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L'Adultera: Roman - 04

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  Welt, immer wieder eine Durchschnittsheldengeschichte von zweifelhaftem
  Wert und noch zweifelhafterer Wahrheit hören zu müssen, aber es ist das
  Schönste, was es gibt, zu helfen und zu heilen.«
  Melanie hatte, während er sprach, ihre Handarbeit in den Schoß gelegt
  und ihn fest und freundlich angesehen. »Ei, das lob' ich und hör' ich
  gern. Aber wer mit so warmer Empfindung von dem Hospitaldienst und dem
  Helfen und Heilen, das uns so wohl kleidet, zu sprechen versteht, der
  hat diese Wohltat wohl an sich selbst erfahren. Und so plaudern Sie
  mir denn wider Willen, nach fünf Minuten schon, Ihre Geheimnisse aus.
  Versuchen Sie nicht, mich zu widerlegen, Sie würden scheitern damit,
  und da Sie die Frauenherzen so gut zu kennen scheinen, so werden Sie
  natürlich auch unsere zwei stärksten Seiten kennen: unseren Eigensinn
  und unser Rätselraten. Wir erraten alles ...«
  »Und immer richtig?«
  »Nicht immer, aber meist. Und nun erzählen Sie mir, wie Sie Berlin
  finden, unsere gute Stadt, und unser Haus, und ob Sie das Zutrauen zu
  sich haben, in Ihrem Hofkerker, dem eigentlich nur noch die Gitterstäbe
  fehlen, nicht melancholisch zu werden. Aber wir hatten nichts Besseres.
  Und wo nichts ist, hat, wie das Sprichwort sagt ...«
  »O, Sie beschämen mich, meine gnädigste Frau. Jetzt erst, nach meinem
  Eintreffen, weiß ich, wie groß das Opfer ist, das Sie mir gebracht
  haben. Und ich darf füglich sagen, daß ich bei besserer Kenntnis ...«
  Aber er sprach nicht aus und horchte plötzlich nach dem Hause hin,
  aus dem eben (die Musikstunde hatte schon vorher geschlossen) ein
  virtuoses und in jeder feinsten Nüancierung erkennbares Spiel bis auf
  die Veranda herausklang. Es war »Wotans Abschied« und Rubehn erschien
  so hingerissen, daß es ihm Anstrengung kostete, sich loszumachen und
  das Gespräch wieder aufzunehmen. Endlich aber fand er sich zurück und
  sagte, während er sich abermals gegen Riekchen verneigte: »Pardon,
  meine Gnädigste. Hatt' ich recht gehört? Fräulein von Sawatzki?«
  Das Fräulein nickte.
  »Mit einem jungen Offizier dieses Namens war ich einen Sommer über
  in Wildbad-Gastein zusammen. Unmittelbar nach dem Kriege. Ein
  liebenswürdiger, junger Kavalier. Vielleicht ein Anverwandter ...?«
  »Ein Vetter,« sagte Fräulein Riekchen. »Es gibt nur wenige meines
  Namens und wir sind alle verwandt. Ich freue mich, aus Ihrem Munde von
  ihm zu hören. Er wurde noch in dem Nachspiel des Krieges verwundet,
  fast am letzten Tage. Bei Pontarlier. Und sehr schwer. Ich habe lange
  nicht von ihm gehört. Hat er sich erholt?«
  »Ich glaube sagen zu dürfen, vollkommen. Er tut wieder Dienst im
  Regiment, wovon ich mich, ganz neuerdings erst, durch einen glücklichen
  Zufall überzeugen konnte ... Aber, mein gnädigstes Fräulein, wir werden
  unser Thema fallen lassen müssen. Die gnädige Frau lächelt bereits
  und bewundert die Geschicklichkeit, mit der ich, unter Heranziehung
  Ihres Herrn Vetters, in das Kriegsabenteuer und all seine Konsequenzen
  einzumünden trachte. Darf ich also vorschlagen, lieber dem wundervollen
  Spiele zuzuhören, das ... O, wie schade; jetzt bricht es ab ...«
  Er schwieg, und erst als es drinnen still blieb, fuhr er in einer ihm
  sonst fremden, aber in diesem Augenblicke völlig aufrichtigen Emphase
  fort: »O, meine gnädigste Frau, welch ein Zaubergarten, in dem Sie
  leben. Ein Pfau, der sich sonnt, und Tauben, so zahm und so zahllos,
  als wäre diese Veranda der Markusplatz oder die Insel Cypern in Person!
