Die Träger des deutschen Idealismus - 01

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Männer und Völker


Die Träger
des deutschen Idealismus


Die Träger
des deutschen Idealismus
Von
Rudolf Eucken
Weihnachten 1915
Verlag Ullstein & Co, Berlin
Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung, vorbehalten.
Amerikanisches Copyright 1915 by Ullstein & Co Berlin.


Meinen lieben Söhnen
Arnold und Walter,
die beide im Felde stehen


Zum Geleit

Dies Buch will kein Beitrag zur wissenschaftlichen Forschung sein,
es möchte allen Gliedern des deutschen Volkes dienen, welche die
Erfahrungen unserer gewaltigen Zeit mit voller Seele teilen. Ungeheures
geht bei uns vor, Ungeheures müssen wir wirken und leiden, Ungeheures
fordert von uns die eherne Gegenwart. Um dem gewachsen zu sein,
bedürfen wir nicht nur seelischer Kraft, sondern auch eines freudigen
Vertrauens auf unser Volk, auf seine Tüchtigkeit und seine Größe. Kann
nun überhaupt die Vergegenwärtigung dessen, was an Großem bei uns und
von uns geschah, solches Vertrauen stärken, so gebührt dabei auch den
Denkern ein Platz, welche wir als Träger des deutschen Idealismus
verehren. In schweren Zeiten haben sie vom Grunde ihrer Seele her eine
geistige Welt entwickelt, welche bei aller Sorge für die Menschheit an
erster Stelle deutsche Überzeugung und deutsche Gesinnung bekundet, sie
zeigen uns deutlich die Tiefe und den Reichtum des deutschen Wesens,
sie zeigen nicht minder deutlich, daß es darauf gerichtet ist, das
Ganze des menschlichen Lebens zu heben, mehr aus dem Menschen zu
machen, ihn durch die Entfaltung einer Innenwelt auch dem All enger zu
verbinden. Ihr nun, die ihr kämpft, und auch ihr, die ihr leidet, ihr
sollt sehen und wissen, daß das, wofür ihr kämpft und leidet, etwas
Großes, etwas Einzigartiges, etwas Unentbehrliches ist, ihr sollt das
erkennen nicht aus lehrhaften Reden, sondern aus dem Bilde der Männer
selbst, die ihr Leben an höchste Ziele setzten, die auf ihrem Gebiet
ebenfalls tapfere Kämpfer waren, und denen das Streben nach Wahrheit
eine viel zu ernste, viel zu aufregende Sache war, als daß Sorge und
Schmerz sie hätten verschonen können. Möchte die Vergegenwärtigung
ihrer Lebensarbeit euch in eurem Ringen wohltuend sein, möchte sie euch
in dem Vertrauen bestärken, daß unsere deutsche Sache mit all dem Hohen
und Heiligen, was sie enthält, zum Siege gelangen muß. Auch werdet ihr
sehen, daß jene Männer den Kampf für das Vaterland vollauf zu würdigen
wußten; ihr seid ihre Erben, ihr dürft euch ihnen innerlich nahe fühlen.
* * * * *
Dies unserer Arbeit gesteckte Ziel entscheidet auch über ihre Wege,
es setzt der Erörterung bestimmte Grenzen sowohl in der Auswahl
des Stoffes als in der Art der Behandlung. Über das Nähere dieser
Abgrenzung läßt sich verschiedener Meinung sein, darüber streiten wir
nicht, wir geben nichts anderes als unsere eigene Überzeugung von
diesen Dingen, indem wir meinen, daß eine solche Schrift entweder
persönlicher Art sein muß oder überhaupt keine Berechtigung hat. So sei
denn dieses Bild der Hauptträger des deutschen Idealismus kämpfenden
und suchenden Seelen zu freundlicher Betrachtung empfohlen.
+Jena+, im zweiten Jahre des großen Krieges.
