben schwerer Probleme in der eigenen Seele; die völlige
Unmöglichkeit, diese Probleme liegen zu lassen, ward das sicherste
Zeugnis dafür, daß das Ganze keine bloße Einbildung ist; die Befassung
mit diesen Problemen ließ das Leben auf sich selber stehen und
unabhängig von seiner Umgebung werden, es gewann eben dadurch echte
Freiheit, daß es eine innere Notwendigkeit in sich aufnahm. Zugleich
erzeugte die Stärke des Schmerzes über den Nichtbesitz unentbehrlicher
Güter die Hoffnung, den Glauben, die felsenfeste Gewißheit, daß jenes,
was wir schmerzlich entbehren, irgendwie besteht und schließlich
auch uns zugehen wird. Wo hingegen der Zwang innerer Probleme fehlt,
der Mensch die Bewegung von außen her betrachtet und sie wie etwas
Fremdes von sich schiebt, da überwältigen ihn leicht die Eindrücke der
gleichgültigen oder feindseligen Welt, da verliert der Zweifel seine
aufrüttelnde und vorwärtstreibende Macht, da wird er matt und schlaff,
da weicht die Welt vor dem Menschen zurück, und alles kluge Räsonnement
vergrößert nur die damit entstehende Kluft. Mit Recht hatte Goethe
besondere Freude an der Erzählung von dem Wandeln Jesu auf dem Wasser,
alles Große verlangt einen festen Glauben, ja einen Trotz gegen die
Maße der Welt, während der Kleingläubige versinkt. Größe aber verlangt
das Leben durchgängig von dem zwischen zwei Lebensstufen befindlichen
Menschen, eine Größe, vor der alle Unterschiede gesellschaftlicher
Stellung verschwinden; so hatte Luther Recht, wenn er meint, niemand
dürfe den Glauben fahren lassen, daß Gott mit ihm große Dinge tun
wolle. Auch zusammenfassend dürfen wir mit Luther sagen. »Darum nur
getrost und frisch dahin gesetzt, was auch die Welt nehmen kann. Die
Wohnungen des Lebens sind viel weiter denn die Wohnungen des Todes.«


Die Folgerungen aus dem Gesamtbilde des Lebens.

Folgerungen für das Leben des Einzelnen.
Wie jede Lebensordnung sich am Dasein des Einzelnen zu bewähren hat, so
muß es auch die unsrige tun; sie tut das, indem sie auch im Einzelleben
eine hohe Aufgabe findet, ihm einen inneren Zusammenhang gibt, es den
Widersprüchen entwindet, die es zu zerstören drohen. Diese Widersprüche
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