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L'Adultera: Roman - 03
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immer mit. Und sein ewiger Samtrock wird ihn auch nicht retten. Nicht
ihn und nicht euch. Oder wollt ihr mir das alles als himmlischen Zauber
kredenzen? Ich sag' euch, fauler Zauber. Und das ist es, was ich
zweierlei Maß genannt habe. Den Murillozauber möchtet ihr zu Hexerei
stempeln und die Wagnerhexerei möchtet ihr in Zauber verwandeln. Ich
aber sag' euch, es liegt umgekehrt, und wenn es +nicht+ umgekehrt
liegt, so sollt ihr mir wenigstens keinen Unterschied machen. Denn
es ist schließlich alles ganz egal und mit Permission zu sagen alles
Jacke ...«
Der aus der vergleichendsten Kleidersprache genommene Berolinismus,
mit dem er seinen Satz abzuschließen gedachte, wurde auch wirklich
gesprochen, aber er verklang in einem Getöse, das der Major durch einen
geschickt kombinierten Angriff von Gläserklopfen und Stuhlrücken in
Szene zu setzen gewußt hatte. Zugleich begann er: »Meine verehrten
Freunde, das Wort Hexenmeister ist gefallen. Ein vorzügliches Wort!
So lassen wir sie denn leben, alle diese Tannhäuser, wobei sich jeder
das Seine denken mag. Ich trinke auf das Wohl der Hexenmeister. Denn
alle Kunst ist Hexerei. Rechten wir nicht mit dem Wort. Was sind Worte?
Schall und Rauch. Stoßen wir an. Hoch, hoch.«
Und mit einer wohlgemeinten Kraftanstrengung, in der jetzt jeder
zitternde Ton fehlte, wurde zugestimmt, namentlich auch von seiten
der beiden Maler, und kaum einer war da, der nicht an eine glücklich
beseitigte Gefahr geglaubt hätte. Aber mit Unrecht. Van der Straaten,
absolut unerzogen, konnte, vielleicht weil er dies Manko fühlte,
nichts so wenig ertragen, als auf Unerzogenheiten aufmerksam gemacht
zu werden: er vergaß sich dann ganz und gar, und der Dünkel des
reichen Mannes, der gewohnt war zu helfen, nach allen Seiten hin zu
helfen, stieg ihm dann zu Kopf und schlug in Wellen über ihm zusammen.
Und so auch jetzt. Er erhob sich und sagte: »Kupierungen sind etwas
Wundervolles. Keine Frage. Ich beispielsweise kupiere Kupons. Ein
inferiores Geschäft, das unter Umständen nichtsdestoweniger einen
Anspruch darauf gibt, gegen Wort- und Redekupierungen gesichert zu
sein, namentlich gegen solche, die reprimandieren und erziehen wollen.
Ich bin erzogen.«
Er hatte mit vor Erregung zitternder Stimme gesprochen, aber mit
zugekniffenem Auge fest zu dem Major hinübergesehen. Dieser, ein
vollkommener Weltmann, lächelte vor sich hin und blinkte nur leise
den beiden Damen zu, daß sie sich beruhigen möchten. Dann ergriff er
sein Glas ein zweites Mal, gab seinen Zügen, ohne sich sonderlich
anzustrengen, einen freundlichen Ausdruck und sagte zu Van der
Straaten: »Es ist so viel von Kupieren gesprochen worden; kupieren wir
auch das. Ich lebe der festen Überzeugung ...«
In eben diesem Augenblicke sprang der Pfropfen von einer der im
Weinkühler stehenden Flaschen und Gryczinski, rasch den Vorteil
erspähend, den er aus diesem Zwischenfalle ziehen konnte, brach
inmitten des Satzes ab und sagte nur, während er, unter leiser
Verbeugung, seines Schwagers Glas füllte: »Friede sei ihr erst Geläute!«
Solchem Appell zu widerstehen, war Van der Straaten der letzte. »Mein
lieber Gryczinski,« hob er in plötzlich erwachter Sentimentalität an,
»wir verstehen uns, wir haben uns immer verstanden. Gib mir deine Hand.
Lacrymae Christi, Friedrich. Rasch. Das Beste daran ist freilich der
Name. Aber er hat ihn nun mal. Jeder hat nun mal das Seine, der eine
dies, der andre das.«
»Allerdings,« lachte Gabler.
»Ach Arnold, du überschätzt das. Glaube mir, der Selige hatte recht.
Gold ist nur Schimäre. Und Elimar würd' es mir bestätigen, wenn es
nicht ein Satz aus einer überwundenen Oper wäre. Ich muß sagen,
leider überwunden. Denn ich liebe Nonnen, die tanzen. Aber da kommt
die Flasche. Laß nur Staub und Spinnweb. Sie muß in ihrer ganzen
unabgeputzten Heiligkeit verbleiben. Lacrymae Christi. Wie das klingt!«
Und die frühere Heiterkeit kehrte wieder oder schien wenigstens
wiederzukehren, und als Van der Straaten fortfuhr, in wahren
Ungeheuerlichkeiten über Christustränen, Erlöserblut und
Versöhnungswein zu sprechen, durfte Melanie schließlich die Bemerkung
wagen: »Du vergißt, Ezel, daß der Polizeirat katholisch ist.«
»Ich bitte recht sehr,« sagte Reiff, als ob er auf etwas Unerlaubtem
ertappt worden wäre.
Van der Straaten aber verschwor sich hoch und teuer, daß ein vierzig
Jahre lang treu geleisteter Sicherheitsdienst über alles konfessionelle
Plus oder Minus hinaus entscheidend sein und vor dem Richterstuhle
der Ewigkeit angerechnet werden müsse. Und als bald darauf die Gläser
abermals gefüllt und geleert worden waren, rückte Melanie den Stuhl,
und man erhob sich, um im Nebenzimmer den Kaffee zu nehmen.
6
Auf dem Heimwege
Die Kaffeestunde verlief ohne Zwischenfall, und es war bereits gegen
zehn, als der Diener meldete, daß der Wagen vorgefahren sei. Diese
Meldung galt dem Gryczinskischen Paare, das, an den Dinertagen, seine
Heimfahrt in der ihm bei dieser Gelegenheit ein für allemal zur
Verfügung gestellten kommerzienrätlichen Equipage zu machen pflegte.
Mäntel und Hüte wurden gebracht, und die schöne Jakobine, Hals und
Kopf in ein weißes Filettuch gehüllt, stand alsbald in der Mitte des
Kreises und wartete lachend und geduldig auf die beiden Maler, denen
Gryczinski noch im letzten Augenblicke die Mitfahrt angeboten hatte.
Das Parlamentieren darüber wollte kein Ende nehmen, und erst als man
unten am Wagenschlage stand, entschied sich's und Gabler placierte
sich nunmehr ohne weiteres auf den Rücksitz, während Elimar mit einem
kräftigen Turnerschwunge seinen Platz auf dem Bocke nahm, angeblich
aus Rücksicht gegen die Wageninsassen, in Wahrheit aus eigener
Bequemlichkeit und Neugier. Er sehnte sich nämlich nach einem Gespräche
mit dem Kutscher.
Dieser, auch noch ein Erbstück aus des alten Van der Straaten Zeiten
her, führte den unkutscherlichen Namen Emil, der jedoch seit lange
seinen Verhältnissen angepaßt und in ein plattdeutsches »Ehm« abgekürzt
worden war. Mit um so größerem Recht, als er wirklich in Fritz
Reuterschen Gegenden das Licht der Welt erblickt und sich bis diesen
Tag, neben seinem Berliner Jargon, einen Rest heimatlicher Sprache
konserviert hatte. Elimar, einer seiner Bevorzugten, nahm gleich im
ersten Momente des Zurechtrückens ein mehrklappiges Lederfutteral
heraus, steckte dem Alten eine der obenaufliegenden Zigarren zu und
sagte vertraulich: »Für'n Rückweg, Ehm.«
Dieser fuhr mit der Rechten dankend an seinen Kutscherhut und damit
waren die Präliminarien geschlossen.