+Rudolf Eucken.+


Inhalt

Seite
Zum Geleit 9
Von Meister Eckhart bis Kant 15
Kant 27
Fichte 73
Die Romantik 111
Schelling 123
Schleiermacher 161
Hegel 189
Zeitgenossen Hegels 227
Rückblick und Ausblick 233
Sachregister 249


Von Meister Eckhart bis Kant

Den Ausgangspunkt unserer Untersuchung hat Kant zu bilden. Denn so viel
Schätzbares schon vor ihm auch in der Philosophie geleistet war, es ist
uns das heute mehr ein Gegenstand gelehrter Forschung als ein Quell
ursprünglichen Lebens.
[Randnotiz: Meister Eckhart]
Kant vornehmlich hat die geistige Atmosphäre geschaffen, innerhalb
derer der deutsche Idealismus seine eigentümliche Gestalt und seine
hinreißende Kraft gewonnen hat; alles Spätere hat sich an ihm und von
ihm aus entwickelt. Immerhin bedarf es einiger Worte der Erinnerung
daran, daß die Denkarbeit der Deutschen nicht eine Leistung von
gestern auf heute ist, wie unsere Gegner oft sagen, daß sie vielmehr
von der Höhe des Mittelalters her an der Kulturbewegung einen
stattlichen Anteil genommen hat. Dabei ist namentlich wertvoll, daß
sie auch auf das Ganze unseres Lebens von alters her erhöhend gewirkt
hat. Es geschah das vornehmlich nach zwiefacher Richtung: in einer
geistigen Durchleuchtung und seelischen Annäherung der Religion, und
in einer hohen Fassung und Schätzung des Erkennens selbst; beides
hängt eng miteinander zusammen und entspringt derselben Hochhaltung
der Innerlichkeit als der Hauptstätte von Leben und Wirken. Eine
Verinnerlichung der Religion war das leitende Ziel der Mystik, diese
aber findet ihre Höhe in der philosophischen Arbeit Meister Eckharts (†
1327). All sein Denken ist darauf gerichtet, die Seele Gott unmittelbar
zu verbinden, sie ganz und gar auf ihren göttlichen Ursprung als auf
ihr wahres Wesen zurückzuführen, ihr in Ablegung aller unterscheidenden
Besonderheit eine unvergleichliche Größe und Seligkeit zu erringen.
Dazu aber bedarf es energischer Erkenntnisarbeit. Denn wohl hängt unser
Wesen daran, daß Gott uns nahe und gegenwärtig ist, aber zur vollen
Einigung mit ihm bedarf es der Arbeit des Erkennens. »Nicht schon davon
sind wir selig, daß Gott in uns ist, sondern daß wir ihn erfassen
und erkennen, wie nahe er uns ist. Denn was hülfe es einem Menschen,
wenn er König wäre und wüßte es nicht?« Die dazu nötige Umwälzung
aber, die Eckhart mit gewaltiger Kraft und in wunderbarer, deutscher
Sprache anregt, ist nicht möglich ohne eine mutige Losreißung von allem
Äußeren und eine völlige Wendung des Lebens ins Innere. »Will die Seele
Frieden und Freiheit des Herzens in einer stillen Ruhe finden, so muß
sie wieder heimrufen allen ihren Kräften und sie sammeln von allen
zerstreuten Dingen in ein inwendiges Wirken.« So hat denn auch das
Wort »Gemüt« als Bezeichnung für das innerste Heiligtum der Seele, die
Abgeschiedenheit von aller Außenwelt, das »Fünklein« Gottes in uns, den
auszeichnenden Sinn erhalten, in dem Fichte die Deutschen das Volk
des Gemütes genannt hat. Diese Innerlichkeit erhebt die Religion über
alle äußeren Formen und Einrichtungen, aber sie soll diese nach Eckhart
nicht zerstören, sie wirkt bei ihm innerhalb der kirchlichen Ordnung,
nicht gegen sie; dabei aber bleibt es, daß alles Äußere nur als Gefäß
des inneren Lebens irgendwelchen Wert besitzt, und daß bei ihm volle
Freiheit der Gestaltung herrschen muß. Denn nicht allen Menschen ist
derselbe Weg gewiesen, »was des einen Leben, das ist des anderen Tod«.
