L'Adultera: Roman - 10

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sie groß sind, ist viel Wasser den Rhein hinuntergelaufen. Und dann
darfst du nicht vergessen, es waren nicht gerade die glänzendsten
~metteurs en scène~, die es in die Hand nahmen. Unser Riekchen ist
lieb und gut, und du hast sie gern, zu gern vielleicht; aber auch du
wirst nicht behaupten wollen, daß die Stiftsanwärterin auf Kloster
Himmelpfort an die Pforten ewiger Weisheit geklopft habe. Jedenfalls
ist ihr nicht aufgemacht worden. Und Jakobine! ~Pardon~, sie hat etwas
von einer Prinzessin, aber von einer, die die Lämmer hütet.«
»Ach, Ruben,« sagte Melanie, »du sagst so vieles durcheinander. Aber
das rechte Wort sagst du nicht. Du sagst nichts, was mich aufrichten,
mich vor mir selbst wieder herstellen könnte. Mein eigen Kind hat mir
den Rücken gekehrt. Und daß es noch ein Kind ist, das gerade ist das
Vernichtende. Das richtet mich.«
Er schüttelte den Kopf und sagte: »Du nimmst es zu schwer. Und glaubst
du denn, daß Mütter und Väter außerhalb aller Kritik stehen?«
»Wenigstens außerhalb +der+ ihrer Kinder.«
»Auch +der+ nicht. Im Gegenteil, die Kinder sitzen überall zu Gericht,
still und unerbittlich. Und Lydia war immer ein kleiner Großinquisitor,
wenigstens genferischen Schlages, und an ihr läßt sich die
Rückschlagstheorie studieren. Ihr Urahne muß mitgestimmt haben, als man
Servet verbrannte. Mich hätte sie gern mit auf dem Holzstoß gesehen, so
viel steht fest. Und nun, laß uns schweigen davon. Ich muß noch in die
Stadt.«
»Ich bitte dich, was ist? Was gibts?«
»Eine Konferenz. Und es wird sich nicht vermeiden lassen, daß wir nach
ihrem Abschluß zusammen bleiben. Ängstige dich nicht und vor allem
erwarte mich nicht. Ich hasse junge Frauen, die beständig am Fenster
passen, ›ob er noch nicht kommt‹ und mit dem Wächter unten auf du und
du stehen, nur, um immer eine Heil-Ablieferungsgarantie zu haben. Ich
perhorresziere das. Und das beste wird sein, du gehst früh zu Bett
und schläfst es aus. Und wenn wir uns morgen früh wiedersehen, wirst
du mir vielleicht zustimmen, daß Lydia Bescheidenheit lernen muß und
daß zehnjährige dumme Dinger, Fräulein Liddi mit eingeschlossen, nicht
dazu da sind, sich zu Sittenrichterinnen ihrer eigenen Frau Mama
aufzuwerfen.«
»Ach, Ruben, das sagst du nur so. Du fühlst es anders und bist zu klug
und zu gerecht, als daß du nicht wissen solltest, das Kind hat recht.«
»Es mag recht haben. Aber ich auch. Und jedenfalls gibt es Ernsteres
als das. Und nun Gott befohlen.«
Und er nahm seinen Hut und ging.
Melanie wachte noch, als Rubehn wieder nach Hause kam. Aber erst am
andern Morgen fragte sie nach der Konferenz und bemühte sich darüber
zu scherzen. Er seinerseits antwortete in gleichem Ton und war wie
gestern ersichtlich bemüht, mit Hilfe lebhaften Sprechens einen Schirm
aufzurichten, hinter dem er, was eigentlich in ihm vorging, verbergen
konnte.
So vergingen Tage. Seine Lebhaftigkeit wuchs, aber mit ihr auch seine
Zerstreutheit, und es kam vor, daß er mehrere Male dasselbe fragte.
Melanie schüttelte den Kopf und sagte: »Ich bitte dich, Ruben, wo bist
du? sprich.« Aber er versicherte nur, »es sei nichts, und sie forsche,
wo nichts zu forschen sei. Zerstreutheit wäre ein Erbstück in der
Familie, kein gutes, aber es sei einmal da, und sie müsse sich damit
einleben und daran gewöhnen«. Und dann ging er, und sie fühlte sich
freier, wenn er ging. Denn das rechte Wort wurde nicht gesprochen und
+er+, der die Last ihrer Einsamkeit verringern sollte, verdoppelte sie
nur durch seine Gegenwart.