  Und dieser plätschernde Strahl, und nun gar dieses Lied ... In der Tat,
  wenn nicht auch der aufrichtigste Beifall unstatthaft und zudringlich
  sein könnte ...«
  Er unterbrach sich, denn vom Korridore her waren eben Schritte hörbar
  geworden und Melanie sagte mit einer halben Wendung: »Ah, Anastasia! Du
  kommst gerade zu guter Zeit, um den Dank und die Bewunderung unseres
  lieben Gastes und neuen Hausgenossen allerpersönlichst in Empfang zu
  nehmen. Erlauben Sie mir, daß ich Sie mit einander bekannt mache: Herr
  Ebenezer Rubehn, Fräulein Anastasia Schmidt ... Und hier meine Tochter
  Lydia,« setzte Melanie hinzu, nach dem schönen Kinde hinzeigend, das,
  auf der Türschwelle, neben dem Musikfräulein stehen geblieben war und
  den Fremden ernst und beinah feindselig musterte.
  Rubehn bemerkte den Blick. Aber es war ein Kind, und so wandt' er sich
  ohne weiteres gegen Anastasia, um ihr allerhand Schmeichelhaftes über
  ihr Spiel und die Richtung ihres Geschmackes zu sagen.
  Diese verbeugte sich, während Melanie, der kein Wort entgangen war,
  aufs lebhafteste fortfuhr: »Ei, da dürfen wir Sie, wenn ich recht
  verstanden habe, wohl gar zu den Unseren zählen? Anastasia, das träfe
  sich gut! Sie müssen nämlich wissen, Herr Rubehn, daß wir hier in
  zwei Lagern stehen und daß sich das Van der Straatensche Haus, das
  nun auch das Ihrige sein wird, in bilderschwärmende Montecchi und
  musikschwärmende Capuletti teilt. Ich, ~tout à fait~ Capulet und Julia.
  Doch mit untragischem Ausgang. Und ich füge zum Überfluß hinzu, daß
  wir, Anastasia und ich, jener kleinen Gemeinde zugehören, deren Namen
  und Mittelpunkt ich Ihnen nicht zu nennen brauche. Nur eines will
  ich auf der Stelle wissen. Und ich betrachte das als mein weibliches
  Neugiersrecht. Welcher seiner Arbeiten erkennen Sie den höchsten
  Preis zu? Worin erscheint er Ihnen am bedeutendsten oder doch am
  eigenartigsten?«
  »In den Meistersingern.«
  »Zugestanden. Und nun sind wir einig, und bei nächster Gelegenheit
  können wir Van der Straaten und Gabler, und vor allem den langen und
  langweiligen Legationsrat in die Luft sprengen. Den langen Duquede. O,
  der steigt wie ein Raketenstock. Nicht wahr, Anastasia?«
  Rubehn hatte seinen Hut genommen. Aber Melanie, die durch die ganze
  Begegnung ungewöhnlich erfreut und angeregt war, fuhr in wachsendem
  Eifer fort: »Alles das sind erst Namen. Eine Woche noch oder zwei und
  Sie werden unsere kleine Welt kennen gelernt haben. Ich wünsche, daß
  Sie die Gelegenheit dazu nicht hinausschieben. Unsere Veranda hat für
  heute die Repräsentation des Hauses übernehmen müssen. Erinnern Sie
  sich, daß wir auch einen Flügel haben und versuchen Sie bald und oft,
  ob er Ihnen paßt. ~Au revoir.~«
  Er küßte der schönen Frau die Hand und unter gemessener Verbeugung
  gegen Riekchen und Anastasia verließ er die Damen. Über Lydia sah er
  fort.
  Aber diese nicht über ihn.
  »Du siehst ihm nach,« sagte Melanie. »Hat er dir gefallen?«
  »Nein.«
  Alle lachten. Aber Lydia ging in das Haus zurück und in ihrem großen
  Auge stand eine Träne.