Die mystische Bewegung konnte unmöglich die Höhe Eckharts dauernd
behaupten, aber sie hat als ein, wenn auch oft verborgener Nebenstrom
das deutsche Leben durch die Jahrhunderte treu begleitet und
durchgängig zur Freiheit und Verinnerlichung gewirkt, sie hat auch auf
protestantischem Boden Wurzel geschlagen und hier die merkwürdige,
ja rührende Gestalt Jakob Böhmes (1575--1624) hervorgebracht, der
als schlichter Schuhmachermeister schwerste Probleme in einer Weise
behandelt hat, die immer von neuem tiefsinnige Geister zu ihm
zurückrief. Schwer ringen sich bei ihm die Gedanken zu voller Klarheit
auf; wo das aber gelingt, da erscheint eine großartige Kraft und
Einfalt. Sein philosophisches Hauptproblem ist der Ursprung des Bösen,
und wenn ihn dies Problem zu höchst gewagten Spekulationen führt, so
hat es ihn die Gegensätze der Welt vollauf würdigen und in großen Zügen
schildern lassen. So heißt es z. B.: »Um die Morgenröte scheidet
sich der Tag von der Nacht und wird ein jedes in seiner Art und Kraft
erkannt. Denn ohne Gegensatz wird nichts offenbar, kein Bild erscheint
im klaren Spiegel, so eine Seite nicht verfinstert wird. Wer weiß von
Freuden zu sagen, der kein Leid empfunden, oder vom Frieden, der keinen
Streit gesehen oder erfahren hat?«
Dieselbe Gesinnung aber, welche aus der Seele eines schlichten
Mannes quillt, fand auf der Höhe der wissenschaftlichen Arbeit
volle Schätzung. Wir denken hier vornehmlich an Leibniz. Er, der
weltumspannende und weltdurchdringende Forscher, nähert sich in
tiefster Seele der Mystik, wie das namentlich seine deutschen Schriften
zeigen. Aus ihrer Denkweise stammen z. B. die Worte: »Gott ist das
Leichteste und Schwerste, so zu erkennen, das Erste und Leichteste in
dem Lichtweg, das Schwerste und Letzte in dem Weg des Schattens.«
* * * * *
[Randnotiz: Deutsche und englische Denkart]
Es stellt sich aber die deutsche Philosophie über die Mystik hinaus
eigentümlich zur Religion, wesentlich darin verschieden von der
Philosophie benachbarter Völker. Die englische Philosophie neigt
dahin, Religion und Wissenschaft voneinander gänzlich zu trennen, sie
gestattet es, hier und dort grundverschiedene Richtungen einzuschlagen;
die französische stellt beide Gebiete leicht in schroffsten Gegensatz
und zwingt, zwischen ihnen zu wählen; die deutsche möchte jedem sein
Recht zuerkennen, beide aber in eine innere Verbindung bringen und
das eine durch das andere fördern. Diese Denkart mag manche Gefahren
enthalten, aber sie wirkt dahin, die Religion ins Weite, Freie und
Innerliche zu bilden, in die Philosophie aber die Sorge um die höchsten
Wesens- und Lebensfragen der Menschheit einzuschließen.