Und nun war Ostern. Anastasia sprach am Ostersonntag auf eine halbe
Stunde vor, aber Melanie war froh, als das Gespräch ein Ende nahm und
die mehr und mehr unbequem werdende Freundin wieder ging. Und so kam
auch der zweite Festtag, unfestlich und unfreundlich wie der erste,
und als Rubehn über Mittag erklärte, »daß er abermals eine Verabredung
habe«, konnte sie's in ihrer Herzensangst nicht länger ertragen und
sie beschloß in die Kirche zu gehen und eine Predigt zu hören. Aber
wohin? Sie kannte Prediger nur von Taufen und Hochzeiten her, wo sie,
neben Frommen und Nichtfrommen, manch liebes Mal bei Tisch gesessen
und beim Nachhausekommen immer versichert hatte: »Geht mir doch mit
eurem Pfaffenhaß. Ich habe mich mein Lebtag nicht so gut unterhalten,
wie heute mit Pastor Käpsel. Ist das ein reizender alter Herr! Und
so humoristisch und beinahe witzig. Und schenkt einem immer ein und
stößt an und trinkt selber mit, und sagt einem verbindliche Sachen.
Ich begreif' euch nicht. Er ist doch interessanter als Reiff oder gar
Duquede.«
Aber nun eine Predigt! Es war seit ihrem Einsegnungstage, daß sie keine
mehr gehört hatte.
Endlich entsann sie sich, daß ihr Christel von Abendgottesdiensten
erzählt hatte. Wo doch? In der Nikolaikirche. Richtig. Es war weit,
aber desto besser. Sie hatte so viel Zeit übrig und die Bewegung in der
frischen Luft war seit Wochen ihr einziges Labsal. So machte sie sich
auf den Weg und als sie die große Petristraße passierte, sah sie zu den
erleuchteten Fenstern des ersten Stockes auf. Aber +ihre+ Fenster waren
dunkel und auch keine Blumen davor. Und sie ging rascher und sah sich
um, als verfolge sie wer, und bog endlich in den Nikolaikirchhof ein.
Und nun in die Kirche selbst.
Ein paar Lichter brannten im Mittelschiff, aber Melanie ging an der
Schattenseite der Pfeiler hin, bis sie der alten reichgeschmückten
Kanzel gerad' gegenüber war. Hier waren Bänke gestellt, nur drei oder
vier, und auf den Bänken saßen Waisenhauskinder, lauter Mädchen in
blauen Kleidern und weißen Brusttüchern, und dazwischen alte Frauen,
das graue Haar unter einer schwarzen Kopfbinde versteckt, und die
meisten einen Stock in Händen oder eine Krücke neben sich.
Melanie setzte sich auf die letzte Bank und sah, wie die kleinen
Mädchen kicherten und sich anstießen und immer nach ihr hinsahen
und nicht begreifen konnten, daß eine so feine Dame zu solchem
Gottesdienste käme. Denn es war ein Armen-Gottesdienst und deshalb
brannten auch die Lichter so spärlich. Und nun schwieg Lied und Orgel,
und ein kleiner Mann erschien auf der Kanzel, dessen sie sich von
ein paar großen und überschwänglichen Bourgeoisbegräbnissen her sehr
wohl entsann, und von dem sie mehr als einmal in ihrer übermütigen
Laune versichert hatte, »er spräche schon vorweg im Grabsteinstil. Nur
nicht so kurz.« Aber heute sprach er kurz und pries auch keinen, am
wenigsten überschwänglich, und war nur müd und angegriffen, denn es
war der zweite Feiertag abend. Und so kam es, daß sie nichts Rechtes
für ihr Herz finden konnte, bis es zuletzt hieß: »Und nun, andächtige
Gemeinde, wollen wir den vorletzten Vers unsres Osterliedes singen.«
Und in demselben Augenblicke summte wieder die Orgel und zitterte, wie
wenn sie sich erst ein Herz fassen oder einen Anlauf nehmen müsse, und
als es endlich voll und mächtig an dem hohen Gewölbe hinklang und die
Spittelfrauen mit ihren zittrigen Stimmen einfielen, rückten zwei von
den kleinen Mädchen halb schüchtern an Melanie heran und gaben ihr ihr
Gesangbuch und zeigten auf die Stelle. Und sie sang mit:
Du lebst, du bist in Nacht mein Licht,
Mein Trost in Not und Plagen,
Du weißt, was alles mir gebricht,
Du wirst mir's nicht versagen.