Als sie bald darauf bei der Normaluhr auf dem Spittelmarkte vorüber
kamen und in eine der schlechtgepflasterten Seitenstraßen einbogen,
hielt Elimar den ersehnten Zeitpunkt für gekommen und sagte:
»Ist denn der neue Herr schon da?«
»Der Frankfurtsche? Ne, noch nich, Herr Schulze.«
»Na, dann muß er aber doch bald ...«
»I, woll. Bald muß er. Ich denke, so nächste Woche. Un de Stuben sind
ooch all tapziert. Jott, se duhn ja, wie wenn't en Prinz wär', erst der
Herr un nu ooch de Jnädge. Un Christel meent, he sall man en Jüdscher
sinn.«
»Aber reich. Und Offizier. Das heißt bei der Landwehr oder so.«
»Is et möglich?«
»Und er soll auch singen.«
»Ja, singen wird er woll.«
Elimar war eitel genug, an dieser letzteren Äußerung Anstoß zu nehmen,
und da sich's gerade traf, daß in eben diesem Augenblicke der Wagen aus
dem Wallstraßenportal auf den abendlich-stillen Opernplatz einbog, so
gab er das Gespräch um so lieber auf, als er nicht wollte, daß dasselbe
von den Insassen des Wagens verstanden würde.
Von seiten dieser war bis dahin kein Wort gewechselt worden, nicht
aus Verstimmung, sondern nur aus Rücksicht gegen die junge Frau, die,
herzlich froh über den zur Hälfte freigebliebenen Rücksitz, ihre
kleinen Füße gegen das Polsterkissen gestemmt und sich bequem in den
Fond des Wagens zurückgelehnt hatte. Sie war gleich beim Einsteigen
ersichtlich müde gewesen, hatte, wie zur Entschuldigung, etwas von
Champagner und Kopfweh gesprochen, das Filettuch dabei höher gezogen
und ihre Augen geschlossen. Erst als sie zwischen dem Palais und dem
Friedrichsmonumente hinfuhren, richtete sie sich wieder auf, weil sie
jenen Allerloyalsten zugehörte, die sich schon beglückt fühlen, einen
bloßen Schattenriß an dem herabgelassenen Vorhange des Eckfensters
gesehn zu haben. Und wirklich, sie sah ihn und gab in ihrer reizenden,
halb kindlich, halb koketten Weise, der Freude darüber Ausdruck.
Ihr Geplauder hatte noch nicht geendet, als der Wagen am Brandenburger
Tore hielt. Im Nu waren beide Maler, deren Weg hier abzweigte, von
ihren Plätzen herunter und empfahlen sich dankend dem liebenswürdigen
Paare, das nun seinerseits durch die breite Schrägallee auf das
Siegesdenkmal und die dahinter gelegene Alsenstraße zufuhr.
Als sie mitten auf dem von bunten Lichtern überstrahlten Platze waren,
schmiegte sich die schöne junge Frau zärtlich an ihren Gatten und
sagte: »War das ein Tag, Otto. Ich habe dich bewundert.«
»Es wurde mir leichter, als du denkst. Ich spiele mit ihm. Er ist ein
altes Kind.«
»Und Melanie! ... Glaube mir, sie fühlt es. Und sie tut mir leid. Du
lächelst so. Dir nicht?«
»Ja und nein, ~ma chère~. Man hat eben nichts umsonst in der Welt. Sie
hat eine Villa und eine Bildergalerie ...«
»Aus der sie sich nichts macht. Du weißt ja, wie wenig sie daran
hängt ...«
»Und hat zwei reizende Kinder ...«
»Um die ich sie fast beneide.«
»Nun, siehst du,« lachte der Major. »Ein jeder hat die Kunst zu lernen,
sich zu bescheiden und einzuschränken. Wär' ich mein Schwager, so würd'
ich sagen ...«
Aber sie schloß ihm den Mund mit einem Kuß, und im nächsten Augenblicke
hielt der Wagen.
* * * * *
Die beiden Räte, der Legations- und der Polizeirat, waren an der Ecke
des Petriplatzes in eine Droschke gestiegen, um bis an das Potsdamer
Tor zu fahren. Von hier aus wollten sie den Rest des Weges, um der
frischen Abendluft willen, zu Fuß machen. In Wahrheit aber hielten sie
bloß zu dem Satze, »daß man im Kleinen sparen müsse, um sich im Großen
legitimieren zu können,« wobei leider nur zu bedauern blieb, daß ihnen
die »großen Gelegenheiten« entweder nie gekommen, oder regelmäßig von
ihnen versäumt worden waren.
Unterwegs, solange die Fahrt dauerte, war kein Wort gewechselt worden,
und erst beim Aussteigen hatte, bei der nun nötig werdenden Division
von 2 in 6, ein Gespräch begonnen, das alle Parteien zufriedengestellt
zu haben schien. Nur nicht den Kutscher. Beide Räte hüteten sich
deshalb auch, sich nach dem letzteren umzusehen, vor allem Duquede,
der, außerdem noch ein abgeschworener Feind aller Platzübergänge mit
Eisenbahnschienen und Pferdebahngeklingel, überhaupt erst wieder in
Ruhe kam, als er die schon frisch in Knospen stehende Bellevuestraße
glücklich erreicht hatte.
Reiff folgte, schob sich artig und respektvoll an die linke Seite des
Legationsrates und sagte plötzlich und unvermittelt:
»Es war doch wieder eine recht peinliche Geschichte heute. Finden Sie
nicht? Und ehrlich gestanden, ich begreif' ihn nicht. Er ist doch nun
fünfzig und darüber und sollte sich die Hörner abgelaufen haben. Aber
er ist und bleibt ein Durchgänger.«
»Ja,« sagte Duquede, der einen Augenblick still stand, um Atem zu
schöpfen, »etwas Durchgängerisches hat er. Aber, lieber Freund, warum
soll er es nicht haben? Ich taxier' ihn auf eine Million, seine Bilder
ungerechnet, und ich sehe nicht ein, warum einer in seinem eigenen
Haus und an seinem eigenen Tisch nicht sprechen soll, wie ihm der
Schnabel gewachsen ist. Ich bekenn' Ihnen offen, Reiff, ich freue mich
immer, wenn er mal so zwischenfährt. Der Alte war auch so, nur viel
schlimmer, und es hieß schon damals, vor vierzig Jahren: »Es sei doch
ein sonderbares Haus und man könne eigentlich nicht hingehen.« Aber
uneigentlich ging alles hin. Und so war es, und so ist es geblieben.«
»Es fehlt ihm aber doch wirklich an Bildung und Erziehung.«
»Ach, ich bitte Sie, Reiff, gehen Sie mir mit Bildung und Erziehung.
Das sind so zwei ganz moderne Wörter, die der »Große Mann« aufgebracht
haben könnte, so sehr hass' ich sie. Bildung und Erziehung. Erstlich
ist es in der Regel nicht viel damit, und wenn es mal was ist, dann ist
es auch noch nichts. Glauben Sie mir, es wird überschätzt. Und kommt
auch nur bei uns vor. Und warum? Weil wir nichts Besseres haben. Wer
gar nichts hat, der ist gebildet. Wer aber so viel hat, wie Van der
Straaten, der braucht all die Dummheiten nicht. Er hat einen guten
Verstand und einen guten Witz, und was noch mehr sagen will, einen
guten Kredit. Bildung, Bildung. Es ist zum Lachen.«
»Ich weiß doch nicht, ob Sie recht haben, Duquede. Ja, wenn es
geblieben wäre, wie früher. Junggesellenwirtschaft. Aber nun hat er die
junge Frau geheiratet, jung und schön und klug ...«
»Nu, nu, Reiff. Nur nicht extravagant. Es ist damit nicht soweit her,
wie Sie glauben; sie ist 'ne Fremde, französische Schweiz, und an allem
Fremden verkucken sich die Berliner. Das ist wie Amen in der Kirche.
Sie hat so ein bißchen Genfer Schick. Aber was will das am Ende sagen.
Alles was die Genfer haben, ist doch auch bloß aus zweiter Hand. Und
nun gar klug. Ich bitte Sie, was heißt klug? Er ist viel klüger. Oder
glauben Sie, daß es auf 'ne französische Vokabel ankommt? oder auf den
Erlkönig? Ich gebe zu, sie hat ein paar niedliche Manierchen und weiß
sich unter Umständen ein Air zu geben. Aber es ist nicht viel dahinter,
alles Firlefanz, und wird kolossal überschätzt.«
»Ich weiß doch nicht, ob Sie recht haben,« wiederholte der Polizeirat.
»Und dann ist sie doch schließlich von Familie.«
Duquede lachte. »Nein, Reiff, +das+ ist sie nun schließlich nicht.