  
  
  8
  Auf der Stralauer Wiese
  
  Nach dem ersten Besuche Rubehns waren Wochen vergangen, und der
  günstige Eindruck, den er auf die Damen gemacht hatte, war im Steigen
  geblieben, wie das Wetterglas. Jeden zweiten, dritten Tag erschien er
  in Gesellschaft Van der Straatens, der seinerseits an der allgemeinen
  Vorliebe für den neuen Hausgenossen teilnahm, und nie vergaß, ihm einen
  Platz anzubieten, wenn er selber in seinem hochrädrigen Kabriolett
  hinausfuhr. Ein wolkenloser Himmel stand in jenen Wochen über der
  Villa, drin es mehr Lachen und Plaudern, mehr Medisieren und Musizieren
  gab, als seit lange. Mit dem Musizieren vermochte sich Van der Straaten
  freilich auch jetzt nicht auszusöhnen, und es fehlte nicht an Wünschen
  wie der, »mit von der Schiffsmannschaft des fliegenden Holländers
  zu sein,« aber im Grunde genommen war er mit dem »anspruchsvollen
  Lärm« um vieles zufriedener, als er einräumen wollte, weil der
  von nun an in eine neue, gesteigerte Phase tretende Wagner-Kultus
  ihm einen unerschöpflichen Stoff für seine Lieblingsformen der
  Unterhaltung bot. Siegfried und Brünhilde, Tristan und Isolde, welche
  dankbaren Tummelfelder! Und es konnte, wenn er in Veranlassung dieser
  Themata seinem Renner die Zügel schießen ließ, mitunter zweifelhaft
  erscheinen, ob die Musizierenden am Flügel oder er und sein Übermut die
  Glücklicheren waren.
  Und so war Hochsommer gekommen und fast schon vorüber, als an einem
  wundervollen Augustnachmittage Van der Straaten den Vorschlag einer
  Land- und Wasserpartie machte. »Rubehn ist jetzt ein rundes Vierteljahr
  in unserer Stadt und hat nichts gesehen, als was zwischen unserem
  Kontor und dieser unserer Villa liegt. Er muß aber endlich unsere
  landschaftlichen Schätze, will sagen unsere Wasserflächen und Stromufer
  kennen lernen, erhabene Wunder der Natur, neben denen die ganze
  heraufgepuffte Main- und Rheinherrlichkeit verschwindet. Also Treptow
  und Stralow, und zwar rasch, denn in acht Tagen haben wir den Stralauer
  Fischzug, der an und für sich zwar ein liebliches Fest der Maien, im
  übrigen aber etwas derb und nicht allzu günstig für Wiesewachs und
  frischen Rasen ist. Und so proponier' ich denn eine Fahrt auf morgen
  nachmittag. Angenommen?«
  Ein wahrer Jubel begleitete den Schluß der Ansprache, Melanie sprang
  auf, um ihm einen Kuß zu geben, und Fräulein Riekchen erzählte, daß es
  nun gerade dreiunddreißig Jahre sei, seit sie zum letztenmal in Treptow
  gewesen, an einem großen Dobremontschen Feuerwerkstage, -- derselbe
  Dobremont, der nachher mit seinem ganzen Laboratorium in die Luft
  geflogen. »Und in die Luft geflogen warum? Weil die Leute, die mit dem
  Feuer spielen, immer zu sicher sind und immer die Gefahr vergessen. Ja,
  Melanie, du lachst. Aber, es ist so, immer die Gefahr vergessen.«
  Es wurde nun gleich zu den nötigen Verabredungen geschritten, und man
  kam überein, am anderen Tage zu Mittag in die Stadt zu fahren, daselbst
  ein kleines Gabelfrühstück einzunehmen und gleich danach die Partie
  beginnen zu lassen: die drei Damen im Wagen, Van der Straaten und
  Rubehn entweder zu Fuß oder zu Schiff. Alles regelte sich rasch und nur
  die Frage, wer noch aufzufordern sei, schien auf kleine Schwierigkeiten
  stoßen zu sollen.
  »Gryczinskis?« fragte Van der Straaten und war zufrieden, als alles
  schwieg. Denn so sehr er an der rotblonden Schwägerin hing, in der
  er, um ihres anschmiegenden Wesens willen, ein kleines Frauenideal
  verehrte, so wenig lag ihm an dem Major, dessen superiore Haltung ihn
  bedrückte.
  »Nun denn, Duquede?« fuhr Van der Straaten fort und hielt das Krayon an
  die Lippe, mit dem er eventuell den Namen des Legationsrates notieren
  wollte.
  »Nein,« sagte Melanie. »Duquede nicht. Und so verhaßt mir der ewige
  Vergleich vom ›Mehltau‹ ist, so gibt es doch für Duquede keinen andern.
