Die Träger des deutschen Idealismus - 02

Total number of words is 4036
Total number of unique words is 1295
41.9 of words are in the 2000 most common words
55.3 of words are in the 5000 most common words
61.0 of words are in the 8000 most common words
Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
Menschen in der Zeit und das Ganze aller Zwecke, unter sich hat.« Ja,
es wird wohl bei ihm von der Tierheit und Menschheit in uns noch die
Persönlichkeit unterschieden; der Mensch ist zunächst ein lebendes,
dann ein lebendes und zugleich vernünftiges, als Persönlichkeit endlich
ein vernünftiges und zugleich der Zurechnung fähiges Wesen.
* * * * *
Eine ähnliche Verschiebung ins Moralische und zugleich ins Freitätige
hat der Begriff des Charakters durch Kant erfahren. Im Anschluß an
die ursprüngliche Bedeutung des griechischen Wortes bezeichnete vor
ihm Charakter jede ausgeprägte seelische Beschaffenheit; es kann in
diesem Sinne verschiedene Charaktere geben, gute sowohl als böse;
keinen Charakter haben, das heißt, nicht scharf ausgeprägt sein. Der
Charakter erschien hier vorwiegend als eine Gabe der Natur. Kant
dagegen unterscheidet deutlich zwischen einem physischen und einem
moralischen Charakter. Jener zeigt nach Kant an, was sich aus dem
Menschen machen läßt, dieser dagegen, was er aus sich selbst zu machen
bereit ist. »Einen Charakter schlechthin zu haben, bedeutet diejenige
Eigenschaft des Willens, nach welcher das Subjekt sich selbst an
bestimmte praktische Prinzipien bindet, die es sich durch seine eigne
Vernunft unabänderlich vorgeschrieben hat.« In diesem Sinne wollte Kant
nicht sagen, der Mensch habe diesen oder jenen Charakter, sondern er
habe überhaupt einen Charakter, »der nur ein einziger oder gar keiner
sein kann«.
Schon allein durch diese Begriffe, die in aller Munde sind, ist Kant
tief in das deutsche Leben eingedrungen.
Überall erscheint dabei die engste Verbindung von Freiheit und Gesetz,
und zugleich erscheint Kant als ein Durchbildner und Vollender dessen,
was im deutschen Wesen angelegt ist.
Freiheit ist uns nicht eine Abwerfung aller Bindung, ein Heraustreten
aus allen Zusammenhängen, ein Gestalten des Lebens möglichst nach
eignem Belieben, sondern sie ist ein Aufnehmen der Vernunftzwecke
und der allgemeinen Ordnung in den eignen Willen, die freie Bindung
an ein selbstgewolltes Gesetz; darin liegt eine Selbstverneinung,
aber mehr doch eine Selbstbejahung. Der Gehorsam gegen ein solches
selbstgewolltes Gesetz kann keinen Druck erzeugen, nicht einengend auf
uns wirken, vielmehr wird er unser Wesen erweitern, uns fester auf
uns selbst stehen lassen. Daß die Fremden das nicht verstehen und den
Gehorsam des freien Mannes blinde Unterwürfigkeit schelten, das ist
eine gröbliche Verkennung der Wahrheit, eine Verkennung, die ihrerseits
eine klägliche Flachheit bekundet. Kant aber ist es, der den deutschen
Begriff der Freiheit aus dem tiefsten Innern unsres Wesens begründet
und ihn zum festen Grundstein des menschlichen Lebens gemacht hat.