Und bei der letzten Zeile reichte sie den Kindern das Buch zurück und
dankte freundlich und wandte sich ab, um ihre Bewegung zu verbergen.
Dann aber murmelte sie Worte, die ein Gebet vorstellen sollten, und es
vor dem Ohr dessen, der die Regungen unseres Herzens hört, auch wohl
waren, und verließ die Kirche so still und seitab, wie sie gekommen war.
In ihre Wohnung zurückgekehrt, fand sie Rubehn an seinem Arbeitstische
vor. Er las einen Brief, den er, als sie eintrat, beiseite schob. Und
er ging ihr entgegen und nahm ihre Hand und führte sie nach ihrem
Sofaplatz.
»Du warst fort?« sagte er, während er sich wieder setzte.
»Ja, Freund. In der Stadt ... In der Kirche.«
»In der Kirche! Was hast du da gesucht?«
»Trost.«
Er schwieg und seufzte schwer. Und sie sah nun, daß der Augenblick da
war, wo sich's entscheiden müsse. Und sie sprang auf und lief auf ihn
zu und warf sich vor ihm nieder und legte beide Arme auf seine Knie:
»Sage mir, was ist es? Habe Mitleid mit mir, mit meinem armen Herzen.
Sieh, die Menschen haben mich aufgegeben und meine Kinder haben sich
von mir abgewandt. Ach, so schwer es war, ich hätt' es tragen können.
Aber daß du, +du+ dich abwendest von mir, das trag' ich nicht.«
»Ich wende mich nicht ab von dir.«
»Nicht mit deinem Auge, wiewohl es mich nicht mehr sieht, aber mit
deinem Herzen. Sprich, mein Einziger, was ist es? Es ist nicht
Eifersucht, was mich quält. Ich könnte keine Stunde leben mehr, wär' es
+das+. Aber ein anderes ist es, was mich ängstigt, nicht viel Besseres:
ich habe deine Liebe nicht mehr. Das ist mir klar, und unklar ist mir
nur das eine, wodurch ich sie verscherzt. Ist es der Bann, unter dem
ich lebe und den du mit zu tragen hast? Oder ist es, daß ich so wenig
Licht und Sonnenschein in dein Leben gebracht und unsere Einsamkeit
auch noch in Betrübsamkeit verwandelt habe? Oder ist es, daß du mir
mißtraust? Ist es der Gedanke an das alte »heute dir und morgen mir«. O
sprich. Ich will dich nicht leiden sehen. Ich werde weniger unglücklich
sein, wenn ich dich glücklich weiß. Auch getrennt von dir. Ich will
gehen, jede Stunde. Verlang' es und ich tu es. Aber reiße mich aus
dieser Ungewißheit. Sage mir, was es ist, was dich drückt, was dir das
Leben vergällt und verbittert. Sage mir's. Sprich.«
Er fuhr sich über Stirn und Auge, dann nahm er den beiseite geschobenen
Brief und sagte: »Lies.«
Melanie faltete das Blatt auseinander. Es waren Zeilen vom alten
Rubehn, dessen Handschrift sie sehr wohl kannte. Und nun las sie:
»Frankfurt, Ostersonntag. Ausgleich gescheitert. Arrangiere was
sich arrangieren läßt. In spätestens acht Tagen muß ich unsere
Zahlungseinstellung aussprechen. M. R. ...«
In Rubehns Mienen ließ sich, als sie las, erkennen, daß er einer neuen
Erschütterung gewärtig war. Aber wie sehr hatte er sie verkannt,
sie, die viel, viel mehr war, als ein bloß verwöhnter Liebling
der Gesellschaft, und eh' ihm noch Zeit blieb über seinen Irrtum
nachzudenken, hatte sie sich schon in einem wahren Freudenjubel erhoben
und ihn umarmt und geküßt und wieder umarmt.