  Er würde von Stralow aus beweisen, daß Treptow, und von Treptow aus
  beweisen, daß Stralow überschätzt werde, und zu Feststellung dieses
  Satzes brauchen wir weder einen Legationsrat a. D., noch einen
  Altmärkischen von Adel.«
  »Gut, ich bin es zufrieden,« erwiderte Van der Straaten. »Aber Reiff?«
  »Ja, Reiff,« hieß es erfreut. Alle drei Damen klatschten in die Hände
  und Melanie setzte hinzu: »Er ist artig und manierlich und kein
  Spielverderber und trägt einem die Sachen. Und dann, weil ihn alle
  kennen, ist es immer, als führe man unter Eskorte, und alles grüßt
  so verbindlich, und mitunter ist es mir schon gewesen, als ob die
  Brandenburger Torwache ›heraus‹ rufen müsse.«
  »Ach, das ist ja nicht um des alten Reiff willen,« sagte Anastasia, die
  nicht gern eine Gelegenheit vorübergehen ließ, sich durch eine kleine
  Schmeichelei zu insinuieren. »Das ist um +deinetwillen+. Sie haben dich
  für eine Prinzessin gehalten.«
  »Ich bitte nicht abzuschweifen,« unterbrach Van der Straaten, »am
  wenigsten im Dienst weiblicher Eitelkeiten, die sich, nach dem Prinzipe
  von Zug um Zug, bis ins Ungeheuerliche steigern könnten. Ich habe
  Reiff notiert, und Arnold und Elimar verstehen sich von selbst. Eine
  Wasserfahrt ohne Gesang ist ein Unding. Dies wird selbst von mir
  zugestanden. Und nun frag' ich, wer hat noch weitre Vorschläge zu
  machen? Niemand? Gut. So bleibt es bei Reiff und Arnold und Elimar,
  und ich werde sie per Rohrpost avertieren. Fünf Uhr. Und daß wir sie
  draußen bei Löbbekes erwarten.«
  Am andern Tage war alles Erregung und Bewegung auf der Villa, viel,
  viel mehr als ob es sich um eine Reise nach Teplitz oder Karlsbad
  gehandelt hätte. Natürlich, eine Fahrt nach Stralow war ja das
  ungewöhnlichere. Die Kinder sollten mit, es sei Platz genug auf dem
  Wagen, aber Lydia war nicht zu bewegen und erklärte bestimmt, sie
  +wolle+ nicht. Da mußte denn, wenn man keine Szene haben wollte,
  nachgegeben werden, und auch die jüngere Schwester blieb, da sie sich
  daran gewöhnt hatte, dem Beispiele der ältern in all und jedem zu
  folgen.
  In der Stadt wurde, wie verabredet, ein Gabelfrühstück genommen und
  zwar in Van der Straatens Zimmer. Er wollt' es so jagd- und reisemäßig
  wie möglich haben und war in bester Laune. Diese wurd' auch nicht
  gestört, als in demselben Augenblicke, wo man sich gesetzt hatte,
  ein Absagebrief Reiffs eintraf. Der Polizeirat schrieb: »Chef eben
  konfidentiell mit mir gesprochen. Reise heute noch. Elf Uhr fünfzig.
  Eine Sache, die sich der Mitteilung entzieht. Dein Reiff. Pstskr. Ich
  bitte der schönen Frau die Hand küssen und ihr sagen zu dürfen, daß ich
  untröstlich bin ...«
  Van der Straaten fiel in einen heftigen Krampfhusten, weil er,
  unter dem Lesen, unklugerweise von seinem Sherry genippt hatte.
  Nichtsdestoweniger sprach er unter Husten und Lachen weiter und erging
  sich in Vorstellungen Reiffscher Großtaten. »In politischer Mission.
  Wundervoll. O lieb Vaterland, kannst ruhig sein. Aber +einen+ kenn'
  ich, der noch ruhiger sein darf: er, der Unglückliche, den er sucht.
  Oder sag' ich gleich rundweg: der Attentäter, dem er sich an die Fersen
  heftet. Denn um etwas Staatsstreichlich-Hochverräterisches muß es sich
  doch am Ende handeln, wenn man einen Mann wie Reiff allerpersönlichst
  in den Sattel setzt. Nicht wahr, Sattlerchen von der Hölle? Und heut
  abend noch! Die reine Ballade. ›Wir satteln nur um Mitternacht.‹ O,
  Leonore! O Reiff, Reiff.« Und er lachte konvulsivisch weiter.