* * * * *
[Randnotiz: Freiheit und Kausalgesetz]
Aber alle Schätzung der Gesinnung, die in solchen Lehren hervortritt,
enthebt uns nicht der Frage, wie es mit der Wirklichkeit der Freiheit
steht, ob diese nicht auf den Widerspruch der ganzen Weltordnung
stößt, da sie die in ihr waltende Gesetzlichkeit aufs schroffste
zu durchbrechen scheint. Dies nun ist das Große an Kant, daß er der
Freiheit einen sicheren Platz im Ganzen der Welt erstreitet, ja daß
er sie zur Seele der ganzen Wirklichkeit macht. Das aber kann nicht
geschehen ohne eine völlige Umwandlung ihres gewöhnlichen Bildes,
das verlangt im besonderen eine gründliche Auseinandersetzung mit
dem großartigen Bilde, das Spinoza entworfen hatte, und das eben
um die Zeit Kants die Gemüter überwältigend fortriß. Bei Spinoza
wird die Welt ein lückenloser Kausalzusammenhang, der einfachen und
unwandelbaren Gesetzen folgt, jeder einzelne ist hier in seinem Tun
und Lassen ganz und gar durch seine Stellung im Ganzen bestimmt,
der Mensch ist ebensowenig frei, wie es ein geworfener Stein sein
würde, wenn er während des Fliegens ein Bewußtsein erhielte. Wird das
konsequent durchgedacht, so verschwindet alles Gut und Böse, so bleibt
nur Notwendigkeit; alles Urteilen hat dann einem bloßen Feststellen
der Tatsächlichkeit zu weichen. Diese Lehre ist aber nicht private
Meinung eines einzelnen Denkers, sie ist die volle Durchbildung
einer Überzeugung, die namentlich von der mechanisch-mathematischen
Naturwissenschaft vertreten wurde und dadurch zu großem Einfluß in
der Neuzeit gelangt war; das Kausalgesetz, das jene beherrscht, ward
bei Spinoza zum Weltgesetz erhoben. Nun aber hatte eben an diesem
Punkt Kant aus rein wissenschaftlichen Erwägungen eine Gegenbewegung
aufgenommen, die der schottische Philosoph Hume (1711--1776) begonnen
hatte, die freilich nicht gegen das Kausalitätsgesetz selbst, wohl
aber gegen seine Gültigkeit als ein den Dingen innewohnendes und den
Weltlauf beherrschendes Gesetz gerichtet war.
* * * * *
[Randnotiz: Hume und Kant]
Hume, ein klarer und kritischer Kopf, untersuchte den Ursprung
des Kausalgesetzes und fand dabei das Ergebnis, daß er unmöglich
in der Erfahrung, der Wahrnehmung der Dinge liegen kann. Denn der
innere Zusammenhang des Geschehens, die Abhängigkeit des einen vom
anderen, den jenes Gesetz behauptet, ist unmöglich von draußen her
mitzuteilen, die Erfahrung zeigt uns nie mehr als ein Neben- und
Nacheinander. So läßt sich die Kausalverknüpfung nur als ein Werk
des Menschen verstehen, und zwar denkt sich das Hume in folgender
Weise. Oft wiederholen sich bei uns Vorstellungen in gleicher
Folge, und wir gewöhnen uns an diese Folge; treten nun wiederum die
ersten Glieder der Reihe ein, so erwecken sie in uns mit zwingender
Kraft das Bild der späteren; diesen Zusammenhang mit seinem Zwang
tragen wir nun fälschlich in die Dinge hinein und glauben sie durch
ein inneres Band verbunden, während nur unsre Vorstellungen sich
verkettet haben. Bei solcher Fassung verliert die Kausalverknüpfung
ihre Geltung als Weltgesetz, sie wird ein Vorgang in der einzelnen
Seele, und da die Vorstellungsfolgen sich nur durch Erfahrung
bilden, so kann die Kausalbetrachtung den Bereich der Erfahrung nie
überschreiten; da ferner die Art der Verkettung ganz und gar eine
Sache der einzelnen Individuen ist, so gibt es keine ihnen überlegene
sachliche und allgemeine Wahrheit, und Wissenschaft in dem Sinne,
wie sie bisher angenommen war, wird schlechterdings aufgehoben.
Diese Verschiebung des Kausalgesetzes vom Objekt ins Subjekt, vom
Weltall in die Einzelseele, versetzte Kant in gewaltige Aufregung
und nachhaltige Bewegung. Daß die Kausalverknüpfung uns nicht von
draußen zugehen könne, das schien auch ihm unbestreitbar. Aber wenn
er in der Verneinung mit Hume zusammenging, so fand das von diesem
gebotene Ja mit seiner Zerstörung strenger Wissenschaft bei Kant den
härtesten Widerstand. Die Wirklichkeit einer solchen Wissenschaft als
eines Systems allgemeingültiger Wahrheiten galt ihm schon durch die
Tatsache der Mathematik als allem Zweifel enthoben, sie dünkte ihm eine
unantastbare Wahrheit. Aber wie nun diese Wahrheit mit der Aufhebung
der Kausalverknüpfung als eines Weltgesetzes in Einklang bringen?