»O, nur das! ... O, nun wird alles wieder gut ... Und was eurem Hause
Unglück bedeutet, mir bedeutet es Glück, und nun weiß ich es, es
kommt alles wieder in Schick und Richtung, weit über all mein Hoffen
und Erwarten hinaus ... Als ich damals ging, und das letzte Gespräch
mit ihm hatte, sieh, da sprach ich von den Menschlichen unter den
Menschen. Und es ist mir, als wär' es gestern gewesen. Und auf diese
Menschlichen baut' ich meine Zukunft und rechnete darauf, daß sie's
versöhnen würde: ich liebte dich! Aber es war ein Fehler, und auch die
Menschlichen haben mich im Stich gelassen. Und jetzt muß ich sagen,
sie hatten recht. Denn die Liebe tut es nicht und die Treue tut es
auch nicht. Ich meine die Werkeltagstreue, die nichts Besseres kann,
als sich vor Untreue bewahren. Es ist eben nicht viel, treu zu sein,
wo man liebt und wo die Sonne scheint und das Leben bequem geht und
kein Opfer fordert. Nein, nein, die bloße Treue tut es nicht. Aber die
bewährte Treue, +die+ tut es. Und nun kann ich mich bewähren und will
es und werd' es, und nun kommt +meine+ Zeit. Ich will nun zeigen, was
ich kann, und will zeigen, daß alles Geschehene nur geschah, weil es
geschehen mußte, weil ich dich liebte, nicht aber weil ich leicht und
übermütig in den Tag hineinlebte und nur darauf aus war, ein bequemes
Leben in einem noch bequemeren fortzusetzen.«
Er sah sie glücklich an und der Ausdruck des Selbstsuchtslosen in
Wort und Miene riß ihn aus der tiefen Niedergedrücktheit seiner Seele
heraus. Er hoffte nun selber wieder, aber Bangen und Zweifel liefen
nebenher, und er sagte bewegt: »Ach, meine liebe Melanie, du warst
immer ein Kind und du bist es auch in diesem Augenblicke noch. Ein
verwöhntes und ein gutes, aber doch ein Kind. Sieh, von deinem ersten
Atemzuge an hast du keine Not gekannt, ach, was sprech' ich von Not,
nie, solange du lebst, ist dir ein Wunsch unerfüllt geblieben. Und
du hast gelebt wie im Märchen von ›Tischlein decke dich‹ und das
Tischlein +hat+ sich dir gedeckt, mit allem, was du wolltest, mit
allem, was das Leben hat, auch mit Schmeicheleien und Liebkosungen.
Und du bist geliebkost worden wie ein King-Charles-Hündchen mit einem
blauen Band und einem Glöckchen daran. Und alles, was du getan hast,
das hast du spielend getan. Ja, Melanie, spielend. Und nun willst du
auch spielend entbehren lernen und denkst: es findet sich. Oder denkst
auch wohl, es sei hübsch und apart und schwärmst für die Poetenhütte,
die Raum hat für ein glücklich liebend Paar, oder wenigstens haben
+soll+. Ach, es liest sich erbaulich von dem blankgescheuerten Eßtisch
und dem Maienbusch in jeder Ecke und von dem Zeisig, der sich das
Futternäpfchen selber heranzieht. Und es ist schon richtig: die gemalte
Dürftigkeit sieht geradeso gut aus, wie der gemalte Reichtum. Aber
wenn es aufhört Bild und Vorstellung zu sein und wenn es Wirklichkeit
und Regel wird, dann ist Armut ein bitteres Brot, und Muß eine harte
Nuß.«
Es war umsonst. Sie schüttelte nur den Kopf immer wieder, und sagte
dann in jener einschmeichelnden Weise, der so schwer zu widerstehen
war: »Nein, nein, du hast unrecht. Und es liegt alles anders, ganz
anders. Ich hab' einmal in einem Buche gelesen, und nicht in einem
schlechten Buche, die Kinder, die Narren und die Poeten, die hätten
immer recht. Vielleicht überhaupt, aber von ihrem Standpunkt aus
ganz gewiß. Und ich bin eigentlich alles drei's, und daraus magst
du schließen, wie +sehr+ ich recht habe. Dreifach recht. ›Ich will
spielend entbehren lernen,‹ sagst du. Ja, Lieber, das will ich, das ist
es, um was es sich handelt. Und du glaubst einfach, ich könn' es nicht.