* * * * *
In anderer Richtung wirkte die deutsche Denkarbeit zur Erhöhung des
Lebens durch die Art, wie sie das Erkennen selbst verstand. Es gilt ihr
nicht als ein Mittel für außer ihm liegende Zwecke, sondern als ein
völliger Selbstzweck, es trägt reinste Freude und Befriedigung in sich
selbst, es liegt nicht in einer Reihe mit anderen Tätigkeiten, sondern
es bildet die beherrschende Höhe des ganzen Lebens, von der nach
allen Seiten hin Erleuchtung und Kräftigung ausgeht. Hier erscheint
ein starker Gegensatz deutscher und englischer Art. Die englischen
Denker neigen dahin, das Wissen als bloßes Mittel und Werkzeug für
das praktische Leben zu behandeln, es genügt ihnen ein Erkennen, das
dem Handeln gangbare Wege zeigt, so fehlt ihnen auch ein Antrieb, es
über diese Grenze hinaus zu verfolgen, sie haben eine starke Scheu vor
aller Metaphysik. Das schützt sie vor manchen Gefahren, aber es raubt
ihnen zugleich die Größe eines Denkens, das die Menschenseele mit dem
Ganzen der Welt und seiner Unendlichkeit ringen läßt und sie in solchem
Ringen über das bloße Alltagsleben hinaushebt. Die Deutschen dagegen
sehen eben in dem, was die Engländer eine Überspannung menschlichen
Vermögens schelten, die tiefste Seele der Forschung, sie können nicht
ruhen und rasten, bevor sie einen inneren Zusammenhang des Menschen mit
dem All ergründet haben; so ist der Deutsche von Haus aus Metaphysiker,
und er bleibt es selbst da, wo er eine Kritik an der überkommenen
Metaphysik übt, wie das vornehmlich bei Kant geschieht.
* * * * *
[Randnotiz: Nikolaus von Kues--Kepler]
Diese deutsche Schätzung des Erkennens teilen alle Höhen
philosophischer Arbeit. Gleich bei demjenigen deutschen Denker, der
die Philosophie der Neuzeit überhaupt eröffnet, bei Nikolaus von
Kues (1401--1464) erscheint sie in klaren Zügen. Hier heißt es:
»Immer möchte der Mensch was er erkennt mehr erkennen und was er
liebt mehr lieben, und die ganze Welt genügt ihm nicht, weil sie sein
Erkenntnisverlangen nicht stillt.« Eine ähnliche Denkweise beherrscht
Keplers Streben und läßt ihn seinem astronomischen System eine
philosophische und künstlerische Grundlage geben; läßt sich endlich
höher vom Erkennen denken, als es Leibniz tut, wenn er meint, »die
ganze Erde könne unserer wahren Vollkommenheit nicht dienen, es sei
denn, daß sie uns Gelegenheit gibt, ewige und allgemeine Wahrheiten zu
finden, so in allen Weltkugeln, ja in allen Zeiten und mit einem Wort
bei Gott selbst gelten müssen, von dem sie auch beständig herfließen«?
So nur einige hervorragende Stimmen aus der Reihe der deutschen Denker.
Solcher Schätzung ist untrennbar verbunden eine eigentümliche
Gestaltung der Erkenntnisarbeit. Sie wird nicht darauf beschränkt,
die Eindrücke der Umgebung aufzunehmen, zu ordnen und aufzuschichten,
sondern sie erzeugt eine Bewegung von innen heraus und besteht darauf,
alle Wirklichkeit in diese Bewegung hineinzuziehen; so will sie die
Dinge von innen her fassen und bis zum tiefsten Grunde durchleuchten;
in solchem Streben schafft sie große Gedankenwelten, in denen
die Bewegung vom Ganzen zum Einzelnen geht und eine durchgehende
Entwicklung alle Mannigfaltigkeit zusammenhält. Ohne Zweifel liegen
große Gefahren auf diesem Wege, aber es sind Gefahren der Größe, nicht
der Kleinheit.