Und ich sag' Ihnen, da haben wir den Punkt, auf dem ich keinen Spaß
verstehe. Caparoux. Es klingt nach was. Zugestanden. Aber was heißt es
denn am Ende? Rotkapp oder Rotkäppchen. Das ist ein Märchenname, aber
kein Adelsname. Ich habe mich darum gekümmert und nachgeschlagen. Und
im Vertrauen, Reiff, es gibt gar keine de Caparoux.«
»Aber bedenken Sie doch den Major! Er hat alle Sorten Stolz und wird
sich doch schwerlich eine Mesalliance nachsagen lassen wollen.«
»Ich kenn' ihn besser. Er ist ein Streber. Oder sagen wir einfach,
er ist ein Generalstäbler. Ich hasse die ganze Gesellschaft, und
glauben Sie mir, Reiff, ich weiß warum. Unsere Generalstäbler werden
überschätzt, kolossal überschätzt.«
»Ich weiß doch nicht, ob Sie recht haben,« ließ sich der Polizeirat ein
drittes Mal vernehmen. »Bedenken Sie bloß, was Stoffel gesagt hat. Und
nachher kam es auch so. Aber ich will nur von Gryczinski sprechen. Wie
liebenswürdig benahm er sich heute wieder! Wie liebenswürdig und wie
vornehm.«
»Ah, bah, vornehm. Ich bilde mir auch ein, zu wissen, was vornehm
ist. Und ich sag' Ihnen, Reiff, Vornehmheit ist anders. Vornehm!
Ein Schlaukopf ist er und weiter nichts. Oder glauben Sie, daß er
die kleine Rotblondine mit den ewigen Schmachtaugen geheiratet hat,
weil sie Caparoux hieß, oder meinetwegen auch de Caparoux? Er hat sie
geheiratet, weil sie die Schwester ihrer Schwester ist. Du himmlischer
Vater, daß ich einem Polizeirat solche Lektion halten muß.«
Der Polizeirat, dessen Schwachheiten nach der erotischen Seite hin
lagen, las aus diesen andeutenden Worten ein Liebesverhältnis zwischen
dem Major und Melanie heraus und sah den langen hageren Duquede von der
Seite her betroffen an.
Dieser aber lachte und sagte: »Nicht +so+, Reiff, nicht +so+;
Karrieremacher sind immer nur Courmacher. Nichts weiter. Es gibt
heutzutage Personen (und auch +das+ verdanken wir unsrem großen
Reichsbaumeister, der die soliden Werkleute fallen läßt oder beiseite
schiebt), es gibt, sag' ich, heutzutage Personen, denen alles bloß
Mittel zum Zweck ist. Auch die Liebe. Und zu diesen Personen gehört
auch unser Freund, der Major. Ich hätte nicht sagen sollen, er hat die
Kleine geheiratet, weil sie die Schwester ihrer Schwester ist, sondern
weil sie die Schwägerin ihres Schwagers ist. Er +braucht+ diesen
Schwager, und ich sag' Ihnen, Reiff, denn ich kenne den Ton und die
Strömung oben, es gibt weniges, was nach oben hin +so+ empfiehlt, wie
das. Ein Schwager-Kommerzienrat ist nicht viel weniger wert, als ein
Schwiegervater-Kommerzienrat und rangiert wenigstens gleich dahinter.
Unter allen Umständen aber sind Kommerzienräte wie konsolidierte Fonds,
auf die jeden Augenblick gezogen werden kann. Es ist immer Deckung da.«
»Sie wollen also sagen ...«
»Ich will gar nichts sagen, Reiff ... Ich meine nur so.«
Und damit waren sie bis an die Bendlerstraße gekommen, wo beide sich
trennten. Reiff ging auf die Von der Heydt-Brücke zu, während Duquede
seinen Weg in gerader Richtung fortsetzte.
Er wohnte dicht an der Hofjägerallee, sehr hoch, aber in einem sehr
vornehmen Hause.
7
Ebenezer Rubehn
Wenige Tage später hatte Melanie das Stadthaus verlassen und die
Tiergartenvilla bezogen. Van der Straaten selbst machte diesen Umzug
nicht mit und war, so sehr er die Villa liebte, doch immer erst vom
September an andauernd draußen. Und auch das nur, weil er ein noch
leidenschaftlicherer Obstzüchter als Bildersammler war. Bis dahin
erschien er nur jeden dritten Tag als Gast und versicherte dabei
jedem, der es hören wollte, daß dies die stundenweis ihm nachgezahlten
Flitterwochen seiner Ehe seien. Melanie hütete sich wohl, zu
widersprechen, war vielmehr die Liebenswürdigkeit selbst, und genoß in
den zwischenliegenden Tagen das Glück ihrer Freiheit. Und dieses Glück
war um vieles größer, als man, ihrer Stellung nach, die so dominierend
und so frei schien, hätte glauben sollen. Denn sie dominierte nur,
weil sie sich zu zwingen verstand; aber dieses Zwanges los und ledig
zu sein, blieb doch ihr Wunsch, ihr beständiges, stilles Verlangen.
Und das erfüllten ihr die Sommertage. Da hatte sie Ruhe vor seinen
Liebesbeweisen und seinen Ungeniertheiten, nicht immer, aber doch
meist, und das Bewußtsein davon gab ihr ein unendliches Wohlgefühl.
Und dieses Wohlgefühl steigerte sich noch in dem entzückenden und
beinah ungestörten Stilleben, dessen sie draußen genoß. Wohl liebte
sie Stadt und Gesellschaft und den Ton der großen Welt, aber wenn
die Schwalben wieder zwitscherten und der Flieder wieder zu knospen
begann, da zog sie's doch in die Parkeinsamkeit hinaus, die wiederum
kaum eine Einsamkeit war, denn neben der Natur, deren Sprache sie
wohl verstand, hatte sie Bücher und Musik, und -- die Kinder. Die
Kinder, die sie während der Saison oft tagelang nicht sah und an deren
Aufwachsen und Lernen sie draußen in der Villa den regsten Anteil nahm.
Ja, sie half selber nach, in den Sprachen, vor allem im Französischen,
und durchblätterte mit ihnen Atlas und historische Bilderbücher. Und
an alles knüpfte sie Geschichten, die sie dem Gedächtnis der Kinder
einzuprägen wußte. Denn sie war gescheit und hatte die Gabe, von allem,
worüber sie sprach, ein klares und anschauliches Bild zu geben.
Es waren glückliche stille Tage.
Möglich dennoch, daß es zu stille Tage gewesen wären, wenn das tiefste
Bedürfnis der Frauennatur: das Plauderbedürfnis, unbefriedigt geblieben
wäre. Aber dafür war gesorgt. Wie fast alle reichen Häuser, hatten auch
die Van der Straatens einen Anhang ganz alter und halb alter Damen,
die zu Weihnachten beschenkt und im Laufe des Jahres zu Kaffees und
Landpartien eingeladen wurden. Es waren ihrer sieben oder acht, unter
denen jedoch zwei durch eine besonders intime Stellung hervorragten,
und zwar das kleine verwachsene Fräulein Friederike von Sawatzki und
das stattlich hochaufgeschossene Klavier- und Singefräulein: Anastasia
Schmidt. Ihrer apart bevorzugten Stellung entsprach es denn auch, daß
sie jeden zweiten Osterfeiertag durch Van der Straaten in Person
befragt wurden, ob sie sich entschließen könnten, seiner Frau während
der Sommermonate draußen in der Villa Gesellschaft zu leisten, eine
Frage, die jedesmal mit einer Verbeugung und einem freundlichen »ja«
beantwortet wurde. Aber doch nicht +zu+ freundlich, denn man wollte
nicht verraten, daß die Frage erwartet war.
Und beide Damen waren auch in diesem Jahre, wie herkömmlich, als
~Dames d'honneur~ installiert worden, hatten den Umzug mitgemacht, und
erschienen jeden Morgen auf der Veranda, um gegen neun Uhr mit den
Kindern das erste und um zwölf mit Melanie das zweite Frühstück zu
nehmen.
Auch heute wieder.
Es mochte schon gegen eins sein und das Frühstück war beendet. Aber
der Tisch noch nicht abgedeckt. Ein leiser Luftzug, der ging und
sich verstärkte, weil alle Türen und Fenster offen standen, bewegte
das rotgemusterte Tischtuch und von dem am andern Ende des Korridors
gelegenen Musikzimmer her hörte man ein Stück der Cramerschen
Klavierschule, dessen mangelhaften Takt in Ordnung zu bringen Fräulein
Anastasia Schmidt sich anstrengte. »Eins zwei, eins zwei.« Aber niemand
achtete dieser Anstrengungen, am wenigsten Melanie, die neben Fräulein
Riekchen, wie man sie gewöhnlich hieß, in einem Gartenstuhle saß und
dann und wann von ihrer Handarbeit aufsah, um das reizende Parkbild
unmittelbar um sie her, trotzdem sie jeden kleinsten Zug darin kannte,
auf sich wirken zu lassen.
