Der Sinn und Wert des Lebens - 03

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herbeiführt, der alle berechtigten Wünsche zu erfüllen verspricht; ist
ein überschwängliches Glück unerreichbar, wie es die Religionen dem
Menschen versprachen, so kann doch recht viel zur Hebung des Daseins
geschehen, in tatkräftigem Wirken dafür kann der Mensch seinem Leben
ganz wohl einen Sinn und Wert verleihen. Ihm mag es bei solchem Zuge
ein nicht geringer Vorteil dünken, wenn die Bindungen und Hemmungen
entfallen, welche von den älteren Lebensordnungen her einen Druck
auf das Handeln üben, wenn der Mensch nunmehr allen Anregungen der
Erfahrungswelt mit voller Unbefangenheit nachgehen kann. Auch die
einzelnen Lebensgebiete müssen sich damit eigentümlich gestalten, sie
müssen an Schlichtheit, an seelischer Nähe und Wärme gewinnen, wenn
sie lediglich daraufhin angesehen und danach bemessen werden, was sie
dem Menschen als Menschen leisten. Aller Verwicklung der Weltprobleme
enthoben, sieht sich hier das Handeln vor erreichbare Ziele gestellt,
die doch keineswegs geringfügig sind und menschliche Kraft ganz
wohl in Bewegung zu setzen vermögen. So ist es sehr begreiflich, daß
ein derartiges Streben vielen Anklang fand und einen eigentümlichen
Lebensstrom erzeugte.
Solche Fassung des menschlichen Daseins muß auch den Gegensatz
eigentümlich gestalten, der von altersher durch die menschliche
Gemeinschaft geht, und dessen Zusammenstoß ein Hauptantrieb der
Bewegung auf diesem Gebiete ist, den Gegensatz des Gesamtstandes und
des Befindens der einzelnen Individuen, den Kampf darum, ob möglichste
Unterordnung unter das Ganze oder freie Bewegung der Einzelnen das
Hauptziel bilde, ob mehr das Gemeinsame oder das Eigentümliche den
Charakter des Lebens zu bestimmen habe, ob mehr eine Organisation oder
eine Emanzipation der Kräfte zu erstreben sei.
Dieser Gegensatz von Gesellschaft und Individuum, von Zusammenstreben
und Auseinandergehen, von Ordnung und Freiheit durchdringt in weitester
Fassung die ganze Weltgeschichte, er wirkt von ihr zur Gegenwart
sowohl aus der Arbeit der Jahrtausende als aus den Erfahrungen des
letzten Jahrhunderts. Nachdem der Verlauf des Altertums mehr und
mehr die überkommenen Ordnungen zersetzt und den Schwerpunkt des
Lebens den Individuen zugewiesen hatte, erfolgt gegen sein Ende ein
immer stärkerer Rückschlag zugunsten einer festeren Verbindung der
Kräfte, philosophische Schulen wie religiöse Kulte schließen die
Individuen enger zusammen und lassen sie einander helfen und stützen;
das Christentum nimmt die Bewegung auf und führt sie bei wachsendem
Verlangen nach einem sicheren Halt und nach Befreiung von eigener
Verantwortung schließlich dahin, daß die religiöse Gemeinschaft, die
Kirche, zur alleinigen Trägerin göttlicher Wahrheit und göttlichen
Lebens wird, der Einzelne einen Anteil daran nur durch ihre Vermittlung
erlangt. Wir wissen, wie das auch in die Gegenwart hinein eine große
Macht erstreckt.
Eine völlig entgegengesetzte Richtung verfolgt die Neuzeit durch alles
ihr eigentümliche Schaffen hindurch, sei es der Aufklärung, sei es des
Humanismus. Aus allen ihren Bildungen spricht der Glaube an den Wert
und das Vermögen der Individuen, so daß auf deren Wirken das Leben
zuversichtlich gestellt wird; nichts unterscheidet die Kulturarbeit der
modernen Völker mehr voneinander als das Gebiet und die Art, worin sie
den Freiheitsgedanken zur Herrschaft brachten; auch für das Leben der
Gegenwart hat jener seine Macht keineswegs eingebüßt, er erzeugt immer
neue Bewegung.