* * * * *
[Randnotiz: Leibniz]
In einer Umgebung, die eine hohe Schätzung des Erkennens und einen
festen Glauben an die Macht des Denkens in sich trug, ist Immanuel Kant
(1724--1804) aufgewachsen. Es war der Geist Leibnizens, der, durch
Wolff schulmäßig auf Flaschen gezogen und dabei vielfach verdünnt,
die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts beherrschte. Diese Philosophie
bildet die wissenschaftliche Höhe der gesamten Aufklärungszeit. Sie
teilt mit dieser Zeit das unbedingte Vertrauen auf das Vermögen der
Vernunft, aber sie faßt die Vernunft möglichst weit, so daß nichts
von ihr unberührt bleibt, und daß sich die schroffsten Gegensätze
durch ihr ausgleichendes Wirken versöhnen. Leibniz ist ein Denker des
Sowohl -- als auch, nicht des Entweder--oder. Durch und durch moderner
Mensch, möchte er zugleich allen früheren Epochen volle Gerechtigkeit
widerfahren lassen, Vernunft und Geschichte verbleiben ihm nicht in
vorgefundener Entzweiung, sondern der Gesamtbefund der Geschichte wird
als ein Werk der Vernunft verstanden, auch Religion und Vernunft werden
zu engem Bündnis verknüpft. Indem er den Kern der Wirklichkeit in das
Innenleben setzt und geistige Macht die Welt beherrschen läßt, wahrt
er zugleich vollauf die selbständige Art der Natur; die unendliche
Vielheit der Welt entzückt und beschäftigt ihn, aber zugleich bleibt
sein Streben fest auf eine allumfassende Einheit gerichtet; er deckt
überall Leben und Bewegung auf, aber er sucht zugleich eine ewige
Wahrheit, die alle Bewegung trägt und zusammenhält. Um das Denken der
Überwindung so schroffer Gegensätze für fähig zu halten, muß er sein
Vermögen aufs höchste schätzen; indem er die kühnste Behauptung nicht
scheut, ja am Spiel der logischen Phantasie aufrichtige Freude hat,
erscheint er als der Hauptdenker der Barockzeit, als ein Ausdruck ihres
schrankenlosen Kraftgefühls, ihrer Lust an gewagten Konstruktionen,
aber auch ihrer unbegrenzten Bewegungsfülle. Sein ganzes System läuft
in eine künstliche Hypothese aus, in die Hypothese der prästabilierten
Harmonie, wonach Gott die Welt so eingerichtet habe, daß jedes Wesen
sich lediglich aus sich selbst entwickele, sein Vorstellungsreich
aus sich selbst erzeuge, daß dieses Vorstellungsreich aber ganz und
gar dem wirklichen Weltgeschehen und der Stellung des Einzelwesens
in ihm entspreche. Solche Künstlichkeit hat Leibniz viel Widerspruch
eingetragen und die Wirkung seiner Gedanken gehemmt, aber die
künstlichen Bildungen waren hier oft Hebel großer und fruchtbarer
Wahrheit. Hier nämlich entspringen die Grundgedanken, welche das
Schaffen unserer großen Dichter tragen, von hier aus wirkt die Idee
einer in sich selbst gegründeten und zugleich weltumspannenden
Persönlichkeit als eines Ebenbildes Gottes, von hier aus die einer
Entwicklung von innen heraus und eines stetigen Fortschritts ins
Unendliche, von hier aus wirkt ein fester Glaube an die Vernunft der
Wirklichkeit und zugleich ein freudiges Lebensgefühl, eine Lust am
Wirken und Schaffen, die einen verklärenden Glanz auch auf die Welt
um uns wirft und ihr Ganzes als die beste aller möglichen Welten
erscheinen läßt. Der wissenschaftlichen Arbeit aber hat Leibniz
zusammen mit dem Zuge ins Weite einen starken Antrieb zu gründlicher
Klärung und eindringender Analyse gegeben, seine Forschung zuerst
hat die Unendlichkeit des Kleinen zur Geltung gebracht. Es ist viel
logische Zucht von ihm ausgegangen; wie diese Zucht das 18. Jahrhundert
durchdrang, so ist auch Kant in ihr aufgewachsen und ohne sie nicht zu
denken.