Es war selbstverständlich die schönste Stelle der ganzen Anlage. Denn
von hundert Gästen, die kamen, begnügten sich neunundneunzig damit,
den Park von hier aus zu betrachten und zu beurteilen. Am Ende des
Hauptganges, zwischen den eben ergrünenden Bäumen hin, sah man das
Zittern und Flimmern des vorüberziehenden Stromes, aus der Mitte der
überall eingestreuten Rasenflächen aber erhoben sich Aloen und Bosketts
und Glaskugeln und Bassins. Eines der kleineren plätscherte, während
auf der Einfassung des großen ein Pfauhahn saß und die Mittagsonne mit
seinem Gefieder einzusaugen schien. Tauben und Perlhühner waren bis in
unmittelbare Nähe der Veranda gekommen, von der aus Riekchen ihnen eben
Krumen streute.
»Du gewöhnst sie zu sehr an diesen Platz,« sagte Melanie. »Und wir
werden einen Krieg mit Van der Straaten haben.«
»Ich fecht' ihn schon aus,« entgegnete die Kleine.
»Ja, du darfst es dir wenigstens zutrauen. Und wirklich, Riekchen, ich
könnte ~jaloux~ werden, so sehr bevorzugt er dich. Ich glaube, du bist
der einzige Mensch, der ihm alles sagen darf, und soviel ich weiß,
ist er noch nie heftig gegen dich geworden. Ob ihm dein alter Adel
imponiert? Sage mir deinen vollen Namen und Titel. Ich hör' es so gern
und vergeß' es immer wieder.«
»Aloysia Friederike Sawat von Sawatzki, genannt Sattler von der Hölle,
Stiftsanwärterin auf Kloster Himmelpfort in der Uckermark.«
»Wunderschön,« sagte Melanie. »Wenn ich doch so heißen könnte! Und du
kannst es glauben, Riekchen, das ist es, was einen Eindruck auf ihn
macht.«
Alles das war in herzlicher Heiterkeit gesagt und von Riekchen auch so
beantwortet worden. Jetzt aber rückte diese den Stuhl näher an Melanie
heran, nahm die Hand der jungen Frau und sagte: »Eigentlich sollt' ich
böse sein, daß du deinen Spott mit mir hast. Aber wer könnte dir böse
sein?«
»Ich spotte nicht,« entgegnete Melanie. »Du mußt doch selber finden,
daß er dich artiger und rücksichtsvoller behandelt als jeden andren
Menschen.«
»Ja,« sagte jetzt das arme Fräulein und ihre Stimme zitterte vor
Bewegung. »Er behandelt mich gut, weil er ein gutes Herz hat, ein
viel besseres, als mancher denkt und vielleicht auch als du selber
denkst. Und er ist auch gar nicht so rücksichtslos. Er kann nur nicht
leiden, daß man ihn stört oder herausfordert, ich meine solche, die's
eigentlich nicht sollten oder dürften. Sieh, Kind, dann beherrscht er
sich nicht länger, aber nicht weil er's nicht könnte, nein, weil er
nicht +will+. Und er braucht es auch nicht zu wollen. Und wenn man
gerecht sein will, er kann es auch nicht wollen. Denn er ist reich,
und alle reichen Leute lernen die Menschen von ihrer schlechtesten
Seite kennen. Alles überstürzt sich, erst in Dienstfertigkeit und
hinterher in Undank. Und Undank ernten, ist eine schlechte Schule für
Zartheit und Liebe. Und deshalb glauben die Reichen an nichts Edles und
Aufrichtiges in der Welt. Aber das sag' ich dir und muß ich dir immer
wieder sagen, dein Van der Straaten ist besser, als mancher denkt und
als du selber denkst.«
Es entstand eine kleine Pause, nicht ganz ohne Verlegenheit, dann
nickte Melanie freundlich dem alten Fräulein zu und sagte: »Sprich nur
weiter. Ich höre dich gerne so.«
»Und ich will auch,« sagte diese. »Sieh, ich habe dir schon gesagt, er
behandelt mich gut, weil er ein gutes Herz hat. Aber das ist es noch
nicht alles. Er ist auch so freundlich gegen mich, weil er mitleidig
ist. Und mitleidig sein, ist noch viel mehr als bloß gütig sein und ist
eigentlich das Beste, was die Menschen haben. Er lacht +auch+ immer,
wenn er meinen langen Namen hört, geradeso wie du, aber ich hab' es
gern, ihn so lachen zu hören, denn ich höre wohl heraus, was er dabei
denkt und fühlt.«
»Und was fühlt er denn?«
»Er fühlt den Gegensatz zwischen dem Anspruch meines Namens und dem,
was ich bin: arm und alt und einsam, und ein bloßes Figürchen. Und wenn
ich sage Figürchen, so beschönige ich noch und schmeichle noch mir
selbst.«
Melanie hatte das Battisttuch ans Auge gedrückt und sagte: »Du hast
recht. Du hast immer recht. Aber wo nur Anastasia bleibt, die Stunde
nimmt ja gar kein Ende. Sie quält mir die Liddi viel zu sehr, und das
Ende vom Lied ist, daß sie dem Kind einen Widerwillen beibringt. Und
dann ist es vorbei. Denn ohne Lieb' und ohne Lust ist nichts in der
Welt. Auch nicht einmal in der Musik ... Aber da kommt ja Teichgräber
und will uns einen Besuch anmelden. Ich bin außer mir. Hätte viel
lieber noch mit dir weiter geplaudert.«
In eben diesem Augenblicke war der alte Parkhüter, der sich vergeblich
nach einem von der Hausdienerschaft umgesehen hatte, bis an die Veranda
herangetreten und überreichte eine Karte.
Melanie las: »Ebenezer Rubehn (Firma Jakob Rubehn und Söhne) Leutnant
in der Reserve des 5. Dragoner-Regiments ...«
»Ah, sehr willkommen ... Ich lasse bitten ...« Und während sich der
Alte wieder entfernte, fuhr Melanie gegen das kleine Fräulein in
übermütiger Laune fort: »Auch wieder einer. Und noch dazu aus der
Reserve! Mir widerwärtig, dieser ewige Leutnant. Es gibt gar keine
Menschen mehr.«
Und sehr wahrscheinlich, daß sie diese Betrachtungen fortgesetzt
hätte, wenn nicht auf dem Kiesweg ein Knirschen hörbar geworden wäre,
das über das rasche Näherkommen des Besuchs keinen Zweifel ließ. Und
wirklich, im nächsten Augenblicke stand der Angemeldete vor der Veranda
und verneigte sich gegen beide Damen.
Melanie hatte sich erhoben und war ihm einen Schritt entgegengegangen.
»Ich freue mich, Sie zu sehen. Erlauben Sie mir, Sie zunächst mit
meiner lieben Freundin und Hausgenossin bekannt machen zu dürfen ...
Herr Ebenezer Rubehn, ... Fräulein Friederike von Sawatzki!«
Ein flüchtiges Erstaunen spiegelte sich ersichtlich in Rubehns Zügen,
das, wenn Melanie richtig interpretierte, mehr noch dem kleinen
verwachsenen Fräulein, als ihr selber galt. Ebenezer war indessen
Weltmann genug, um seines Erstaunens rasch wieder Herr zu werden, und
sich ein zweites Mal gegen die Freundin hin verneigend, bat er um
Entschuldigung, seinen Besuch auf der Villa bis heute hinausgeschoben
zu haben.