Ich kann es aber, ich kann es ganz gewiß, so gewiß ich diesen Finger
aufhebe, und ich will dir auch sagen, warum ich es kann. Den einen
Grund hast du schon erraten: weil ich es mir so romantisch denke, so
hübsch und apart. Gut, gut. Aber du hättest auch sagen können, weil ich
andere Vorstellungen von Glück habe. Mir ist das Glück etwas anderes
als ein Titel oder eine Kleiderpuppe. +Hier+ ist es, oder nirgends. Und
so dacht' ich und fühlt' ich immer, und so war ich immer und so bin
ich noch. Aber wenn es auch anders mit mir stünde, wenn ich auch an
dem Flitter des Daseins hinge, so würd' ich doch die Kraft haben, ihm
zu entsagen. +Ein+ Gefühl ist immer das herrschende, und seiner Liebe
zuliebe kann man alles, alles. Wir Frauen wenigstens. Und +ich+ gewiß.
Ich habe so vieles freudig hingeopfert und ich sollte nicht einen
Teppich opfern können! Oder einen Vertiko! Ach, einen Vertiko!« und
sie lachte herzlich. »Entsinnst du dich noch, als du sagtest: »Alles
sei jetzt Enquete.« Das war damals. Aber die Welt ist inzwischen
fortgeschritten und jetzt ist alles Vertiko!«
Er war nicht überzeugt, seine praktisch-patrizische Natur glaubte nicht
an die Dauer solcher Erregungen, aber er sagte doch: »Es sei. Versuchen
wir's. Also ein neues Leben, Melanie!«
»Ein neues Leben! Und das erste ist, wir geben diese Wohnung auf
und suchen uns eine bescheidenere Stelle. Mansarde klingt freilich
anspruchslos genug, aber dieser Trumeau und diese Bronzen sind um so
anspruchsvoller. Ich habe nichts gelernt und das ist gut, denn wie die
meisten, die nichts gelernt haben, weiß ich allerlei. Und mit Toussaint
L'Ouverture fangen wir an, nein, nein, mit Toussaint-Langenscheidt, und
in acht Tagen oder doch spätestens in vier Wochen geb' ich meine erste
Stunde. Wozu bin ich eine Genferin! Und nun sage: Willst du? Glaubst
du?«
»Ja.«
»Topp.«
Und sie schlug in seine Hand und zog ihn unter Lachen und Scherzen in
das Nebenzimmer, wo das Vrenel in Abwesenheit des Dieners eben den
Teetisch arrangiert hatte.
Und sie hatten an diesem Unglückstage wieder einen ersten glücklichen
Tag.


22
Versöhnt

Und Melanie nahm es ernst mit jedem Worte, das sie gesagt hatte. Sie
hatte dabei ganz ihre Frische wieder und eh ein Monat um war, war
die modern und elegant eingerichtete Wohnung gegen eine schlichtere
vertauscht und das Stundengeben hatte begonnen. Ihre Kenntnis des
Französischen und beinahe mehr noch ihr glänzendes musikalisches, auch
nach der technischen Seite hin vollkommen ausgebildetes Talent hatten
es ihr leicht gemacht, eine Stellung zu gewinnen, und zwar in ein paar
großen, schlesischen Häusern, die gerade vornehm genug waren, den
Tagesklatsch ignorieren zu können.
Und bald sollte es sich herausstellen, wie nötig diese raschen und
resoluten Schritte gewesen waren, denn der Zusammensturz erfolgte
jäher als erwartet und jede Form der Einschränkung erwies sich als
geboten, wenn nicht mit der finanziellen Reputation des großen Hauses
auch die bürgerliche verloren gehen sollte. Jede neue Nachricht, von
Frankfurt her, bestätigte dies und Rubehn, der anfangs nur allzu
geneigt gewesen war, den Eifer Melanies für eine bloße Opferkaprice
zu nehmen, sah sich alsbald gezwungen, ihrem Beispiele zu folgen. Er
trat als amerikanischer Korrespondent in ein Bankhaus ein, zunächst mit
nur geringem Gehalt, und war überrascht und glücklich zugleich, die
berühmte Poetenweisheit von der »kleinsten Hütte« schließlich an sich
selber in Erfüllung gehn zu sehn.