Sodann aber entsteht auf dem Boden des letzten Jahrhunderts von
verschiedenen Seiten her ein starkes Verlangen nach mehr Zusammenschluß
der Einzelnen zu einem Ganzen und nach ihrer Befestigung dadurch,
das aber sowohl aus der inneren Bewegung des geistigen Lebens als
durch neue Aufgaben und Verwicklungen auf dem Boden der Erfahrung.
Die spekulative Philosophie lief in eine Verkündigung eines alles
beherrschenden Gesamtgeistes aus, dem der Einzelne unbedingt dienen
müsse, stärker noch wirkte das Aufkommen einer historischen Denkart
mit ihrer Einfügung des Einzelnen in große Zusammenhänge, am stärksten
aber tat es das Aufkommen schroffer wirtschaftlicher Gegensätze, der
Konflikt von Arbeit und Kapital, der die Menschheit zu zerreiben
drohte und daher ein wachsendes Verlangen nach einer Ordnung ihrer
Verhältnisse durch die überlegene Macht des Staates hervorrief. Alles
miteinander hat manche auf die mittelalterliche Denkart zurückgreifen
lassen, vornehmlich aber hat es auf dem eigenen Boden der Zeit eine
neue Bewegung erzeugt, die Bewegung zu einer lediglich bei sich selbst
befindlichen und befriedigten Sozialkultur. Wieviel in der modernen
Gestaltung des Lebens ihr förderlich ist, daran wurde schon früher
erinnert; eben jene Gestaltung ließ den Menschen deutlich empfinden,
wie sehr er inmitten aller scheinbaren Freiheit am Ganzen hängt, ja
wie die freiere Bewegung selbst stark zur Einschränkung des Einzelnen
wirkt, indem sie ihn in mehr Berührung mit der Umgebung bringt und
deren Einfluß von allen Seiten auf ihn eindringen läßt. Alles derartige
zusammenfassend und die Kräfte zu gemeinsamer Arbeit verbindend,
erstrebt die moderne Sozialkultur eine Ordnung des menschlichen
Daseins, welche den Gesamtstand wesentlich hebt, im besonderen eine
Atmosphäre des Wohlwollens und des Wohlseins schafft, in der sich alle
Kräfte entfalten und alle Zustände bessern können. Es liegt in der
Natur der Sache, daß ein solches Wirken vornehmlich von außen nach
innen geht, daß es mit der Herstellung glücklicher Lebensbedingungen,
sowie zweckmäßiger Einrichtung des Zusammenlebens beginnt, in festem
Vertrauen darauf, daß dem ein Fortgang des Inneren entsprechen werde.
Denn was das Ganze gewinnt, das scheint sich notwendig auch in die
einzelnen Seelen zu senken. So wird hier das Handeln vornehmlich auf
die Umgebung gerichtet, es findet seine Höhe in eifrigem Wirken für
andere und das gesellschaftliche Ganze; damit wird alle Ethik zur
Sozialethik, und statt der Gottheit wird hier die Menschheit zum
Gegenstand der höchsten Verehrung. Demgemäß ist es auch die Leistung
für den gemeinsamen Lebensstand, die über die Bedeutung und die
Gestaltung der einzelnen Lebensgebiete, zum Beispiel der Kunst und der
Wissenschaft, entscheidet. Daß auch der Wahrheitsbegriff sich dieser
Denkweise anpassen kann, das zeigt der Pragmatismus, der, aus Amerika
stammend, auch in Europa zahlreiche Anhänger fand. Der Gefahr, die
von dieser Sozialkultur aus der Selbständigkeit der Individuen droht,
wird dadurch zu begegnen gesucht, daß sich mit jener Bewegung eine
demokratische Tendenz zu verbinden pflegt, das Streben, möglichst alle
zur unmittelbaren Teilnahme und Entscheidung aufzubieten und so einem
jeden die Ordnung des Ganzen auch zur eigenen Tat zu machen oder doch
als eine solche erscheinen zu lassen. Bemerkenswert ist auch, daß eben
auf modernem Boden das freie Zusammenleben und die eigene Bewegung der
Kräfte viel Organisation hervorgebracht hat, wie sie früher nur von
oben herab aus einer überlegenen Gedankenwelt möglich schien; denken
wir nur an die Gewerkschaften und ihr hervorragendes Wirken im Kriege!