Melanie ging leicht darüber hin, ihrerseits bittend, die Gemütlichkeit
dieses ländlichen Empfanges und vor allem eines unabgeräumten
Frühstückstisches entschuldigen zu wollen. »~Mais à la guerre, comme à
la guerre~, eine kriegerische Wendung, an die mir's im übrigen ferne
liegt, ernsthafte Kriegsgespräche knüpfen zu wollen.«
»Gegen die Sie sich vielmehr unter allen Umständen gesichert haben
möchten,« lachte Rubehn. »Aber fürchten Sie nichts. Ich weiß, daß sich
Damen für das Kapitel Krieg nur so lange begeistern, als es Verwundete
zu pflegen gibt. Von dem Augenblick an, wo der letzte Kranke das
Lazarett verläßt, ist es mit dem Kriegseifer vorbei. Und wie die Frauen
in allem recht haben, so auch hierin. Es ist das Traurigste von der
ihn und nicht euch. Oder wollt ihr mir das alles als himmlischen Zauber
kredenzen? Ich sag' euch, fauler Zauber. Und das ist es, was ich
zweierlei Maß genannt habe. Den Murillozauber möchtet ihr zu Hexerei
stempeln und die Wagnerhexerei möchtet ihr in Zauber verwandeln. Ich
aber sag' euch, es liegt umgekehrt, und wenn es +nicht+ umgekehrt
liegt, so sollt ihr mir wenigstens keinen Unterschied machen. Denn
es ist schließlich alles ganz egal und mit Permission zu sagen alles
Jacke ...«
Der aus der vergleichendsten Kleidersprache genommene Berolinismus,
mit dem er seinen Satz abzuschließen gedachte, wurde auch wirklich
gesprochen, aber er verklang in einem Getöse, das der Major durch einen
geschickt kombinierten Angriff von Gläserklopfen und Stuhlrücken in
Szene zu setzen gewußt hatte. Zugleich begann er: »Meine verehrten
Freunde, das Wort Hexenmeister ist gefallen. Ein vorzügliches Wort!
So lassen wir sie denn leben, alle diese Tannhäuser, wobei sich jeder
das Seine denken mag. Ich trinke auf das Wohl der Hexenmeister. Denn
alle Kunst ist Hexerei. Rechten wir nicht mit dem Wort. Was sind Worte?
Schall und Rauch. Stoßen wir an. Hoch, hoch.«
Und mit einer wohlgemeinten Kraftanstrengung, in der jetzt jeder
zitternde Ton fehlte, wurde zugestimmt, namentlich auch von seiten
der beiden Maler, und kaum einer war da, der nicht an eine glücklich
beseitigte Gefahr geglaubt hätte. Aber mit Unrecht. Van der Straaten,
absolut unerzogen, konnte, vielleicht weil er dies Manko fühlte,
nichts so wenig ertragen, als auf Unerzogenheiten aufmerksam gemacht
zu werden: er vergaß sich dann ganz und gar, und der Dünkel des
reichen Mannes, der gewohnt war zu helfen, nach allen Seiten hin zu
helfen, stieg ihm dann zu Kopf und schlug in Wellen über ihm zusammen.
Und so auch jetzt. Er erhob sich und sagte: »Kupierungen sind etwas
Wundervolles. Keine Frage. Ich beispielsweise kupiere Kupons. Ein
inferiores Geschäft, das unter Umständen nichtsdestoweniger einen
Anspruch darauf gibt, gegen Wort- und Redekupierungen gesichert zu
sein, namentlich gegen solche, die reprimandieren und erziehen wollen.
Ich bin erzogen.«
Er hatte mit vor Erregung zitternder Stimme gesprochen, aber mit
zugekniffenem Auge fest zu dem Major hinübergesehen. Dieser, ein
vollkommener Weltmann, lächelte vor sich hin und blinkte nur leise
den beiden Damen zu, daß sie sich beruhigen möchten. Dann ergriff er
sein Glas ein zweites Mal, gab seinen Zügen, ohne sich sonderlich
anzustrengen, einen freundlichen Ausdruck und sagte zu Van der
Straaten: »Es ist so viel von Kupieren gesprochen worden; kupieren wir
auch das. Ich lebe der festen Überzeugung ...«
In eben diesem Augenblicke sprang der Pfropfen von einer der im
Weinkühler stehenden Flaschen und Gryczinski, rasch den Vorteil
erspähend, den er aus diesem Zwischenfalle ziehen konnte, brach
inmitten des Satzes ab und sagte nur, während er, unter leiser
Verbeugung, seines Schwagers Glas füllte: »Friede sei ihr erst Geläute!«
Solchem Appell zu widerstehen, war Van der Straaten der letzte. »Mein
lieber Gryczinski,« hob er in plötzlich erwachter Sentimentalität an,
»wir verstehen uns, wir haben uns immer verstanden. Gib mir deine Hand.
Lacrymae Christi, Friedrich. Rasch. Das Beste daran ist freilich der
Name. Aber er hat ihn nun mal. Jeder hat nun mal das Seine, der eine
dies, der andre das.«
»Allerdings,« lachte Gabler.
»Ach Arnold, du überschätzt das. Glaube mir, der Selige hatte recht.
Gold ist nur Schimäre. Und Elimar würd' es mir bestätigen, wenn es
nicht ein Satz aus einer überwundenen Oper wäre. Ich muß sagen,
leider überwunden. Denn ich liebe Nonnen, die tanzen. Aber da kommt
die Flasche. Laß nur Staub und Spinnweb. Sie muß in ihrer ganzen
unabgeputzten Heiligkeit verbleiben. Lacrymae Christi. Wie das klingt!«
Und die frühere Heiterkeit kehrte wieder oder schien wenigstens
wiederzukehren, und als Van der Straaten fortfuhr, in wahren
Ungeheuerlichkeiten über Christustränen, Erlöserblut und
Versöhnungswein zu sprechen, durfte Melanie schließlich die Bemerkung
wagen: »Du vergißt, Ezel, daß der Polizeirat katholisch ist.«
»Ich bitte recht sehr,« sagte Reiff, als ob er auf etwas Unerlaubtem
ertappt worden wäre.
Van der Straaten aber verschwor sich hoch und teuer, daß ein vierzig
Jahre lang treu geleisteter Sicherheitsdienst über alles konfessionelle
Plus oder Minus hinaus entscheidend sein und vor dem Richterstuhle
der Ewigkeit angerechnet werden müsse. Und als bald darauf die Gläser
abermals gefüllt und geleert worden waren, rückte Melanie den Stuhl,
und man erhob sich, um im Nebenzimmer den Kaffee zu nehmen.
6
Auf dem Heimwege
Die Kaffeestunde verlief ohne Zwischenfall, und es war bereits gegen
zehn, als der Diener meldete, daß der Wagen vorgefahren sei. Diese
Meldung galt dem Gryczinskischen Paare, das, an den Dinertagen, seine
Heimfahrt in der ihm bei dieser Gelegenheit ein für allemal zur
Verfügung gestellten kommerzienrätlichen Equipage zu machen pflegte.
Mäntel und Hüte wurden gebracht, und die schöne Jakobine, Hals und
Kopf in ein weißes Filettuch gehüllt, stand alsbald in der Mitte des
Kreises und wartete lachend und geduldig auf die beiden Maler, denen
Gryczinski noch im letzten Augenblicke die Mitfahrt angeboten hatte.
Das Parlamentieren darüber wollte kein Ende nehmen, und erst als man
unten am Wagenschlage stand, entschied sich's und Gabler placierte
sich nunmehr ohne weiteres auf den Rücksitz, während Elimar mit einem
kräftigen Turnerschwunge seinen Platz auf dem Bocke nahm, angeblich
aus Rücksicht gegen die Wageninsassen, in Wahrheit aus eigener
Bequemlichkeit und Neugier. Er sehnte sich nämlich nach einem Gespräche
mit dem Kutscher.
Dieser, auch noch ein Erbstück aus des alten Van der Straaten Zeiten
her, führte den unkutscherlichen Namen Emil, der jedoch seit lange
seinen Verhältnissen angepaßt und in ein plattdeutsches »Ehm« abgekürzt
worden war. Mit um so größerem Recht, als er wirklich in Fritz
Reuterschen Gegenden das Licht der Welt erblickt und sich bis diesen
Tag, neben seinem Berliner Jargon, einen Rest heimatlicher Sprache
konserviert hatte. Elimar, einer seiner Bevorzugten, nahm gleich im
ersten Momente des Zurechtrückens ein mehrklappiges Lederfutteral
heraus, steckte dem Alten eine der obenaufliegenden Zigarren zu und
sagte vertraulich: »Für'n Rückweg, Ehm.«
Dieser fuhr mit der Rechten dankend an seinen Kutscherhut und damit
waren die Präliminarien geschlossen.