  Auch Arnold und Elimar, die man nach Verabredung draußen treffen
  wollte, wurden nicht geschont, bis endlich die Pendule vier schlug und
  zur Eile mahnte. Der Wagen wartete schon und die Damen stiegen ein und
  nahmen ihre Plätze: Fräulein Riekchen neben Melanie, Anastasia auf
  dem Rücksitz. Und mit ihren Fächern und Sonnenschirmen grüßend, ging
  es über Platz und Straßen fort, erst auf die Frankfurter Linden und
  zuletzt auf das Stralauer Tor zu.
  Van der Straaten und Rubehn folgten eine Viertelstunde später in
  einer Droschke zweiter Klasse, die man ›echtheits‹halber gewählt
  hatte, stiegen aber unmittelbar vor der Stadt aus, um nunmehr an den
  Flußwiesen hin den Rest des Weges zu Fuß zu machen.
   * * * * *
  Es schlug fünf, als unsre Fußgänger das Dorf erreichten und in
  Mitte desselben Ehms ansichtig wurden, der mit seinem Wagen, etwas
  ausgebogen, zur Linken hielt und den ohnehin wohlgepflegten Trakehnern
  einen vollen Futtersack eben auf die Krippe gelegt hatte. Gegenüber
  stand ein kleines Haus, wie das Pfefferkuchenhaus im Märchen, bräunlich
  und appetitlich, und so niedrig, daß man bequem die Hand auf die
  Dachrinne legen konnte. Dieser Niedrigkeit entsprach denn auch die kaum
  mannshohe Tür, über der, auf einem wasserblauen Schilde, »Löbbekes
  Kaffeehaus« zu lesen war. In Front des Hauses aber standen drei, vier
  verschnittene Lindenbäume, die den Bürgersteig von dem Straßendamme
  trennten, auf welchem letzteren Hunderte von Sperlingen hüpften und
  zwitscherten und die verlorenen Körner aufpickten.
  »Dies ist das Ship-Hotel von Stralow,« sagte Van der Straaten im
  Ciceroneton und war eben willens in das Kaffeehaus einzutreten, als Ehm
  über den Damm kam und ihm halb dienstlich halb vertraulich vermeldete,
  »daß die Damens schon vorauf seien, nach der Wiese hin. Und die Herren
  Malers auch. Und hätten beide schon vorher gewartet und gleich den
  Tritt runter gemacht und alles. Erst Herr Gabler und dann Herr Schulze.
  Und an der Würfelbude hätten sie Strippenballons und Gummibälle
  gekauft. Und auch Reifen und eine kleine Trommel und allerhand noch.
  Und einen Jungen hätten sie mitgenommen, der hätte die Reifen und
  Stöcke tragen müssen. Und Herr Elimar immer vorauf. Das heißt mit 'ner
  Harmonika.«
  »Um Gottes willen,« rief Van der Straaten, »Ziehharmonika?«
  »Nein, Herr Kommerzienrat. Wie 'ne Maultrommel.«
  »Gott sei Dank! ... Und nun kommen Sie, Rubehn. Und du, Ehm, du wartest
  nicht auf uns und läßt dir geben ... Hörst du?«
  Ehm hatte dabei seinen Hut abgenommen. In seinen Zügen aber war
  deutlich zu lesen: ich werde warten.
  Am Ausgange des Dorfes lag ein prächtiger Wiesenplan und dehnte sich
  bis an die Kirchhofsmauer hin. In Nähe dieser hatten sich die drei
  Damen gelagert und plauderten mit Gabler, während Elimar einen seiner
  großen Gummibälle monsieur-herkulesartig über Arm und Schulter laufen
  ließ.
  Van der Straaten und Rubehn hörten schon von ferne her das
  Bravoklatschen und klatschten lebhaft mit. Und nun erst wurde man
  ihrer ansichtig, und Melanie sprang auf und warf ihrem Gatten, wie zur
  Begrüßung, einen der großen Bälle zu. Aber sie hatte nicht richtig
  gezielt, der Ball ging seitwärts und Rubehn fing ihn auf. Im nächsten
  Augenblicke begrüßte man sich und die junge Frau sagte: »Sie sind
  geschickt. Sie wissen den Ball im Fluge zu fassen.«
  »Ich wollt', es wäre das Glück.«
  »Vielleicht ist es das Glück.«
  Van der Straaten, der es hörte, verbat sich alle derartig intrikaten
  Wortspielereien, widrigenfalls er an die Braut telegraphieren oder
  vielleicht auch Reiff in konfidentieller Mission abschicken werde.