Die Leistungen dieser Sozialkultur liegen deutlich zutage. Ihre
Richtung der Arbeit auf die Wohlfahrt aller hat viel Not und Härte
ausgetrieben, mehr Freude und Milde in das Leben gebracht, sie hat
hilfreiche Tätigkeit in alle Verzweigung des Daseins eingeführt,
jedem Menschenwesen ein Recht zuerkannt und es damit auch im eigenen
Bewußtsein gehoben, sie hat zugleich ein Gefühl der Verantwortlichkeit
jedes Einzelnen für den Stand des Ganzen geweckt, sie hat mit dem allen
eine höchst wertvolle Weiterbildung des menschlichen Daseins vollzogen.
Aber das alles berechtigt sie noch keineswegs zur ausschließlichen
Führung des Lebens; sie kann eine solche nicht unternehmen, ohne auch
ihre Schranken erkennen zu lassen. Diese Schranken betreffen aber
sowohl das hier gesteckte Ziel als die Mittel zu seiner Erreichung. Der
Mensch geht in Wahrheit nicht auf in das Verhältnis zum Nebenmenschen,
er hat auch ein Verhältnis zu sich selbst und in engem Zusammenhang
damit eins zum All und muß von daher Maße des Lebens entlehnen; auch
kann er sich unmöglich so in seinen Zustand verschließen und alles nach
der Wirkung dafür bemessen, daß ihm alles Gegenständliche gleichgültig
wird, da erst dessen Aneignung dem Leben eine innere Weite und zugleich
eine reine Freude zu geben vermag. Einem Wesen, das mit seinem Denken
sich zur Unendlichkeit und Ewigkeit zu erheben und von da den eigenen
Stand zu betrachten vermag, wird die bloße Wohlfahrt, ein möglichst
schmerzfreies und genußreiches Leben, und sei es auch das Leben
aller, ein viel zu geringes Ziel; auch dessen Erreichung beließe ihn
in einer völligen inneren Leere, die als endgültiger Stand gedacht
peinvoller ist als aller Schmerz. Wer direkt auf Glück im Sinne der
Wohlfahrt ausgeht, der muß alles Wagnis und Opfer möglichst fern von
sich halten und fein säuberlich gebahnte Heeresstraßen wandern, wo
doch die Erfahrung lehrt, daß der Weg zu hohen Zielen nur durch den
Schmerz von Zweifel und Verneinung geht, und daß bedeutende Kraft nur
das zu wecken vermochte, was nicht wegen des bloßen Glückes, sondern
aus dem Zwange geistiger Selbsterhaltung angestrebt wurde, wie immer
dabei das subjektive Befinden ausfallen mochte. Jenes allein vermag
dem Handeln einen heroischen Charakter zu geben, während das bloße
Glückverlangen es unvermeidlich einem Philistertum gröberer oder
feinerer Art überliefert. So droht das Voranstellen der Sorge um die
Bedingungen und Mittel des Lebens das Leben selbst schwer zu schädigen,
ja tief herabzusetzen. -- Auch die Menschheit böte insofern kein hohes
Ziel, als die Zusammenhänge der Sozialkultur ihr keine innere Einheit
zu geben vermögen und sie statt eines zusammengehörigen Ganzen in ein
bloßes Nebeneinander einzelner Elemente verwandeln; fast unvermeidlich
wird damit der Durchschnitt zur Norm, und die Masse muß die Menschheit
vertreten; so verstanden wird der Menschheitsgedanke auf den Einzelnen
eher niederdrückend als erhöhend wirken, er bedroht ihn mit der
Gefahr einer Verwischung der Unterschiede und einer abschleifenden
Gleichmacherei.
Aber angenommen, das Ziel der Sozialkultur bliebe unangefochten, wie
will sie die Kräfte und die Gesinnungen zu seiner Erreichung finden?