Als sie bald darauf bei der Normaluhr auf dem Spittelmarkte vorüber
kamen und in eine der schlechtgepflasterten Seitenstraßen einbogen,
hielt Elimar den ersehnten Zeitpunkt für gekommen und sagte:
»Ist denn der neue Herr schon da?«
»Der Frankfurtsche? Ne, noch nich, Herr Schulze.«
»Na, dann muß er aber doch bald ...«
»I, woll. Bald muß er. Ich denke, so nächste Woche. Un de Stuben sind
ooch all tapziert. Jott, se duhn ja, wie wenn't en Prinz wär', erst der
Herr un nu ooch de Jnädge. Un Christel meent, he sall man en Jüdscher
sinn.«
»Aber reich. Und Offizier. Das heißt bei der Landwehr oder so.«
»Is et möglich?«
»Und er soll auch singen.«
»Ja, singen wird er woll.«
Elimar war eitel genug, an dieser letzteren Äußerung Anstoß zu nehmen,
und da sich's gerade traf, daß in eben diesem Augenblicke der Wagen aus
dem Wallstraßenportal auf den abendlich-stillen Opernplatz einbog, so
gab er das Gespräch um so lieber auf, als er nicht wollte, daß dasselbe
von den Insassen des Wagens verstanden würde.
Von seiten dieser war bis dahin kein Wort gewechselt worden, nicht
aus Verstimmung, sondern nur aus Rücksicht gegen die junge Frau, die,
herzlich froh über den zur Hälfte freigebliebenen Rücksitz, ihre
kleinen Füße gegen das Polsterkissen gestemmt und sich bequem in den
Fond des Wagens zurückgelehnt hatte. Sie war gleich beim Einsteigen
ersichtlich müde gewesen, hatte, wie zur Entschuldigung, etwas von
Champagner und Kopfweh gesprochen, das Filettuch dabei höher gezogen
und ihre Augen geschlossen. Erst als sie zwischen dem Palais und dem
Friedrichsmonumente hinfuhren, richtete sie sich wieder auf, weil sie
jenen Allerloyalsten zugehörte, die sich schon beglückt fühlen, einen
bloßen Schattenriß an dem herabgelassenen Vorhange des Eckfensters
gesehn zu haben. Und wirklich, sie sah ihn und gab in ihrer reizenden,
halb kindlich, halb koketten Weise, der Freude darüber Ausdruck.
Ihr Geplauder hatte noch nicht geendet, als der Wagen am Brandenburger
Tore hielt. Im Nu waren beide Maler, deren Weg hier abzweigte, von
ihren Plätzen herunter und empfahlen sich dankend dem liebenswürdigen
Paare, das nun seinerseits durch die breite Schrägallee auf das
Siegesdenkmal und die dahinter gelegene Alsenstraße zufuhr.
Als sie mitten auf dem von bunten Lichtern überstrahlten Platze waren,
schmiegte sich die schöne junge Frau zärtlich an ihren Gatten und
sagte: »War das ein Tag, Otto. Ich habe dich bewundert.«
»Es wurde mir leichter, als du denkst. Ich spiele mit ihm. Er ist ein
altes Kind.«
»Und Melanie! ... Glaube mir, sie fühlt es. Und sie tut mir leid. Du
lächelst so. Dir nicht?«
»Ja und nein, ~ma chère~. Man hat eben nichts umsonst in der Welt. Sie
hat eine Villa und eine Bildergalerie ...«
»Aus der sie sich nichts macht. Du weißt ja, wie wenig sie daran
hängt ...«
»Und hat zwei reizende Kinder ...«
»Um die ich sie fast beneide.«
»Nun, siehst du,« lachte der Major. »Ein jeder hat die Kunst zu lernen,
sich zu bescheiden und einzuschränken. Wär' ich mein Schwager, so würd'
ich sagen ...«
Aber sie schloß ihm den Mund mit einem Kuß, und im nächsten Augenblicke
hielt der Wagen.
* * * * *
Die beiden Räte, der Legations- und der Polizeirat, waren an der Ecke
des Petriplatzes in eine Droschke gestiegen, um bis an das Potsdamer
Tor zu fahren. Von hier aus wollten sie den Rest des Weges, um der
frischen Abendluft willen, zu Fuß machen. In Wahrheit aber hielten sie
bloß zu dem Satze, »daß man im Kleinen sparen müsse, um sich im Großen
legitimieren zu können,« wobei leider nur zu bedauern blieb, daß ihnen
die »großen Gelegenheiten« entweder nie gekommen, oder regelmäßig von
ihnen versäumt worden waren.
Unterwegs, solange die Fahrt dauerte, war kein Wort gewechselt worden,
und erst beim Aussteigen hatte, bei der nun nötig werdenden Division
von 2 in 6, ein Gespräch begonnen, das alle Parteien zufriedengestellt
zu haben schien. Nur nicht den Kutscher. Beide Räte hüteten sich
deshalb auch, sich nach dem letzteren umzusehen, vor allem Duquede,
der, außerdem noch ein abgeschworener Feind aller Platzübergänge mit
Eisenbahnschienen und Pferdebahngeklingel, überhaupt erst wieder in
Ruhe kam, als er die schon frisch in Knospen stehende Bellevuestraße
glücklich erreicht hatte.
Reiff folgte, schob sich artig und respektvoll an die linke Seite des
Legationsrates und sagte plötzlich und unvermittelt:
»Es war doch wieder eine recht peinliche Geschichte heute. Finden Sie
nicht? Und ehrlich gestanden, ich begreif' ihn nicht. Er ist doch nun
fünfzig und darüber und sollte sich die Hörner abgelaufen haben. Aber
er ist und bleibt ein Durchgänger.«
»Ja,« sagte Duquede, der einen Augenblick still stand, um Atem zu
schöpfen, »etwas Durchgängerisches hat er. Aber, lieber Freund, warum
soll er es nicht haben? Ich taxier' ihn auf eine Million, seine Bilder
ungerechnet, und ich sehe nicht ein, warum einer in seinem eigenen
Haus und an seinem eigenen Tisch nicht sprechen soll, wie ihm der
Schnabel gewachsen ist. Ich bekenn' Ihnen offen, Reiff, ich freue mich
immer, wenn er mal so zwischenfährt. Der Alte war auch so, nur viel
schlimmer, und es hieß schon damals, vor vierzig Jahren: »Es sei doch
ein sonderbares Haus und man könne eigentlich nicht hingehen.« Aber
uneigentlich ging alles hin. Und so war es, und so ist es geblieben.«
»Es fehlt ihm aber doch wirklich an Bildung und Erziehung.«
»Ach, ich bitte Sie, Reiff, gehen Sie mir mit Bildung und Erziehung.
Das sind so zwei ganz moderne Wörter, die der »Große Mann« aufgebracht
haben könnte, so sehr hass' ich sie. Bildung und Erziehung. Erstlich
ist es in der Regel nicht viel damit, und wenn es mal was ist, dann ist
es auch noch nichts. Glauben Sie mir, es wird überschätzt. Und kommt
auch nur bei uns vor. Und warum? Weil wir nichts Besseres haben. Wer
gar nichts hat, der ist gebildet. Wer aber so viel hat, wie Van der
Straaten, der braucht all die Dummheiten nicht. Er hat einen guten
Verstand und einen guten Witz, und was noch mehr sagen will, einen
guten Kredit. Bildung, Bildung. Es ist zum Lachen.«
»Ich weiß doch nicht, ob Sie recht haben, Duquede. Ja, wenn es
geblieben wäre, wie früher. Junggesellenwirtschaft. Aber nun hat er die
junge Frau geheiratet, jung und schön und klug ...«
»Nu, nu, Reiff. Nur nicht extravagant. Es ist damit nicht soweit her,
wie Sie glauben; sie ist 'ne Fremde, französische Schweiz, und an allem
Fremden verkucken sich die Berliner. Das ist wie Amen in der Kirche.
Sie hat so ein bißchen Genfer Schick. Aber was will das am Ende sagen.
Alles was die Genfer haben, ist doch auch bloß aus zweiter Hand. Und
nun gar klug. Ich bitte Sie, was heißt klug? Er ist viel klüger. Oder
glauben Sie, daß es auf 'ne französische Vokabel ankommt? oder auf den
Erlkönig? Ich gebe zu, sie hat ein paar niedliche Manierchen und weiß
sich unter Umständen ein Air zu geben. Aber es ist nicht viel dahinter,
alles Firlefanz, und wird kolossal überschätzt.«
»Ich weiß doch nicht, ob Sie recht haben,« wiederholte der Polizeirat.
»Und dann ist sie doch schließlich von Familie.«
Duquede lachte. »Nein, Reiff, +das+ ist sie nun schließlich nicht.