Und nun folgten idyllische Wochen, und jeden neuen Morgen, wenn sie
von der Wilmersdorfer Feldmark her am Rande des Tiergartens hin
ihren Weg nahmen und an ihrer alten Wohnung vorüberkamen, sahen sie
zu der eleganten Mansarde hinauf und atmeten freier, wenn sie der
zurückliegenden schweren und sorgenreichen Tage gedachten. Und dann
bogen sie plaudernd in die schmalen, schattigen Gänge des Parkes
ein, bis sie zuletzt unter der schrägliegenden Hängeweide fort, die
zwischen dem Königsdenkmal und der Luiseninsel steht und hier beinahe
den Weg sperrt, in die breite Tiergartenstraße wieder einmündeten.
Den schrägliegenden Baum aber nannten sie scherzhaft ihren Zoll- und
Schlagbaum, weil sich dicht hinter demselben ein Leiermann postiert
hatte, dem sie Tag um Tag ihren Wegezoll entrichten mußten. Er
kannte sie schon, und während er die große Mehrheit, als wären es
Steuerdefraudanten, mit einem zornig-verächtlichen Blicke verfolgte,
zog er vor unserem jungen Paare regelmäßig seine Militärmütze. Ganz
aber konnt' er sich auch ihnen gegenüber nicht zwingen und verleugnen,
und als sie den schon Pflicht gewordenen Zoll eines Tages vergessen
oder vielleicht auch absichtlich nicht entrichtet hatten, hörten sie,
daß er die Kurbel in Wut und Heftigkeit noch dreimal drehte und dann so
jäh und plötzlich abbrach, daß ihnen ein paar unfertige Töne wie Knurr-
und Scheltworte nachklangen. Melanie sagte: »Wir dürfen es mit niemand
verderben, Ruben; Freundschaft ist heuer rar.« Und sie wandte sich
wieder um und ging auf den Alten zu und gab ihm. Aber er dankte nicht,
weil er noch immer in halber Empörung war.
Und so verging der Sommer und der Herbst kam, und als das Laub sich
zu färben und an den Ahorn- und Platanenbäumen auch schon abzufallen
begann, da hatte sich bei denen, die Tag um Tag unter diesen Bäumen
hinschritten, manches geändert und zwar zum Guten geändert. Wohl hieß
es auch jetzt noch, wenn sie den alten Invaliden unter ihrerseits
devotem Gruße passierten, »daß sie der neuen Freundschaften noch nicht
sicher genug seien, um die bewährten alten aufgeben zu können,« aber
diese neuen Freundschaften waren doch wenigstens in ihren Anfängen
da. Man kümmerte sich wieder um sie, ließ sie gesellschaftlich
wieder aufleben, und selbst solche, die bei dem Zusammenbrechen der
Rubehnschen Finanzherrlichkeit nur Schadenfreude gehabt und je
nach ihrer klassischen oder christlichen Bildung und Beanlagung von
»Nemesis« oder »Finger Gottes« gesprochen hatten, bequemten sich jetzt,
sich mit dem hübschen Paare zu versöhnen, »das so glücklich und so
gescheit sei, und nie klage und sich so liebe.« Ja, sich so liebe.
+Das+ war es, was doch schließlich den Ausschlag gab, und wenn vorher
ihre Neigung nur Neid und Zweifel geweckt hatte, so schlug jetzt die
Stimmung in ihr Gegenteil um. Und nicht zu verwundern! War es doch ein
und dasselbe Gefühl, was bei Verurteilung und Begnadigung zu Gerichte
saß, und wenn es anfangs eine sensationelle Befriedigung gewährt
hatte, sich in Indignation zu stürzen, so war es jetzt eine kaum
geringere Freude, von den »Inséparables« sprechen und über ihre »treue
Liebe« sentimentalisieren zu können. Eine kleine Zahl Esoterischer
aber führte den ganzen Fall auf die Wahlverwandtschaften zurück und
stellte wissenschaftlich fest, daß einfach seitens des stärkeren
und deshalb berechtigteren Elements das schwächere verdrängt worden
sei. Das Naturgesetzliche habe wieder mal gesiegt. Und hiermit sah
sich denn auch der einen Winter lang auf den Schild gehobene Van der
Straaten abgefunden und teilte das Schicksal aller Saisonlieblinge,
noch schneller vergessen als erhoben zu werden. Ja, der Spott und die
Bosheit begannen jetzt ihre Pfeile gegen ihn zu richten, und wenn des
Falles ausnahmsweise noch gedacht wurde, so hieß es: »Er hat es nicht
anders gewollt. Wie kam er nur dazu? Sie war siebzehn! Allerdings, er
soll einmal ein ~lion~ gewesen sein. Nun gut. Aber wenn dem ›Löwen‹
zu wohl wird ...« Und dann lachten sie und freuten sich, daß es so
gekommen, wie es gekommen.