Sie hofft alles von einem Handeln für andere, einem »altruistischen«
Handeln, und sieht nicht, daß ein solches Handeln eine bewegende
Kraft nur erlangen kann, wenn der andere nicht bloß neben mir steht,
sondern mit mir durch eine innere Einheit des Lebens verbunden, in
mein geistiges Selbst aufgenommen wird. Aber ein derartiger Begriff
muß der Sozialkultur als schlechthin unverständlich erscheinen und
die Sache als unerreichbar; jene läßt den anderen neben mir stehen
und verlangt doch, daß ich meine Kraft für ihn einsetzen soll. Nie
aber kann ein Mensch oder ein Ding eine starke Bewegung erzeugen,
solange es nicht ein Bestandteil meines eigenen Lebens wird. Eine
solche Bewegung geht nur aus innerer Notwendigkeit, namentlich aus
unerträglichen Widersprüchen des eigenen Lebens hervor; nur sofern der
Mensch auf sich selber steht und für sich selber schafft, kann er etwas
erreichen, das auch den anderen wertvoll ist; wer vornehmlich an die
Wirkung bei anderen denkt, der hat damit auf das Erstgeburtsrecht des
Schaffens verzichtet. -- In der Gesinnung aber setzt die Sozialkultur
freundliche, wohlwollende, zahme Menschen voraus, Menschen, die
kein radikales Böses kennen, nichts von wilden Leidenschaften und
dunklen Abgründen der Seele wissen, denen alles Dämonische oder
gar Diabolische, zugleich freilich auch alles Heroische, eine
unverständliche Größe ist. Mußten wir schon früher bezweifeln, ob
die Menschen so zahm, so gutartig sind, so hat der gegenwärtige
Krieg solchen Zweifel wohl zu vollem Siege gebracht. Damit aber wird
der Sozialkultur eine Hauptstütze entzogen, dem Bösen gegenüber hat
sie keine Wehr. Bei solchen Bedenken verkennen wir keineswegs die
Bedeutung edler Humanität und rastloser Hilfstätigkeit, die nach jener
Richtung hin entfaltet wird, auch nicht den Wert des Strebens, alles
Menschenbild zu heben und zur Selbsttätigkeit zu berufen; aber das
geschieht nur unter Überschreitung der begrifflichen Schranken jener
Lebensordnung, die Leistung geht hier, wie so oft, weit über die Lehre
hinaus. Im besonderen erhält die Menschheit oft einen tieferen Sinn,
als der eigene Boden der Sozialkultur begründet, sie wird, oft in
Nachwirkung der älteren Lebensordnungen, ein hoher Idealbegriff, der
echte Begeisterung erweckt. Solche Verschiebung der Begriffe macht dem
Herzen der Bekenner alle Ehre, das Problem aber löst sie nicht.
Diese Gefahren und Schranken mußten auch innerhalb der Menschenkultur
zur Empfindung kommen und eine Gegenbewegung erzeugen. Das ergab
die Bildung einer Individualkultur, welche sich ebenfalls ganz und
gar auf den Boden der Erfahrung stellt und jede Abhängigkeit des
menschlichen Daseins von weiteren Zusammenhängen ablehnt, welche aber
innerhalb der Erfahrung einen völlig anderen Ausgangspunkt nimmt,
nämlich das Fürsichsein, den seelischen Zustand des Individuums. Indem
sie die Sozialkultur als eine Mechanisierung und Schablonisierung
des Lebens bekämpft, stellt sie ihr ein Leben entgegen, welches
vornehmlich das Individuum zu stärken, es unter Befreiung von
aller Bindung ganz auf sich selbst zu stellen und zur vollen
Ausprägung seiner Eigentümlichkeit zu bringen verspricht. Indem sie
alle Lebensverhältnisse und alle Lebensgebiete zu Mitteln für die
Entfaltung und den Selbstgenuß des Individuums macht und zugleich
alles, was von der Vergangenheit zu uns wirkt, in lebendige Gegenwart
verwandelt, ergibt sich viel Freiheit und Frische, ein überströmender
Reichtum verschiedener Bildungen, entsteht ein leichtbeschwingtes,
freischwebendes, frohgestimmtes Leben; es wird sich selbst um so
mehr zu verstärken glauben, je mehr es das Unterscheidende pflegt
und den Abstand von anderen hervorkehrt; die Freude, etwas Eigenes,
Unabhängiges, Unvergleichliches zu sein, wird alles Tun durchdringen
und heben; Hauptgehilfen dieses Lebens werden Kunst und Literatur,
natürlich in einem besonderen Sinne verstanden.