  Worauf Rubehn ihn zum hundertsten Male beschwor, endlich von der
  »ewigen Braut« ablassen zu wollen, die wenigstens vorläufig noch im
  Bereiche der Träume sei. Van der Straaten aber machte sein kluges
  Gesicht und versicherte, »daß er es besser wisse«.
  Danach kehrte man an die Lagerstelle zurück, die sich nun rasch in
  einen Spielplatz verwandelte. Die Reifen, die Bälle flogen, und da die
  Damen ein rasches Wechseln im Spiele liebten, so ging man, innerhalb
  anderthalb Stunden, auch noch durch Blindekuh und Gänsedieb und
  »Bäumchen, Bäumchen, verwechselt euch.« Das letztere fand am meisten
  Gnade, besonders bei Van der Straaten, dem es eine herzliche Freude
  war, das scharfgeschnittene Profil Riekchens mit ihren freundlichen und
  doch zugleich etwas stechenden Augen um die Baumstämme herumgucken zu
  sehen. Denn sie hatte, wie die meisten Verwachsenen, ein Eulengesicht.
  Und so ging es weiter, bis die Sonne zum Rückzug mahnte.
  Harmonika-Schulze führte wieder und neben ihm marschierte Gabler, der
  das Trommelchen ganz nach Art eines Tambourins behandelte. Er schlug es
  mit den Knöcheln, warf es hoch und fing es wieder. Danach folgte das
  Van der Straatensche Paar, dann Rubehn und Fräulein Riekchen, während
  Anastasia träumerisch und Blumen pflückend den Nachtrab bildete. Sie
  hing süßen Fragen und Vorstellungen nach, denn Elimar hatte beim
  Blindekuh, als er sie haschte, Worte fallen lassen, die nicht mißdeutet
  werden konnten. Er hätte denn ein schändlicher und zweizüngiger Lügner
  sein müssen. Und das war er nicht ... Wer so rein und kindlich an der
  Tete dieses Zuges gehen und die Harmonika blasen konnte, konnte kein
  Verräter sein.
  Und sie bückte sich wieder, um (zum wievielsten Male!) an einer
  Wiesenranunkel die Blätter und die Chancen ihres Glücks zu zählen.
  
  
  9
  Löbbekes Kaffeehaus
  
  Vor Löbbekes Kaffeehaus hatte sich innerhalb der letzten zwei Stunden
  nichts verändert, mit alleiniger Ausnahme der Sperlinge, die jetzt,
  statt auf dem Straßendamm, in den verschnittenen Linden saßen und
  quirilierten. Aber niemand achtete dieser Musik, am wenigsten Van der
  Straaten, der eben Melanies Arm in den Elimars gelegt und sich selbst
  an die Spitze des Zuges gesetzt hatte. »~Attention!~« rief er und
  bückte sich, um sich ohne Fährlichkeit durch das niedrige Türjoch
  hindurchzuzwängen.
  Und alles folgte seinem Rat und Beispiel.
  Drinnen waren ein paar absteigende Stufen, weil der Flur um ein
  erhebliches niedriger lag, als die Straße draußen, weshalb denn auch
  den Eintretenden eine dumpfe Kellerluft entgegenkam, von der es schwer
  zu sagen war, ob sie durch ihren biersäuerlichen Gehalt mehr gewann
  oder verlor. In der Mitte des Flurs sah man nach rechts hin eine Nische
  mit Herd und Rauchfang, einer kleinen Schiffsküche nicht unähnlich,
  während von links her ein Schanktisch um mehrere Fuß vorsprang.
  Dahinter ein sogenanntes »Schapp«, in dem oben Teller und Tassen und
  unten allerhand ausgebuchtete Likörflaschen standen. Zwischen Tisch
  und Schapp aber thronte die Herrin dieser Dominien, eine große, starke
  Blondine von Mitte dreißig, die man ohne weiteres als eine Schönheit
  hätte hinnehmen müssen, wenn nicht ihre Augen gewesen wären. Und
  doch waren es eigentlich schöne Augen, an denen in Wahrheit nichts
  auszusetzen war, als daß sie sich daran gewöhnt hatten, alle Männer
  in zwei Klassen zu teilen, in solche, denen sie zuzwinkerten: »wir
  treffen uns noch« und in solche, denen sie spöttisch nachriefen: »wir
  kennen euch besser.« Alles aber, was in diese zwei Klassen +nicht+
  hineinpaßte, war nur Gegenstand für Mitleid und Achselzucken.