Ob Van der Straaten von diesen und ähnlichen Äußerungen hörte?
Vielleicht. Aber es bedeutete ihm nichts. Er hatte sich selbst zu
skeptisch und unerbittlich durchforscht, als daß er über die Wandlungen
in dem Geschmacke der Gesellschaft, über ihr Götzenschaffen und
Götzenstürzen auch nur einen Augenblick erstaunt gewesen wäre. Und so
durfte denn von ihm gesagt werden, »er hörte, was man sprach, auch wenn
er es +nicht+ hörte.« Weg über das Urteil der Menschen, galt ihm nur
eines ebensowenig oder noch weniger: ihr Mitleid. Er war immer eine
selbständige Natur gewesen, frei und fest, und so war er geblieben. Und
auch derselbe geblieben in seiner Nachsicht und Milde.
Und der Tag kam, wo sich's zeigen und auch Melanie davon erfahren
sollte.
Es war schon ausgangs Oktober und nur wenig gelbes und rotes Laub hing
noch an den halb kahl gewordenen Bäumen. Das meiste lag abgeweht in den
Gängen und wurde, wo's trocken war, zusammengeharkt, denn seit gestern
hatte sich das Wetter wieder geändert und nach langen Sturm- und
Regentagen schien eine wundervolle Herbstessonne. Vielleicht die letzte
dieses Jahres.
Und auch Aninettchen wurde hinausgeschickt und blieb heute länger fort
als erwartet, bis endlich um die vierte Stunde die Magd in großer
Aufregung heimkam und in ihrem schweren Schweizer-Deutsch über ein eben
gehabtes Erlebnis berichtete. Sie hab' auf der Bank g'sesse, wo die
vier Löwe das Brückle halte, und hätt' ebe g'sagt: »Sieh, Aninettle,
des isch der alt Weibersommer, der will di einspinne, aber der hat
di no lang nit,« un das Aninettl hab' grad g'juchzt un lacht un n'am
Ohrring g'langt, do wäre zwei Herre über die Brück komme, so gute
funfzig, aber schon auf der Wipp, und einer hätt' g'sagt, e langer
Spindelbein: »Schau des Silberkettle; des isch e Schweizerin; un i
wett, des isch e Kind vom Schweizer G'sandte.« Aber do hat der andre
g'sagt: »Nei, des kann nit sein; den Schweizer G'sandte, den kenn i,
un der hat kein Kind un kein Kegel ...« Un do hat er z'mir g'sagt: »Ah
nu, wem g'hört das Kind?« Und da hab' i g'sagt: »Dem Herr Rubehn, un's
isch e Mädle, un heißt Aninettl.« Un do hab' i g'sehn, daß er sich
verfärbt hat und hat wegg'schaut. Aber nit lang, da hat er sich wieder
umg'wandt und hat g'sagt: »'s isch d' Mutter, und lacht auch so, un hat
dieselbe schwarze Haar'. Es isch e schön's Kindle. Findscht nit au?«
Aber er hat's nit finde wolle und hat nur g'sagt: Ȇbertax es nit. Es
gibt mehr so. Un's ischt e Kind aus 'm Dutzend.« Jo, so hat er g'sagt,
der garstige Spindelbein: »'s gibt mehr so, un's ischt e Kind aus 'm
Dutzend.« Aber der gute Herre, der hat's Pätschle g'nomme un hat's
g'streichelt. Un hat mi g'lobt, deß i so brav un g'scheit sei. Jo, so
hat er g'sagt. Und dann sind sie gange.«
All das hatte seines Eindrucks nicht verfehlt und Melanie war während
der Tage, die folgten, immer wieder auf diese Begegnung zurückgekommen.
Immer wieder und wieder hatte die Vreni jedes Kleinste nennen und
beschreiben müssen, und so war es durch Wochen hin geblieben, bis
endlich in den großen und kleinen Vorbereitungen zum Feste der ganze
Vorfall vergessen worden war.