Zustimmung hat diesem Leben namentlich sein Widerspruch gegen den
Massencharakter und die Gleichförmigkeit der Sozialkultur gebracht;
daß es mit seiner Auflösung des Daseins in lauter Einzelpunkte und
seinem Mangel alles Kernes unmöglich das Menschenleben ausfüllen und
führen kann, das bedarf keiner näheren Darlegung. Nur das sei bemerkt,
daß die Individualkultur im Kern ihrer Behauptung denselben Fehler
begeht wie die Sozialkultur: wie diese aus der Menschheit unversehens
etwas weit besseres macht als ihre Begriffe gestatten, so muß die
Individualkultur das Individuum idealisieren, um es zum Hauptträger
des Lebens machen und in ihm dessen Hauptzweck finden zu können. Sie
denkt dies Individuum als groß und als Quell einer starken Bewegung,
mit höchsten Problemen befaßt und eine Welt der Wahrheit und Schönheit
in der eigenen Seele erbauend. Aber woher soll das alles innerhalb
des gegebenen Daseins kommen, dem doch einmal das Individuum nur ein
Glied einer weitschichtigen Verkettung bedeutet, nicht eine Stätte
ursprünglichen Lebens, nicht den Durchbruchspunkt einer neuen Welt. Wie
die Individualkultur das Individuum versteht, kann die ihm beigelegte
Selbständigkeit nur eine erträumte und das daraus entstehende Leben nur
ein eingebildetes sein. Schätzbare Anregungen im einzelnen und manche
vollberechtigte Kritik seien dabei dieser Individualkultur bereitwillig
zugestanden.
So scheitert die bloße Menschenkultur in jeder der Richtungen, die
sie einschlagen kann, und zwischen denen sie wählen muß; weder das
Zusammenstreben noch das Auseinandergehen der Menschen gibt dem Leben
einen Sinn und Wert und läßt die Seele ein Beisichselbstsein erreichen.
Denn auch die Individualkultur gelangt nicht zu einem solchen, da sie
die Seele in lauter einzelne Lagen und Stimmungen zersplittert, ohne
ihnen eine Einheit des Wesens und eine Innenwelt entgegenzusetzen.
Wenn die Ausführung beider Arten der Menschenkultur die Oberfläche
überschreitet, so tut sie das in schroffem Widerspruch mit der
Grundbehauptung des Ganzen.
Das empfindet auch die Gegenwart immer stärker, schon vor dem
Kriege war vielfach das Bloßmenschliche als viel zu klein erkannt
und mit dem Überdruß an seinem selbstgefälligen Gebaren eine tiefe
Sehnsucht nach Durchbrechung seiner Schranken und nach Erringung
eines weiteren, reineren, wahreren Leben erwacht. Augenscheinlich
wurde, daß die Ablösung des Menschen von der großen Welt und die
Bildung eines Sonderkreises ihn einer Enge und Kleinheit überliefert,
die er selbst auf die Dauer nicht aushält, die ihm die Tiefe seines
eigenen Wesens verschließt. So hörten wir viel von Übermenschlichem
und von Übermenschen reden. Aber alle echte und innige Sehnsucht,
die aus solchem Streben spricht, führt über ein ungestümes Wogen und
Wallen der Seele nicht hinaus, wenn dieses Übermenschliche innerhalb
der Welt der Erfahrung gesucht wird. Denn viel zu streng binden
hier den Menschen Natur und Schicksal, und zwar mehr noch von innen
als von außen, als daß ein kühner Aufschwung ihn davon befreien und
ein neues Leben schaffen könnte. Es muß das Menschenwesen überhaupt
einer inneren Umwandlung und Erhöhung fähig sein, wenn der Einzelne
wesentlich mehr aus sich machen soll; sonst ist alles Mühen verloren.