Kant

Vor einer Befassung mit Kants Gedankenwelt sei mit einigen Worten
seines Lebenslaufes gedacht, steht er doch in enger Beziehung
zum Charakter seiner Arbeit. Kant (1724--1804) hat sich aus
schlichtbürgerlichen Verhältnissen unter mannigfachen Hemmungen
langsam emporgearbeitet, er hat auch seine geistige Eigentümlichkeit
weniger als ein Geschenk der Natur empfangen, als sie sich mühsam
durch Zweifel und Kämpfe hindurch errungen; er entspricht insofern der
gemeinsamen deutschen Art, deren Größe weniger in leichter und glatter
Naturbegabung als in treuer Arbeit und in unermüdlichem Vordringen zu
höchsten Höhen liegt. Auch Kants Leben war Arbeit, harte Arbeit, aber
eine Arbeit, die in die letzten Tiefen zurückgriff und den Gesamtstand
des Lebens verändert hat. Sein tägliches Leben verlief in streng
geordneter und vorsichtig abgemessener Weise; so sehr er ein offenes
Auge für alle Mitteilung der Zeit und Umgebung hatte, es trieb ihn
nicht in die Weite, um neue Eindrücke aufzunehmen -- er hat seine
ostpreußische Heimat nie verlassen --, noch weniger trieb es ihn zum
Eingreifen in das praktische Leben, sondern all sein Mühen ging in
höchster Konzentration dahin, die große Umwälzung, die sich seinem
Denken erschlossen hatte, zu voller Klarheit herauszuarbeiten und nach
allen Hauptrichtungen durchzubilden. Mag vieles in der Einrichtung
seines bürgerlichen und häuslichen Lebens dem ersten Anblick klein
und pedantisch scheinen, es hebt sich durch die Erwägung, daß es
pflichtgemäß einer großen Aufgabe diente, die unermeßliche Arbeit
forderte. Beim Eintritt in sein achtzigstes Lebensjahr schrieb Kant in
sein Tagebuch das Psalmwort: »Des Menschen Leben währet siebzig Jahre,
und wenn es hoch kommt, achtzig Jahre, und wenn es köstlich ist, so ist
es Mühe und Arbeit gewesen.«
* * * * *
Gewissenhaftigkeit der Arbeit, peinliche Sorgfalt im kleinen, das ist
auch ein Hauptzug der Kantischen Philosophie. Der völlige Bruch mit
der Vergangenheit und die Eröffnung neuer Bahnen legte die Versuchung
nahe, lediglich weite Ausblicke zu entwerfen und sich mit flüchtig
hingeworfenen Umrissen zu begnügen. Nichts liegt Kant ferner als das.
Die neuen Gedanken werden nicht bloß skizziert, sondern aufs genaueste
bis ins einzelne durchgearbeitet und damit zugleich geprüft, alles
Schwelgen im Allgemeinen, alles prunkhafte Pathos ist Kant so zuwider
wie nur möglich, mit großer Entschiedenheit verbittet er sich eine
Bezeichnung seines Systems als eines »höheren« Idealismus. »Beileibe
nicht der höhere. Hohe Türme und die ihnen ähnlichen metaphysisch
großen Männer, um welche beide gemeiniglich viel Wind ist, sind
nicht für mich. Mein Platz ist das fruchtbare Bathos (die fruchtbare
Niederung) der Erfahrung.« In dem, was einfach scheint, ein schweres
Problem zu entdecken und dem Schlichten eine Größe zu geben, das ist
eine besondere Stärke Kants.
* * * * *
[Randnotiz: Der Pflichtgedanke]
Wenn das deutsche Volk heute eines Kant gedenkt und sein Lebenswerk in
höchsten Ehren hält, so hebt sich aus der Fülle seiner Leistung ein
Gedanke mit überwältigender Kraft und Klarheit hervor, das ist der
Gedanke der Pflicht: Kant ist dem deutschen Volke vor allem der Lehrer,
der Prophet der Pflicht, es entspricht der allgemeinen Überzeugung,
wenn auf seinem Grabe als bezeichnend für sein Leben und Werk die Worte
angebracht sind: »Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und
zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich
das Nachdenken damit beschäftigt: der bestirnte Himmel über mir und das
moralische Gesetz in mir.«
* * * * *
Aber war denn der Pflichtgedanke etwas so Großes und Neues, daß seine
Verfechtung dem Denker eine so überragende Stellung geben und sein
Wirken so eindringlich machen konnte? Der Gedanke der Pflicht ist
von jeher tief in die menschliche Seele eingegraben, und weder an
wissenschaftlicher Fassung noch an allgemeiner Anerkennung hatte es
ihm bis dahin gefehlt. Schon vor Jahrtausenden haben die Stoiker den
Begriff wissenschaftlich formuliert, die Aufklärungszeit hatte ihn neu
in den Vordergrund gerückt, und eben der Staat, dem Kant angehörte,
hatte den Pflichtgedanken durch Gesetz und Übung kräftig verkörpert.