Und ich sag' Ihnen, da haben wir den Punkt, auf dem ich keinen Spaß
verstehe. Caparoux. Es klingt nach was. Zugestanden. Aber was heißt es
denn am Ende? Rotkapp oder Rotkäppchen. Das ist ein Märchenname, aber
kein Adelsname. Ich habe mich darum gekümmert und nachgeschlagen. Und
im Vertrauen, Reiff, es gibt gar keine de Caparoux.«
»Aber bedenken Sie doch den Major! Er hat alle Sorten Stolz und wird
sich doch schwerlich eine Mesalliance nachsagen lassen wollen.«
»Ich kenn' ihn besser. Er ist ein Streber. Oder sagen wir einfach,
er ist ein Generalstäbler. Ich hasse die ganze Gesellschaft, und
glauben Sie mir, Reiff, ich weiß warum. Unsere Generalstäbler werden
überschätzt, kolossal überschätzt.«
»Ich weiß doch nicht, ob Sie recht haben,« ließ sich der Polizeirat ein
drittes Mal vernehmen. »Bedenken Sie bloß, was Stoffel gesagt hat. Und
nachher kam es auch so. Aber ich will nur von Gryczinski sprechen. Wie
liebenswürdig benahm er sich heute wieder! Wie liebenswürdig und wie
vornehm.«
»Ah, bah, vornehm. Ich bilde mir auch ein, zu wissen, was vornehm
ist. Und ich sag' Ihnen, Reiff, Vornehmheit ist anders. Vornehm!
Ein Schlaukopf ist er und weiter nichts. Oder glauben Sie, daß er
die kleine Rotblondine mit den ewigen Schmachtaugen geheiratet hat,
weil sie Caparoux hieß, oder meinetwegen auch de Caparoux? Er hat sie
geheiratet, weil sie die Schwester ihrer Schwester ist. Du himmlischer
Vater, daß ich einem Polizeirat solche Lektion halten muß.«
Der Polizeirat, dessen Schwachheiten nach der erotischen Seite hin
lagen, las aus diesen andeutenden Worten ein Liebesverhältnis zwischen
dem Major und Melanie heraus und sah den langen hageren Duquede von der
Seite her betroffen an.
Dieser aber lachte und sagte: »Nicht +so+, Reiff, nicht +so+;
Karrieremacher sind immer nur Courmacher. Nichts weiter. Es gibt
heutzutage Personen (und auch +das+ verdanken wir unsrem großen
Reichsbaumeister, der die soliden Werkleute fallen läßt oder beiseite
schiebt), es gibt, sag' ich, heutzutage Personen, denen alles bloß
Mittel zum Zweck ist. Auch die Liebe. Und zu diesen Personen gehört
auch unser Freund, der Major. Ich hätte nicht sagen sollen, er hat die
Kleine geheiratet, weil sie die Schwester ihrer Schwester ist, sondern
weil sie die Schwägerin ihres Schwagers ist. Er +braucht+ diesen
Schwager, und ich sag' Ihnen, Reiff, denn ich kenne den Ton und die
Strömung oben, es gibt weniges, was nach oben hin +so+ empfiehlt, wie
das. Ein Schwager-Kommerzienrat ist nicht viel weniger wert, als ein
Schwiegervater-Kommerzienrat und rangiert wenigstens gleich dahinter.
Unter allen Umständen aber sind Kommerzienräte wie konsolidierte Fonds,
auf die jeden Augenblick gezogen werden kann. Es ist immer Deckung da.«
»Sie wollen also sagen ...«
»Ich will gar nichts sagen, Reiff ... Ich meine nur so.«
Und damit waren sie bis an die Bendlerstraße gekommen, wo beide sich
trennten. Reiff ging auf die Von der Heydt-Brücke zu, während Duquede
seinen Weg in gerader Richtung fortsetzte.
Er wohnte dicht an der Hofjägerallee, sehr hoch, aber in einem sehr
vornehmen Hause.
7
Ebenezer Rubehn
Wenige Tage später hatte Melanie das Stadthaus verlassen und die
Tiergartenvilla bezogen. Van der Straaten selbst machte diesen Umzug
nicht mit und war, so sehr er die Villa liebte, doch immer erst vom
September an andauernd draußen. Und auch das nur, weil er ein noch
leidenschaftlicherer Obstzüchter als Bildersammler war. Bis dahin
erschien er nur jeden dritten Tag als Gast und versicherte dabei
jedem, der es hören wollte, daß dies die stundenweis ihm nachgezahlten
Flitterwochen seiner Ehe seien. Melanie hütete sich wohl, zu
widersprechen, war vielmehr die Liebenswürdigkeit selbst, und genoß in
den zwischenliegenden Tagen das Glück ihrer Freiheit. Und dieses Glück
war um vieles größer, als man, ihrer Stellung nach, die so dominierend
und so frei schien, hätte glauben sollen. Denn sie dominierte nur,
weil sie sich zu zwingen verstand; aber dieses Zwanges los und ledig
zu sein, blieb doch ihr Wunsch, ihr beständiges, stilles Verlangen.
Und das erfüllten ihr die Sommertage. Da hatte sie Ruhe vor seinen
Liebesbeweisen und seinen Ungeniertheiten, nicht immer, aber doch
meist, und das Bewußtsein davon gab ihr ein unendliches Wohlgefühl.
Und dieses Wohlgefühl steigerte sich noch in dem entzückenden und
beinah ungestörten Stilleben, dessen sie draußen genoß. Wohl liebte
sie Stadt und Gesellschaft und den Ton der großen Welt, aber wenn
die Schwalben wieder zwitscherten und der Flieder wieder zu knospen
begann, da zog sie's doch in die Parkeinsamkeit hinaus, die wiederum
kaum eine Einsamkeit war, denn neben der Natur, deren Sprache sie
wohl verstand, hatte sie Bücher und Musik, und -- die Kinder. Die
Kinder, die sie während der Saison oft tagelang nicht sah und an deren
Aufwachsen und Lernen sie draußen in der Villa den regsten Anteil nahm.
Ja, sie half selber nach, in den Sprachen, vor allem im Französischen,
und durchblätterte mit ihnen Atlas und historische Bilderbücher. Und
an alles knüpfte sie Geschichten, die sie dem Gedächtnis der Kinder
einzuprägen wußte. Denn sie war gescheit und hatte die Gabe, von allem,
worüber sie sprach, ein klares und anschauliches Bild zu geben.
Es waren glückliche stille Tage.
Möglich dennoch, daß es zu stille Tage gewesen wären, wenn das tiefste
Bedürfnis der Frauennatur: das Plauderbedürfnis, unbefriedigt geblieben
wäre. Aber dafür war gesorgt. Wie fast alle reichen Häuser, hatten auch
die Van der Straatens einen Anhang ganz alter und halb alter Damen,
die zu Weihnachten beschenkt und im Laufe des Jahres zu Kaffees und
Landpartien eingeladen wurden. Es waren ihrer sieben oder acht, unter
denen jedoch zwei durch eine besonders intime Stellung hervorragten,
und zwar das kleine verwachsene Fräulein Friederike von Sawatzki und
das stattlich hochaufgeschossene Klavier- und Singefräulein: Anastasia
Schmidt. Ihrer apart bevorzugten Stellung entsprach es denn auch, daß
sie jeden zweiten Osterfeiertag durch Van der Straaten in Person
befragt wurden, ob sie sich entschließen könnten, seiner Frau während
der Sommermonate draußen in der Villa Gesellschaft zu leisten, eine
Frage, die jedesmal mit einer Verbeugung und einem freundlichen »ja«
beantwortet wurde. Aber doch nicht +zu+ freundlich, denn man wollte
nicht verraten, daß die Frage erwartet war.
Und beide Damen waren auch in diesem Jahre, wie herkömmlich, als
~Dames d'honneur~ installiert worden, hatten den Umzug mitgemacht, und
erschienen jeden Morgen auf der Veranda, um gegen neun Uhr mit den
Kindern das erste und um zwölf mit Melanie das zweite Frühstück zu
nehmen.
Auch heute wieder.
Es mochte schon gegen eins sein und das Frühstück war beendet. Aber
der Tisch noch nicht abgedeckt. Ein leiser Luftzug, der ging und
sich verstärkte, weil alle Türen und Fenster offen standen, bewegte
das rotgemusterte Tischtuch und von dem am andern Ende des Korridors
gelegenen Musikzimmer her hörte man ein Stück der Cramerschen
Klavierschule, dessen mangelhaften Takt in Ordnung zu bringen Fräulein
Anastasia Schmidt sich anstrengte. »Eins zwei, eins zwei.« Aber niemand
achtete dieser Anstrengungen, am wenigsten Melanie, die neben Fräulein
Riekchen, wie man sie gewöhnlich hieß, in einem Gartenstuhle saß und
dann und wann von ihrer Handarbeit aufsah, um das reizende Parkbild
unmittelbar um sie her, trotzdem sie jeden kleinsten Zug darin kannte,
auf sich wirken zu lassen.