Und nun war das Fest selber da, der heilige Abend, zu dem auch diesmal
Rubehns jüngerer Bruder und der alte Prokurist, die sich zur Rückkehr
nach Frankfurt nicht hatten entschließen können, geladen waren. Auch
Anastasia.
Melanie, die noch vor Eintreffen ihres Besuchs allerlei
Wirtschaftliches anzuordnen hatte, war ganz Aufregung und erschrak
ordentlich, als sie gleich nach Dunkelwerden und lange vor der
festgesetzten Stunde die Klingel gehen hörte. Wenn das schon die Gäste
wären! Oder auch nur einer von ihnen. Aber ihre Besorgnis währte nicht
lange, denn sie hörte draußen ein Fragen und Parlamentieren und gleich
darauf erschien das Vrenel und trug eine mittelgroße Kiste herein, auf
der, ohne weitere Adresse, bloß das eine Wort »Julklapp« zu lesen war.
»Ist es denn für uns, Vreni?« fragte Melanie.
»I denk schon. I hab' ihm g'sagt: ›'s isch der Herr Rubehn, der hier
wohnt. Und die Frau Rubehn.‹ Un do hat er g'sagt: ›'s isch schon recht;
des isch der Nam'‹. Un do hab' i's g'nomme.«
Melanie schüttelte den Kopf und ging in Rubehns Stube, wo man sich nun
gemeinschaftlich an das Öffnen der Kiste machte. Nichts fehlte von den
gewöhnlichen Julklapps-Zutaten und erst als man unten am Boden eines
großen Gravensteiner Apfels gewahr wurde, sagte Melanie: »Gib acht.
Hierin steckt es.« Aber es ließ sich nichts erkennen, und schon wollte
sie den Gravensteiner, wie alles andere, beiseite legen, als sich durch
eine zufällige Bewegung ihrer Hand die geschickt zusammengepaßten
Hälften des Apfels auseinanderschoben. »~Ah, voilà.~« Und wirklich,
an Stelle des Kernhauses, das herausgeschnitten war, lag ein in
Seidenpapier gewickeltes Päckchen. Sie nahm es, entfernte langsam und
erwartungsvoll eine Hülle nach der andern und hielt zuletzt ein kleines
Medaillon in Händen, einfach ohne Prunk und Zierrat. Und nun drückte
sie's an der Feder auf und sah ein Bildchen und erkannt' es und es
entfiel ihrer Hand. Es war, ~en miniature~, der Tintoretto, den sie
damals so lachend und übermütig betrachtet und für dessen Hauptfigur
sie nur die Worte gehabt hatte: »Sieh, Ezel, sie hat geweint. Aber ist
es nicht, als begriffe sie kaum ihre Schuld?«
Ach, sie fühlte jetzt, daß das alles auch für sie selbst gesprochen
war, und sie nahm das ihrer Hand entfallene Bildchen wieder auf und gab
es an Ruben und errötete.
Dieser spielte damit hin und her und sagte dann, während er die Feder
wieder zuknipste: »~King Ezel in all his glories!~ Immer derselbe.
Wohlwollend und ungeschickt. Ich werd' es tragen. Als Uhrgehäng, als
Berlocke.«
»Nein, +ich+. Ach, du weißt nicht, wie viel es mir bedeutet. Und es
soll mich erinnern und mahnen ... jede Stunde ...«
»Meinetwegen. Aber nimm es nicht tragischer als nötig und grüble nicht
zuviel über das alte leidige Thema von Schuld und Sühne.«
»Du bist hochmütig, Ruben.«
»Nein.«
»Nun gut. Dann bist du stolz.«
»Ja, das bin ich, meine süße Melanie. Das bin ich. Aber auf was? Auf
+wen+?«
Und sie umarmten sich und küßten sich, und eine Stunde später brannten
ihnen die Weihnachtslichter in einem ungetrübten Glanz.

Ende


Werke von Theodor Fontane:

+Irrungen Wirrungen.+ Roman.
+Graf Petöfy.+ Roman.
+Schach von Wuthenow.+ Erzählung aus der Zeit des Regiments
Gensdarmes.
+Stine.+ Berliner Sittenroman.
+Kriegsgefangen.+ Erlebtes 1870.
+Aus den Tagen der Occupation.+ Eine Osterreise.
+Frau Jenny Treibel.+ Roman.
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