Kein Geringerer als Friedrich der Große hat gesagt, die Wissenschaften
müßten als Mittel betrachtet werden, um uns fähiger zur Erfüllung
unsrer Pflichten zu machen (~les sciences doivent être considérées
comme des moyens qui nous donnent plus de capacité pour remplir nos
devoirs~).
* * * * *
Wie kommt es nun, daß uns beim Pflichtgedanken vornehmlich Kant vor
Augen tritt, und daß das deutsche Volk den Kern seines Wirkens in der
Verfechtung dieses Gedankens findet?
Unsre Antwort darauf ist folgende: Kant hat zunächst den Begriff der
Pflicht in vollster Schärfe erfaßt, er hat ferner ein schweres Problem
in ihm entdeckt und es klar herausgestellt, er hat endlich dies Problem
in durchgreifender Weise gelöst. Dies aber konnte er nicht, ohne ein
Ganzes der Gedankenwelt auszubilden und die Pflichtidee als die Höhe
einer das ganze Leben umfassenden Bewegung zu verstehen.
* * * * *
[Randnotiz: Pflicht und Neigung]
Kant hat die Pflichtidee in denkbarster Schärfe gefaßt. Die Pflicht ist
nur echt, wenn sie völliger Selbstzweck ist, wenn wir sie lediglich
ihrer selbst wegen tun, sie darf sich nicht auf unsre Neigungen
gründen, nicht als Mittel für unser Glück behandelt werden. Wo
immer das geschieht, da ist der Begriff der Pflicht verfälscht, und
das Handeln kann aus ihm keine Stärkung ziehen. »Die Ehrwürdigkeit
der Pflicht hat nichts mit Lebensgenuß zu schaffen; sie hat ihr
eigentümliches Gesetz, auch ihr eigentümliches Gericht, und wenn
man beide noch so sehr zusammenschütteln wollte, um sie vermischt,
gleichsam als Arzeneimittel, der kranken Seele zuzureichen, so
scheiden sie sich doch alsbald von selbst, und tun sie es nicht,
so wirkt das erste gar nicht.« Deshalb brauchen wir nicht unsere
Neigungen als schlecht zu verwerfen, aber aus ihnen kann nun und nimmer
pflichtmäßiges Handeln entspringen, wir müssen auch direkt gegen unsere
Neigungen handeln können und dürfen erst, wo das geschieht, vollauf der
Pflichtmäßigkeit unseres Handelns gewiß sein. Die Pflicht muß direkt
auf unseren Willen wirken, wir aber müssen zu ihr das Verhältnis der
Achtung haben: »die einzig sittliche Triebfeder ist die Achtung für das
Sittengesetz«.
* * * * *
[Randnotiz: Menschenwürde]
Läßt sich das alles erwägen und in seiner vollen Stärke anerkennen,
ohne daß ein schweres Problem darin erscheint? Kant selbst hat es in
folgende Worte gefaßt.