  Es muß leider gesagt werden, daß auch Van der Straaten von diesem
  Achselzucken betroffen wurde. Nicht seiner Jahre halber, im Gegenteil,
  sie wußte Jahre zu schätzen, nein, einzig und allein weil er von alter
  Zeit her die Schwäche hatte, sich ~à tout prix~ populär machen zu
  wollen. Und das war der Blondine das verächtlichste von allem.
  Am Ausgange des Flurs zeigte sich eine noch niedrigere Hoftür und
  dahinter kam ein Garten, drin, um kümmerliche Bäume herum, ein
  Dutzend grüngestrichene Tische mit schrägangelehnten Stühlen von
  derselben Farbe standen. Rechts lief eine Kegelbahn, deren vorderstes
  unsichtbares Stück sehr wahrscheinlich bis an die Straße reichte.
  Van der Straaten wies ironischen Tons auf all diese Herrlichkeiten
  hin, verbreitete sich über die Vorzüge anspruchslos gebliebener
  Nationalitäten und stieg dann eine kleine Schrägung nieder, die, von
  dem Sommergarten aus, auf einen großen, am Spreeufer sich hinziehenden
  und nach Art eines Treibhauses angelegten Glasbalkon führte. An einer
  der offenen Stellen desselben rückte die Gesellschaft zwei, drei Tische
  zusammen und hatte nun einen schmalen, zerbrechlichen Wassersteg und
  links davon ein festgeankertes, aber schon dem Nachbarhause zugehöriges
  Floß vor sich, an das die kleinen Spreedampfer anzulegen pflegten.
  Rubehn erhielt ohne weiteres den besten Platz angewiesen, um als
  Fremder den Blick auf die Stadt frei zu haben, die flußabwärts, im
  rot- und golddurchglühten Dunst eines heißen Sommertages dalag. Elimar
  und Gabler aber waren auf den Wassersteg hinausgetreten. Alles freute
  sich des Bildes, und Van der Straaten sagte: »Sieh, Melanie. Die
  Schloßkuppel. Sieht sie nicht aus wie Santa Maria Saluta?«
  »Salutè,« verbesserte Melanie, mit Akzentuierung der letzten Silbe.
  »Gut, gut. Also Salutè,« wiederholte Van der Straaten, indem er jetzt
  auch seinerseits das e betonte. »Meinetwegen. Ich prätendiere nicht,
  der alte Sprachenkardinal zu sein, dessen Namen ich vergessen habe.
  ~Salus salutis~, vierte Deklination, oder dritte, das genügt mir
  vollkommen. Und Salutà oder Salutè macht mir keinen Unterschied.
  Freilich muß ich sagen, so wenig zuverlässig die lieben Italiener
  in allem sind, so wenig sind sie's auch in ihren Endsilben. Mal a
  mal e. Aber lassen wir die Sprachstudien und studieren wir lieber
  die Speisekarte. Die Speisekarte, die hier natürlich von Mund zu
  Mund vermittelt wird, eine Tatsache, bei der ich mich jeder blonden
  Erinnerung entschlage. Nicht wahr, Anastasia? He?«
  »Der Herr Kommerzienrat belieben zu scherzen,« antwortete Anastasia
  pikiert. »Ich glaube nicht, daß sich eine Speisekarte von Mund zu Mund
  vermitteln läßt.«
  »Es käm' auf einen Versuch an, und ich für meinen Teil wollte mich zu
  Lösung der Aufgabe verpflichten. Aber erst wenn Luna herauf ist und ihr
  Antlitz wieder keusch hinter Wolkenschleiern birgt. Bis dahin muß es
  bleiben und bis dahin sei Friede zwischen uns. Und nun, Arnold, ernenn'
  ich dich, in deiner Eigenschaft als Gabler, zum Erbküchenmeister und
  lege vertrauensvoll unser leibliches Wohl in deine Hände.«
  »Was ich dankbarst akzeptiere,« bemerkte dieser, »immer vorausgesetzt,
  daß du mir, um mit unsrem leider abwesenden Freunde Gryczinski zu
  sprechen, einige Direktiven erteilen willst.«
  »Gerne, gerne,« sagte Van der Straaten.
  »Nun denn, so beginne.«
  »Gut. So proponier' ich Aal und Gurkensalat ... Zugestanden?«
  »Ja,« stimmte der Chorus ein.