Dieser Widerspruch, dem ein schwächerer Geist erlegen wäre, hat Kant
auf einen neuen Weg geführt und ihn in dessen Verfolgung die Höhe
seiner wissenschaftlichen Leistung erreichen lassen.
* * * * *
Je mehr sich seiner Arbeit das Problem vertiefte, desto deutlicher
wurde ihm, daß die Entscheidung letzthin an der Fassung des
Wahrheitsbegriffes hängt. Wie ist Wahrheit, wissenschaftliche Wahrheit
zu verstehen? Von alters her wurde sie als eine Übereinstimmung
unsres Denkens mit einer unabhängig von ihm vorhandenen Wirklichkeit
verstanden, und wenn auch der Lauf der Zeiten die Wege zu diesem
Ziele erheblich verändert hatte, das Ziel selbst blieb bestehen und
kam somit auch an Kant. Er aber erkannte mit eindringender Schärfe,
daß es in dieser Fassung schlechterdings unerreichbar sei, daß also,
wenn alle Wahrheit an ihm hänge, auf sie ein für allemal zu verzichten
sei. Das vornehmlich aus dem Grunde, weil, wenn unsere Begriffe
einer Bestätigung von draußen bedürften, wir nie zu allgemeinen und
notwendigen Sätzen gelangen könnten, wie die Wissenschaft sie verlangt,
da die Erfahrung uns immer nur Einzelnes und Tatsächliches darbieten
kann. Überhaupt aber wäre nie auszumachen, wie weit unsre Begriffe
zu dem Tatbestand stimmten, den sie uns übermitteln möchten. Kurz,
die Skepsis wäre unüberwindlich, wenn Wahrheit Übereinstimmung unsres
Denkens mit den Dingen bedeutet.
* * * * *
[Randnotiz: Dinge und Begriffe]
Um solchen Schiffbruch der Wissenschaft zu vermeiden, gibt es nach Kant
nur einen einzigen Weg: es müssen sich nicht unsere Begriffe nach den
Dingen, sondern es müssen sich die Dinge nach unsern Begriffen richten,
d. h. wir erkennen Dinge nur so weit, als sie in unsere Anschauungs-
und Denkformen eingehen. Diese Verlegung des Schwerpunkts aus dem
Objekt ins Subjekt, die kopernikanische Wendung, wie Kant selbst sie
genannt hat, ergibt aber eine Wissenschaft und eine wissenschaftliche
Erfahrung nur, wenn das Subjekt wesentlich anders verstanden wird,
als Hume es tat. Vom Stande der Einzelseele greift Kant auf ein
geistiges Gefüge zurück, das allen Menschen gemeinsam ist und das
aller Arbeit trägt. Er erörtert zunächst, was für Wissenschaft und
wissenschaftliche Erfahrung nötig ist, und er zeigt dann Punkt für
Punkt, wie dieses geleistet wird; er zeigt, wie jene Leistungen, über
deren Tatsächlichkeit ihm kein Zweifel besteht, möglich sind, d. h.
was von rein geistiger Tätigkeit, von dem, was er ~a priori~ nennt,
in ihnen steckt. Es erhellt dabei namentlich, daß alles, was an den
Erkenntnissen Form ist, nicht von draußen stammen kann, sondern vom
Geiste selbst geliefert werden muß; zu einer gewaltigen Aufgabe wird
es damit, die Grundformen aufzusuchen, welche alles Erkennen tragen.
In seiner Kritik der reinen Vernunft hat Kant das mit staunenswerter
Energie und mit unermüdlicher Sorgfalt getan; das Gesamtergebnis ist
ein völlig anderes Bild der Wirklichkeit. Denn nun wird gewiß, daß
wir die Ordnung, die wir in der Natur als den Dingen innewohnend
vorzufinden glaubten, selbst ihr geliehen haben, daß wir in der
wissenschaftlichen Forschung nur unser Eigentum wieder an uns nehmen.