Es war selbstverständlich die schönste Stelle der ganzen Anlage. Denn
von hundert Gästen, die kamen, begnügten sich neunundneunzig damit,
den Park von hier aus zu betrachten und zu beurteilen. Am Ende des
Hauptganges, zwischen den eben ergrünenden Bäumen hin, sah man das
Zittern und Flimmern des vorüberziehenden Stromes, aus der Mitte der
überall eingestreuten Rasenflächen aber erhoben sich Aloen und Bosketts
und Glaskugeln und Bassins. Eines der kleineren plätscherte, während
auf der Einfassung des großen ein Pfauhahn saß und die Mittagsonne mit
seinem Gefieder einzusaugen schien. Tauben und Perlhühner waren bis in
unmittelbare Nähe der Veranda gekommen, von der aus Riekchen ihnen eben
Krumen streute.
»Du gewöhnst sie zu sehr an diesen Platz,« sagte Melanie. »Und wir
werden einen Krieg mit Van der Straaten haben.«
»Ich fecht' ihn schon aus,« entgegnete die Kleine.
»Ja, du darfst es dir wenigstens zutrauen. Und wirklich, Riekchen, ich
könnte ~jaloux~ werden, so sehr bevorzugt er dich. Ich glaube, du bist
der einzige Mensch, der ihm alles sagen darf, und soviel ich weiß,
ist er noch nie heftig gegen dich geworden. Ob ihm dein alter Adel
imponiert? Sage mir deinen vollen Namen und Titel. Ich hör' es so gern
und vergeß' es immer wieder.«
»Aloysia Friederike Sawat von Sawatzki, genannt Sattler von der Hölle,
Stiftsanwärterin auf Kloster Himmelpfort in der Uckermark.«
»Wunderschön,« sagte Melanie. »Wenn ich doch so heißen könnte! Und du
kannst es glauben, Riekchen, das ist es, was einen Eindruck auf ihn
macht.«
Alles das war in herzlicher Heiterkeit gesagt und von Riekchen auch so
beantwortet worden. Jetzt aber rückte diese den Stuhl näher an Melanie
heran, nahm die Hand der jungen Frau und sagte: »Eigentlich sollt' ich
böse sein, daß du deinen Spott mit mir hast. Aber wer könnte dir böse
sein?«
»Ich spotte nicht,« entgegnete Melanie. »Du mußt doch selber finden,
daß er dich artiger und rücksichtsvoller behandelt als jeden andren
Menschen.«
»Ja,« sagte jetzt das arme Fräulein und ihre Stimme zitterte vor
Bewegung. »Er behandelt mich gut, weil er ein gutes Herz hat, ein
viel besseres, als mancher denkt und vielleicht auch als du selber
denkst. Und er ist auch gar nicht so rücksichtslos. Er kann nur nicht
leiden, daß man ihn stört oder herausfordert, ich meine solche, die's
eigentlich nicht sollten oder dürften. Sieh, Kind, dann beherrscht er
sich nicht länger, aber nicht weil er's nicht könnte, nein, weil er
nicht +will+. Und er braucht es auch nicht zu wollen. Und wenn man
gerecht sein will, er kann es auch nicht wollen. Denn er ist reich,
und alle reichen Leute lernen die Menschen von ihrer schlechtesten
Seite kennen. Alles überstürzt sich, erst in Dienstfertigkeit und
hinterher in Undank. Und Undank ernten, ist eine schlechte Schule für
Zartheit und Liebe. Und deshalb glauben die Reichen an nichts Edles und
Aufrichtiges in der Welt. Aber das sag' ich dir und muß ich dir immer
wieder sagen, dein Van der Straaten ist besser, als mancher denkt und
als du selber denkst.«
Es entstand eine kleine Pause, nicht ganz ohne Verlegenheit, dann
nickte Melanie freundlich dem alten Fräulein zu und sagte: »Sprich nur
weiter. Ich höre dich gerne so.«
»Und ich will auch,« sagte diese. »Sieh, ich habe dir schon gesagt, er
behandelt mich gut, weil er ein gutes Herz hat. Aber das ist es noch
nicht alles. Er ist auch so freundlich gegen mich, weil er mitleidig
ist. Und mitleidig sein, ist noch viel mehr als bloß gütig sein und ist
eigentlich das Beste, was die Menschen haben. Er lacht +auch+ immer,
wenn er meinen langen Namen hört, geradeso wie du, aber ich hab' es
gern, ihn so lachen zu hören, denn ich höre wohl heraus, was er dabei
denkt und fühlt.«
»Und was fühlt er denn?«
»Er fühlt den Gegensatz zwischen dem Anspruch meines Namens und dem,
was ich bin: arm und alt und einsam, und ein bloßes Figürchen. Und wenn
ich sage Figürchen, so beschönige ich noch und schmeichle noch mir
selbst.«
Melanie hatte das Battisttuch ans Auge gedrückt und sagte: »Du hast
recht. Du hast immer recht. Aber wo nur Anastasia bleibt, die Stunde
nimmt ja gar kein Ende. Sie quält mir die Liddi viel zu sehr, und das
Ende vom Lied ist, daß sie dem Kind einen Widerwillen beibringt. Und
dann ist es vorbei. Denn ohne Lieb' und ohne Lust ist nichts in der
Welt. Auch nicht einmal in der Musik ... Aber da kommt ja Teichgräber
und will uns einen Besuch anmelden. Ich bin außer mir. Hätte viel
lieber noch mit dir weiter geplaudert.«
In eben diesem Augenblicke war der alte Parkhüter, der sich vergeblich
nach einem von der Hausdienerschaft umgesehen hatte, bis an die Veranda
herangetreten und überreichte eine Karte.
Melanie las: »Ebenezer Rubehn (Firma Jakob Rubehn und Söhne) Leutnant
in der Reserve des 5. Dragoner-Regiments ...«
»Ah, sehr willkommen ... Ich lasse bitten ...« Und während sich der
Alte wieder entfernte, fuhr Melanie gegen das kleine Fräulein in
übermütiger Laune fort: »Auch wieder einer. Und noch dazu aus der
Reserve! Mir widerwärtig, dieser ewige Leutnant. Es gibt gar keine
Menschen mehr.«
Und sehr wahrscheinlich, daß sie diese Betrachtungen fortgesetzt
hätte, wenn nicht auf dem Kiesweg ein Knirschen hörbar geworden wäre,
das über das rasche Näherkommen des Besuchs keinen Zweifel ließ. Und
wirklich, im nächsten Augenblicke stand der Angemeldete vor der Veranda
und verneigte sich gegen beide Damen.
Melanie hatte sich erhoben und war ihm einen Schritt entgegengegangen.
»Ich freue mich, Sie zu sehen. Erlauben Sie mir, Sie zunächst mit
meiner lieben Freundin und Hausgenossin bekannt machen zu dürfen ...
Herr Ebenezer Rubehn, ... Fräulein Friederike von Sawatzki!«
Ein flüchtiges Erstaunen spiegelte sich ersichtlich in Rubehns Zügen,
das, wenn Melanie richtig interpretierte, mehr noch dem kleinen
verwachsenen Fräulein, als ihr selber galt. Ebenezer war indessen
Weltmann genug, um seines Erstaunens rasch wieder Herr zu werden, und
sich ein zweites Mal gegen die Freundin hin verneigend, bat er um
Entschuldigung, seinen Besuch auf der Villa bis heute hinausgeschoben
zu haben.
Melanie ging leicht darüber hin, ihrerseits bittend, die Gemütlichkeit
dieses ländlichen Empfanges und vor allem eines unabgeräumten
Frühstückstisches entschuldigen zu wollen. »~Mais à la guerre, comme à
la guerre~, eine kriegerische Wendung, an die mir's im übrigen ferne
liegt, ernsthafte Kriegsgespräche knüpfen zu wollen.«
»Gegen die Sie sich vielmehr unter allen Umständen gesichert haben
möchten,« lachte Rubehn. »Aber fürchten Sie nichts. Ich weiß, daß sich
Damen für das Kapitel Krieg nur so lange begeistern, als es Verwundete
zu pflegen gibt. Von dem Augenblick an, wo der letzte Kranke das
Lazarett verläßt, ist es mit dem Kriegseifer vorbei. Und wie die Frauen
in allem recht haben, so auch hierin. Es ist das Traurigste von der
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