Der Krieg hat uns diese Wahrheit noch stärker eingeprägt, er stellt
uns die Unzulänglichkeit des bloßen Menschen und damit aller bloßen
Menschenkultur so deutlich vor Augen, daß nur eine flache Denkweise
sich folgendem Dilemma entziehen kann: entweder steht das Menschenleben
in tieferen Zusammenhängen und schöpft aus ihnen neue Ziele und Kräfte,
welche die bloße Wohlfahrt des Menschen überschreiten, oder das ganze
menschliche Sein ist eine, freilich unbegreifliche, Verirrung des
Weltlaufs, und alles Streben nach einem Sinn und Wert unseres Lebens
ist zu sicherem Scheitern verdammt. Es wäre ein großer Gewinn unserer
harten Zeit, wenn sie uns dieses Entweder -- Oder klar durchschauen
ließe und damit allen verwirrenden und verflachenden Mittelgebilden ein
dauerndes Ende bereitete.

Erwägungen und Vorbereitungen.
Wir sahen, daß es der Gegenwart an Bestrebungen nach kräftiger
Zusammenfassung des Lebens keineswegs fehlt, auch daß diese
Bestrebungen in Vorhaltung beherrschender Ziele den Lebensstand
schärfer beleuchtet und das Handeln vielfach aufgerüttelt haben.
Aber wir sahen auch, daß keine dieser Bestrebungen sich zu sicherer
Herrschaft über die anderen hinaushebt, daß sie nicht nur weit
auseinandergehen, sondern einander schroff widersprechen und das
Leben unter widerstreitende Antriebe stellen. Besonders gilt das von
dem Gegensatz der älteren und der neueren Denkart, der Versuch einer
Ausgleichung verbietet sich bei ihm ganz und gar. Hatte die ältere
Denkart, namentlich die religiöse, alle Hingebung an die sichtbare
Welt als einen Raub an einer höheren Ordnung und als ein Sinken des
Lebens von unerläßlicher Höhe behandelt, so besteht die neuere um so
mehr auf einer vollen Selbständigkeit, ja Ausschließlichkeit dieser
Welt, so gilt ihr alle Befassung mit übersinnlichen Dingen als eine
Verirrung des Strebens und eine Vergeudung der Kraft; des einen Gott
ist dem anderen zum Abgott geworden. Da ein so harter Widerspruch
ein freundliches Sichvertragen unbedingt ausschließt, so müßte eine
der Antworten die Oberhand gewinnen; auch das aber zeigte sich als
unmöglich. Die Lebensordnungen, die auf dem Boden der älteren Denkart
stehen, wie Religion und weltlicher Idealismus, entbehren in der
Kulturarbeit der Gegenwart einer sicheren Begründung und festen
Stellung, die modernen Denkweisen aber entsprechen viel zu wenig
den durch die Gesamtgeschichte der Menschheit eröffneten Tiefen des
Lebens, um einen Abschluß bieten zu können; so finden wir das Alte
erschüttert, auch vielfach in einer für uns zu engen Gestalt, das Neue
aber verbleibt in einer Fläche, über die wir notwendig hinausgehen
müssen. Dazu spalten sich die Hauptströme wieder in verschiedene Äste
mit weit auseinandergehender Richtung. Auf dem Boden der unsichtbaren
Welt sieht die Religion am Menschen die Schwäche, der weltliche
Idealismus die Stärke; jene spaltet die Wirklichkeit, diese verlangt
ihre Einheit. Innerhalb der modernen Daseinskultur aber ziehen die
Versuche einer Einfügung des Menschen in die Natur und einer Ausbildung
seines besonderen Kreises nach verschiedener Richtung, jene wird dieser
leicht zu kalt und seelenlos, diese jener zu eng und dumpf. Und die
Unversöhnlichkeit von Sozial- und Individualkultur trat mit voller
Klarheit vor Augen.