So erklärt sich das stolze Wort Kants: »Der Verstand schöpft seine
Gesetze nicht aus der Natur, sondern schreibt sie dieser vor.«
Aber wenn so dem Geist ein hohes Vermögen zuerkannt wird, Kant ist
nicht minder darauf bedacht, seine Grenzen sorgfältig zu wahren. Unser
menschliches Denken hat nicht das Vermögen zu schaffen, es vermag
nicht aus seiner Bewegung eine Wirklichkeit zu erzeugen, sondern
die architektonische Tätigkeit der Vernunft bedarf eines Stoffes,
den die Gegenstände als Dinge an sich geben müssen, »alles Denken
muß sich zuletzt auf Anschauungen, mithin bei uns auf Sinnlichkeit
beziehen, weil uns auf andere Weise kein Gegenstand gegeben werden
kann.« Sinnlichkeit und Denken müssen zusammenwirken, um Erfahrung
hervorzubringen. »Ohne Sinnlichkeit würde uns kein Gegenstand gegeben
und ohne Verstand keiner gedacht werden. Gedanken ohne Inhalt sind
leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind.«
* * * * *
[Randnotiz: Erfahrung und Denken]
Ein Denken, das über die Erfahrung hinausstrebt und eigne Wege gehen
will, wie es nach Kants Überzeugung die herkömmliche philosophische
Spekulation versuchte, fällt unvermeidlich ins Leere. Wie Kant
demgegenüber seine Aufgabe faßt, das hat er in mannigfachen Bildern
ausgedrückt, die seine Darstellung durchflechten. Er will vor dem
Gerichtshof der Vernunft unerbittlich zerstören, was eine ihre Kräfte
überspannende Vernunft sich zu Unrecht angemaßt hat; er will das
Gebäude der Wissenschaft auf festem Grunde und nach einem klaren
architektonischen Riß erbauen; er will der Spekulation die Flügel
beschneiden, mit der sie hoffte sich in den leeren Raum aufschwingen
zu können.
* * * * *
Seine Aufgabe hat Kant in drei Hauptabschnitten durchgeführt, deren
jeder eine eingreifende Umwandlung der überkommenen und eingewurzelten
Denkart vollzieht. Der erste zeigt, daß die Formen der sinnlichen
Anschauung Raum und Zeit nicht Eigenschaften der Dinge sind, sondern
lediglich der menschlichen Seele angehören, welche die Erscheinungen
mittels ihrer zusammenfügt. Es wird gezeigt, daß sie unmöglich aus den
Eindrücken der Sinne hervorgehen können, daß sie vielmehr von diesen
vorausgesetzt werden, auch daß sie sich nicht durch Abstraktion aus
ihnen ableiten lassen, sondern als ein Ganzes alle Mannigfaltigkeit in
sich fassen; auch die Allgemeingültigkeit und die Notwendigkeit der
geometrischen und der arithmetischen Sätze wird als Zeugnis für die
Subjektivität von Raum und Zeit verwandt; jene wäre unmöglich, wenn
diese unabhängig von uns vorhandene Dinge wären, zu denen uns erst die
Erfahrung einen Zugang verschaffen könnte.
* * * * *
Der zweite Hauptabschnitt zeigt, daß unser Bild der Welt eines
Zusammenwirkens von Sinnlichkeit und Denken bedarf, daß aber das Denken
die Grundformen liefert, die Elemente wie das Gefüge. Hier findet sich
auch gegenüber Hume eine neue Behandlung des Kausalitätsproblems; so
entschieden Kant die Kausalität den Dingen selbst fernhält, sie ist
ihm keine Gewöhnung des bloßen Individuums, sondern ein Grundgesetz
unseres Denkens, das nur mit ihrer Hilfe den Verlauf des Geschehens
in eine feste Ordnung bringt. Dieser Abschnitt ist über die einzelnen
Punkte hinaus darin bedeutend, daß er zeigt, wie auch das Bild
der sinnlichen Welt auf logischer Arbeit ruht und an jeder Stelle
ihrer bedarf, er gibt damit der Erziehung für die Bildung der Sinne
wertvollste Anregung, ferner zerstört er für die Wissenschaft ein
für allemal den Materialismus mit seiner plumpen Gleichsetzung von
sinnlicher Handgreiflichkeit und echter Tatsächlichkeit, indem er das
Hervorgehen unsres Weltbildes aus Gedankenarbeit deutlich vor Augen
stellt.