  »Und danach Hühnchen und neue Kartoffeln ... Zugestanden?«
  »Ja.«
  »Bliebe nur noch die Frage des Getränks. Unter Umständen wichtig
  genug. Ich hätte der Lösung derselben, mit Unterstützung Ehms
  und unsres Wagenkastens, vorgreifen können, aber ich verabscheue
  Landpartien mit mitgeschlepptem Weinkeller. Erstens kränkt man die
  Leute, bei denen man doch gewissermaßen immer noch zu Gaste geht, und
  zweitens bleibt man in dem Kreise des Althergebrachten, aus dem man
  ja gerade heraus will. Wozu macht man Partien? Wozu? frag' ich. Nicht
  um es besser zu haben, sondern um es anders zu haben, um die Sitten
  und Gewohnheiten anderer Menschen und nebenher auch die Lokalspenden
  ihrer Dorf- und Gauschaften kennen zu lernen. Und da wir hier nicht im
  Lande Kanaan weilen, wo Kaleb die große Traube trug, so stimm' ich für
  das landesübliche Produkt dieser Gegenden, für eine kühle Blonde. Kein
  Geld kein Schweizer; keine Weiße kein Stralow. Ich wette, daß selbst
  Gryczinski nie bessere Richtschnuren gegeben hat. Und nun geh' Arnold.
  Und für Anastasia einen Anisette ... Kühle Blonde! Ob wohl unsere
  Blondine zwischen Tisch und Schapp in diese Kategorie fällt?«
  Elimar hatte mittlerweile dem Schauspiele der untergehenden Sonne
  zugesehn und auf dem gebrechlichen Wasserstege, nach Art eines
  Turners, der zum Hocksprung ansetzt, seine Knie gebogen und wieder
  angestrafft. Alles mechanisch und gedankenlos. Plötzlich aber, während
  er noch so hin und her wippte, knackte das Brett und brach, und
  nur der Geistesgegenwart, mit der er nach einem der Pfähle griff,
  mocht' er es zuschreiben, daß er nicht in das gerad' an dieser
  Dampfschiffanlegestelle sehr tiefe Wasser niederstürzte. Die Damen
  schrien laut auf, und Anastasia zitterte noch, als der durch sich
  selbst Gerettete mit einem gewissen Siegeslächeln erschien, das unter
  den sich jagenden Vorwürfen von »Tollkühnheit« und »Gleichgültigkeit
  gegen die Gefühle seiner Mitmenschen« eher wuchs als schwand.
  Ein Zwischenfall wie dieser konnte sich natürlich nicht ereignen, ohne
  von einer Fülle von Kommentaren und Hypothesen begleitet zu werden, in
  denen die Wörter »wenn« und »was« die Hauptrolle spielten und endlos
  wiederkehrten. +Was+ würde geschehen sein, wenn Elimar den Pfahl nicht
  rechtzeitig ergriffen hätte? +Was+, wenn er trotzdem hineingefallen,
  endlich +was+, wenn er nicht zufällig ein guter Schwimmer gewesen wäre?
  Melanie, die längst ihr Gleichgewicht wieder gewonnen hatte,
  behauptete, daß Van der Straaten unter allen Umständen hätte
  nachspringen müssen, und zwar erstens als Urheber der Partie, zweitens
  als resoluter Mann und drittens als Kommerzienrat, von denen, allen
  historischen Aufzeichnungen nach, noch keiner ertrunken wäre. Selbst
  bei der Sintflut nicht.
  Van der Straaten liebte nichts mehr, als solche Neckereien seiner Frau,
  verwahrte sich aber, unter Dank für das ihm zugetraute Heldentum, gegen
  alle daraus zu ziehenden Konsequenzen.
  Er halte weder zu der alten Firma Leander, noch zu der neuen des
  Kapitän Boyton, bekenne sich vielmehr, in allem was Heroismus angehe,
  ganz zu der Schule seines Freundes Heine, der, bei jeder Gelegenheit,
  seiner äußersten Abneigung gegen tragische Manieren einen ehrlichen und
  unumwundenen Ausdruck gegeben habe.
  »Aber,« entgegnete Melanie, »tragische Manieren sind doch nun mal
  gerade +das+, was wir Frauen von euch verlangen.«
  »Ah, bah! Tragische Manieren!« sagte Van der Straaten. »Lustige
  Manieren verlangt ihr und einen jungen Fant, der euch beim
  Zwirnwickeln die Docke hält und auf ein Fußkissen niederkniet, darauf
  sonderbarerweise jedesmal ein kleines Hündchen gestickt ist. Mutmaßlich
  als Symbol der Treue. Und dann seufzt er, der Adorante, der betende
  
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