Indem alles dies nicht nur Verschiedenartige, sondern Entgegengesetzte
auf uns eindringt, und dabei gerade das Streben nach Einheit die
Geister auseinanderführt und ihre Zerwerfung steigert, entsteht eine
geistige Anarchie, deren buntes Durcheinander den Augenblick ergötzen
mag, die aber für die Dauer zur Zerstörung wirken muß. Denn sie macht
alles ungewiß, was bisher als sicherer Besitz galt, und läßt Zweifel
und Streit an den tiefsten Wurzeln des Lebens nagen. Die Neuzeit
stritt zuerst über die nähere Fassung und Begründung der Religion,
schließlich wird ihr das Ganze der Religion zur Frage; vor den
Verwicklungen der Metaphysik fliehen wir in das Gebiet der praktischen
Vernunft und suchen in der Moral eine unangreifbare Wahrheit, bald
aber wird auch diese zunächst in ihrer überkommenen Fassung, dann
aber auch im Grundgedanken angegriffen und erschüttert. Gegenüber
solchem Unsicherwerden ganzer Lebensgebiete schien wenigstens der
Mensch als Ganzes, als lebendige Persönlichkeit, zu bleiben und einen
gewissen Halt zu gewähren, aber auch hier zeigt ein genaueres Zusehen
bald, daß der Streit sich auch auf jenen vermeintlich sicheren Träger
erstreckt, und daß im Begriff der Persönlichkeit ganz verschiedene,
ja entgegengesetzte Fassungen durcheinanderlaufen; eben das, was dem
einen an ihr groß erscheint, das erklärt der andere für verwerflich.
Die Ausdehnung und die Tiefe der Erschütterung entgeht uns leicht,
weil der Einzelne sie zunächst nur im Gebiet seiner eigenen Arbeit
empfindet und annimmt, daß es draußen besser steht. Ein Überblick des
Ganzen zeigt aber bald, daß die Unsicherheit eine durchgängige ist, und
daß keinerlei gemeinsames Lebensideal die heutige Menschheit verbindet.
Alles miteinander ergibt eine geistige Krise, wie sie so gewaltig in
der ganzen Vergangenheit nicht war, denn auch die größten Umwälzungen
früherer Zeiten beließen eine gewisse Gemeinsamkeit des geistigen
Lebensraumes, sie veränderten mehr die Wege als die letzten Ziele
selber. Heute gibt es in prinzipiellen Fragen keinen einzigen Punkt,
auf den wir uns aus der Verwirrung als auf ein gemeinsames Bekenntnis
zurückziehen könnten.
Eine derartige Auflösung versetzt eine hochentwickelte Kultur in
eine höchst peinliche Lage. Zahlreiche Kräfte sind da und fordern
Beschäftigung, eine genügende Bindung aber und eine sichere
Zielrichtung fehlt; so suchen sie tastend umher und erzeugen statt
echten Lebens mehr ein bloßes Lebenwollen, ein Sehnen und Haschen
nach Leben. Das ist ein Stand, wo eine freischwebende Reflexion die
Stelle geistigen Schaffens erschleicht, wo eine flache Klugheit eine
ungebührliche Macht erlangt, eine große Gewandtheit oft mit innerer
Leere zusammengeht, wo wir alles sagen können, was wir sagen wollen,
wo wir nur nichts Rechtes zu sagen haben. Ein solches Leben entbehrt
wie eines gehaltvollen Kernes, so auch eines festen Haltes und eines
sicheren Maßes, es läßt den Menschen wehrlos gegen all den Wirbel
von Eindrücken und Anregungen, der unaufhörlich auf ihn eindringt,
zugleich macht es ihn unfähig, Wesenhaftes und Wesenloses, Wahres
und Scheinbares, Bedeutendes und Unbedeutendes im Bestande der Zeit
auseinanderzuhalten, alles fließt ihm durcheinander, und der Wechsel
der Strömungen der Zeitoberfläche wirft ihn bald hierher, bald dahin,
läßt ihm aber dabei den Schein, als ob er selber denke.
Dazu die Zersplitterung der Menschheit, die ein solches
Auseinandergehen des Lebens erzeugt. Indem die Individuen nach der
Besonderheit ihrer Art, ihrer Lage, ihrem Beruf an verschiedenen
Punkten Stellung nehmen und verschiedene Richtungen wählen, entsteht
eine Sonderung in Sekten und Parteien, es droht ein Behandeln
aller Probleme vom Standpunkt der Partei, ein Verschwinden innerer
Gemeinschaft, die Gefahr einer seelischen Vereinsamung inmitten aller
Fülle äußerer Berührung. Unsere Welten spalten sich immer mehr, bis
schließlich jeder nur in seiner Privatwelt lebt. Eine solche innere
Vereinsamung erträgt die Menschheit nicht auf die Dauer. Zugleich muß
auch der Stand des geistigen Schaffens sinken. Und mit dem Schaffen
sinkt auch der Glaube, sein Zwillingsbruder. Vollauf verständlich wird
von hier aus, wie unsere Zeit, im Durchschnitt des Kulturbürgertums
betrachtet, sich als eine Zeit des Unglaubens, des Mäkelns und
Verkleinerns darstellt, des Unglaubens nicht an bloße Dogmen, sondern
an das Leben selbst und an sein Vermögen zur inneren Erhöhung und
Erneuerung. Was daraus an Stockung und Hemmung hervorgeht, das wiegen
alle äußeren Erfolge nicht auf.