* * * * *
[Randnotiz: Letzte Wahrheiten]
Der letzte Hauptabschnitt zeigt endlich, daß ein unabweisbares
Verlangen, zum Bedingten ein Unbedingtes zu suchen, die
Mannigfaltigkeit auf eine letzte Einheit zurückzuführen, das
Denken über das Gebiet der Erfahrung hinaustreibt, daß es ihm aber
schlechterdings unmöglich ist, in dem Jenseitigen festen Fuß zu fassen
und zu letzten Wahrheiten vorzudringen. An drei Punkten erfahren wir
solchen Widerspruch in unserer eignen Vernunft: bei der Seele, beim
Weltall, beim Dasein Gottes. Wohl wird im Leben alle Mannigfaltigkeit
seelischer Vorgänge von einer Einheit des Bewußtseins getragen, aber
wir dürfen deshalb nicht diese Einheit von jenem Zusammenhang ablösen
und von ihr auf das Wesen der Seele oder auf eine Unsterblichkeit
schließen; davon auf spekulativem Wege etwas zu erkennen, ist uns
schlechthin versagt.
* * * * *
Ein unabweisbares Verlangen unserer Vernunft nach Einheit drängt uns
dazu, die mannigfachen Erscheinungen um uns zum Ganzen einer Welt
zusammenzuschließen, und wir können dann nicht umhin, über den Ursprung
und das Gefüge dieses Ganzen Behauptungen aufzustellen. Aber bei
solchem Unternehmen verwickeln wir uns in entgegengesetzte Thesen,
deren jede wohl die andere widerlegen, nicht aber die eigene Wahrheit
dartun kann. Das spricht zum allgemeinen Bewußtsein am deutlichsten
bei der Frage, ob die Welt in Raum und Zeit begrenzt oder ob sie
unbegrenzt ist. Eins von beiden scheint notwendig, und doch können wir
uns für keins entscheiden. Denken wir nämlich die Welt in Raum und
Zeit begrenzt, so wird ihr Bild unerträglich klein; denken wir sie
unbegrenzt, so wird es unerträglich groß; solche Unmöglichkeit einer
Entscheidung darf als ein sicheres Zeugnis dafür gelten, daß Raum und
Zeit nicht von uns unabhängige Größen sind, sondern nur menschliche
Anschauungsformen.
* * * * *
Das letzte Problem ist das Dasein Gottes. Ein Verlangen unserer
Vernunft nach einem letzten Abschluß macht uns zur Bejahung jener Frage
geneigt; aber jede nähere Prüfung zeigt, daß wir damit den eignen
Kreis überspringen, subjektive Antriebe in objektive Notwendigkeiten
verwandeln, den Gebilden unseres Denkens eine Selbständigkeit
gegenüber diesem Denken verleihen.
* * * * *
So gibt uns die reine Wissenschaft keine Antwort auf die Fragen, die
unsere Seele zu beschäftigen nimmer aufhören können; auch der Lauf
der Zeit kann daran nichts ändern, da alle Fortschritte des Erkennens
innerhalb des bezeichneten Rahmens bleiben, ihn weder überschreiten
noch verändern können.
* * * * *
Das Ganze unseres intellektuellen Vermögens, wie es sich aus Kants
Untersuchung ergibt, stellt sich in zwiefacher Beleuchtung dar: es
ist groß innerhalb der Erfahrung, in dem Aufbau ihres weitverzweigten
Gefüges, in seiner völligen Durchdringung mit Denkarbeit, es ist klein,
sobald es sich über die Erfahrung hinauswagt und letzte Gründe der
Wirklichkeit erforschen will.
Das eine wie das andere wirkt aber dahin, dem Reich der Moral freien
Platz zu schaffen und ihm einen besonderen Wert zu verleihen. Die ganze
sinnliche Welt kann jetzt nicht mehr als letzte Wirklichkeit gelten,
deren Gesetze auch unser Handeln beherrschen, sie hat sich in ein Reich
der Erscheinungen verwandelt, das vornehmlich von uns selbst gebildet
ist. So bedeutet auch die Kausalverkettung nicht mehr ein Weltgesetz,
das keine Freiheit des Handelns duldet, für die Freiheit ist jetzt
freier Raum gewonnen. Auch das Unvermögen der Spekulation gegenüber
den letzten Fragen ist insofern dem Handeln günstig, als es von ihr
keine bindenden Ziele empfangen kann, sondern soweit es ihrer bedarf,
sie aus eignem Vermögen aufbringen muß.