»Pflicht! Du erhabener großer Name --, welches ist der deiner würdige
Ursprung, und wo findet man die Wurzel deiner edlen Abkunft, welche
alle Verwandtschaft mit Neigungen stolz ausschlägt und von welcher
Wurzel abzustammen die unnachlaßliche Bedingung desjenigen Wertes
ist, den sich Menschen allein selbst geben können?« Was bedeutet die
Pflicht, die so gebieterisch zu uns spricht und so gänzliche Hingebung
fordert, wie kann sie sich selbst rechtfertigen? Die Pflicht bringt
an uns ein Gebot, das keinen Widerspruch duldet, aber dies Gebot kann
unmöglich uns von draußen auferlegt sein, kann unmöglich einen Befehl
einer außer uns befindlichen Macht bedeuten. Denn ein solcher Befehl
könnte nur durch die Vorhaltung eines Lohnes oder die Androhung einer
Strafe wirken; eine daraus entspringende Handlung würde aber lediglich
durch den Gedanken an ihre Folgen bestimmt sein und damit ihren
moralischen Charakter verlieren. Wer an Lohn denkt, der hat seinen
Lohn dahin. So kann das verpflichtende Gesetz nur aus unsrem eignen
Wesen stammen, wir selbst müssen die Gesetzgeber sein. Aber wenn das
möglich sein soll, so müssen wir uns selbst völlig anders verstehen,
als wir es bis dahin taten. Wir dürfen nicht bloß Naturwesen sein und
den Verkettungen der Natur unterliegen, es muß in uns eine höhere Art,
ein selbständiges Leben wirken, das sich selbst seine Gesetze gibt
und in ihrer Durchführung das höchste der Ziele findet. Dies aber ist
in der Tat der Fall, es erscheint in uns eine praktische Vernunft,
nicht als etwas von draußen Herangebrachtes, sondern als die Tiefe
unsres eignen Wesens, als unser wahres Wesen. In dieser Vernunft
aber liegt die Forderung, daß das Handeln sich ganz unter die Form
der Allgemeinheit stelle; das Pflichtgebot, nach Kants Ausdruck der
kategorische Imperativ, lautet: »Handle so, daß die Maxime deines
Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung
gelten kann,« oder auch in der Wendung zum Menschen: »Handle so,
daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person als in der Person
eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als
Mittel brauchst.« Der Mensch gewinnt dadurch nicht bloß einen Wert,
sondern eine unvergleichliche Würde, daß er in freier Entscheidung
jenes Gesetz der Vernunft als sein eignes ergreifen und ganz und gar
als selbständiges Glied einer allgemeinen Ordnung handeln kann. Die
Freiheit ist die unerläßliche Voraussetzung des Pflichtgebots und aller
Moral, wir müssen können, wo wir sollen, »du kannst, denn du sollst«.
Als eine Erweisung der Freiheit und als ein völliger Selbstzweck hebt
sich damit das moralisch Gute über alle andern Güter unvergleichlich
hinaus. Aus solcher Gesinnung fließen die Worte: »Es ist überall nichts
in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu denken möglich, was
ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden als allein ein guter
Wille.« »Alles Gute, das nicht auf moralisch gute Gesinnung gepfropft
ist, ist nichts als Schein und schimmerndes Elend.«
* * * * *
[Randnotiz: Persönlichkeit]
So ist es auch das Moralische, das allein den Menschen wesentlich mehr
sein läßt als das Tier. Denn »über die bloße Tierheit erhebt ihn das
gar nicht, daß er Vernunft hat, wenn sie ihm nur zum Behuf desjenigen
dienen soll, was bei Tieren der Instinkt verrichtet«. Wie sich hier von
der Moral und der ihr eignen Freiheit her das Gesamtbild des Lebens
vertieft, das zeigen Begriffe wie Persönlichkeit und Charakter; sie
verdanken die hohe Schätzung, die wir alle ihnen zollen, an erster
Stelle Kant. Denn Persönlichkeit hatte im Mittelalter und bis in die
Neuzeit hinein nur die allgemeinere Bedeutung eines vernünftigen
Einzelwesens (~rationalis naturae individua substantia~), erst Leibniz
suchte dem Begriff eine präzisere Fassung zu geben, er fand sie in dem
Vermögen des Menschen, in den verschiedenen Zeitpunkten das Bewußtsein
der Identität zu bewahren; nur das schien ihm eine moralische und eine
juristische Verantwortlichkeit möglich zu machen, nur daraus schöpfte
er die Überzeugung von einer persönlichen Unsterblichkeit. So stand
hier beim Begriff der Persönlichkeit das Intellektuelle voran, erst
Kant wendet ihn ins Moralische.
Persönlichkeit bedeutet ihm nämlich »Freiheit und Unabhängigkeit vom
Mechanismus der ganzen Natur«, das, »was den Menschen über sich selbst
(als einen Teil der Sinnenwelt) erhebt, was ihn an eine Ordnung der
Dinge knüpft, die nur der Verstand denken kann, und die zugleich
die ganze Sinnenwelt, mit ihr das empirisch bestimmbare Dasein des
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