Eine derartige Lage mag so lange keinen tiefen Schmerz bereiten und
keine Gegenbewegung erzeugen, solange der Einzelne sie nur wie ein
draußen vorgehendes Schauspiel betrachtet; sie muß unerträglich werden,
sobald sie zur eigenen Erfahrung, zum eigenen Erlebnis wird. Daß sie
das aber wird, dahin wirkt der gegenwärtige Weltkrieg mit elementarer
Gewalt; um den ungeheuren Aufgaben und Schicksalen nicht zu erliegen,
die er uns bringt, bedarf der Mensch eines festen Haltes und eines
sicheren Zieles; eine Kultur, die ihm das nicht bietet, droht zum
bloßen Schein zu werden, zu einem Kulturersatz, wie man das mit einer
heutigen Wendung sagen könnte.
* * * * *
Aber so schwer wir das alles nehmen, vergessen sei nicht, daß
keineswegs unser ganzes Leben in die geschilderten Gegensätze aufgeht,
daß vielmehr manches in ihm von der Verwicklung unberührt bleibt.
Denken wir nur an das kräftige nationale Leben der Gegenwart, an
die moderne Wissenschaft, an die moderne Technik! Unsere Zeit ist
grundverschieden vom ausgehenden Altertum, dem es zu Unrecht oft
gleichgestellt wird; denn während damals eine greisenhafte Ermattung
durch die Gemüter ging und außer der Religion sich alle Lebensgebiete
in trauriger Stockung befanden, sehen wir heute die regste Tätigkeit,
ein gewaltiges Vordringen an manchen Stellen, ein Erwachen immer neuer
Probleme. Darin freilich liegt die Schranke, daß die Bewegung mehr
auf die einzelnen Gebiete als auf das Ganze des Menschen geht, daß
die Expansion die Konzentration weit überwiegt, daß die verschiedenen
Antriebe und Ansätze sich nicht zueinander finden. Hier ist ein
schweres Problem, ja ein gefährlicher Notstand unverkennbar; aber
diese Begrenzung der Frage ist doch eine entschiedene Abweisung eines
völligen Pessimismus.
Auch das wollen wir ja nicht übersehen, daß die Bildung so
verschiedener Lebensströme nicht nur eine Schwäche, sondern auch
eine Stärke der Gegenwart bedeutet. Zeigt dieser Reichtum von
Bildungen doch, daß wir den verschiedenen Anregungen eine große
Offenheit entgegenbringen und die Lebensfragen mit besonderer
Energie ergreifen; so kommt vieles erst jetzt zur deutlichen
Aussprache, was früher verborgen blieb oder doch abgeschwächt wurde.
Die Gegensätze, unter denen wir jetzt leiden, sind wahrlich nicht
von gestern und heute, jede genauere Betrachtung entdeckt sie auch
in früheren Zeiten. Aber zu unversöhnlichen Widersprüchen sind sie
erst uns gewachsen, die wir, schon weil wir geschichtlich denken
und die Zeiten miteinander vergleichen, das Eigentümliche und
Unterschiedliche der Lebensgestaltungen schärfer sehen, zugleich aber
aus einem stärkeren Einheitsverlangen uns nicht wie das Mittelalter
mit einem bloßen Nebeneinander und einer geschickten Abstufung der
verschiedenen Gestalten begnügen können. So ist nicht sowohl unser
Vermögen kleiner als die Aufgabe größer geworden; die Aufgabe aber
hat nicht menschlicher Eigensinn ersonnen, es legt sie uns eine
weltgeschichtliche Notwendigkeit auf. Sie ist uns zunächst ein
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