* * * * *
[Randnotiz: Das Reich der praktischen Vernunft]
Auch die Gesamtstellung der praktischen Vernunft im Lebenswerke Kants
wird durch die Erfahrungen der Erkenntniskritik aufs wesentlichste
verbessert. Diese Erfahrungen fassen sich zusammen in eine Befreiung
des Menschen vom Druck einer ihm entgegenstehenden Welt, er braucht
nicht eine Übereinstimmung mit einer solchen Welt zu suchen, er bildet
sich seine Welt aus den Kräften und nach den Gesetzen seines eigenen
Wesens. Das war ein großer Gewinn an Freiheit und Selbständigkeit,
er brachte den Menschen in ein anderes Verhältnis zur Wirklichkeit.
Aber es verblieb bei allem Gewinn eine feste Schranke darin, daß das
Denken nur in Beziehung auf Sinnlichkeit in fruchtbare Arbeit kam,
daß Dinge an sich seiner Tätigkeit den Stoff darbieten mußten. So
drängt es notwendig weiter zu dem Gedanken, ob es nicht eine Tätigkeit
gibt, die unabhängig von solcher Beschränkung aus sich selbst heraus
eine Wirklichkeit bilden könnte; eine solche Tätigkeit müßte als
die Vollendung des Lebens gelten, sie würde nichts Dunkles, nichts
Unaufhellbares in sich tragen. Nun aber liegt eine solche Tätigkeit,
ein solches Wirken aus reiner Selbsttätigkeit vor in der Moral und
ihrem Reiche der praktischen Vernunft. So darf diese als die letzte
Tiefe der Wirklichkeit gelten, und da bei ihr das Wirken der Vernunft
nicht wie beim Erkennen an besondere Bedingungen des Menschen geknüpft
ist, so beschränkt sich auch ihre Geltung nicht auf den Menschen,
sie muß für alle Vernunftwesen gelten, sie hat eine unbedingte
Gültigkeit. Damit rechtfertigt sich vollauf die Hochschätzung, mit
der Kant die Moral behandelt, diese hat sich nun wirklich als der
Kern des Menschenwesens erwiesen und zugleich zu einer Entwerfung von
Weltausblicken fähig gezeigt. Denn in der hier gebotenen Fassung ist
die Moral nicht ein besonderes Gebiet innerhalb einer weiteren Welt,
sondern sie ist der Ursprung einer neuen Welt, und diese Welt bildet
die Tiefe der gesamten Wirklichkeit. Die Moral schafft sich gegenüber
der Natur ein eignes Reich, ein Reich der Freiheit, das sein Recht und
seinen Wert ganz und gar in sich selbst hat und keiner Bestätigung,
keiner Befestigung von außen her bedarf; es ist nunmehr vollauf
verständlich, wie sehr der Mensch durch sein selbständiges Teilnehmen
an diesem Reich der Freiheit gehoben wird, wie er ganz davon erfüllt
sein muß.
* * * * *
[Randnotiz: Die drei Grundüberzeugungen]
Solche Erhebung der Moral zu einer weltschaffenden Größe bringt es
mit sich, daß sich aus ihr auch Grundüberzeugungen vom Ganzen der
Wirklichkeit entwickeln, Grundüberzeugungen, praktische Ideen, die
keine theoretischen Lehrsätze sind und nicht als solche verwandt werden
dürfen, die aber dem pflichtmäßig handelnden Menschen unbedingt gewiß
sind; sie sind Sache des Glaubens, aber eines Glaubens, an dem aller
Wert des Menschen hängt, und der sich von einem dogmatischen Glauben
aufs deutlichste unterscheidet. Der erste Punkt dieses moralischen
Glaubens ist die Idee der Freiheit, die allein Moral überhaupt möglich
macht, Freiheit im Sinne einer Selbstbestimmung des vernünftigen
Willens; der zweite die Idee der Unsterblichkeit, da die notwendige
Forderung einer vollendeten Heiligkeit des Wandels sich innerhalb des
Erdenlebens unmöglich erfüllen läßt, ein schlechthin Unmögliches aber
nie die volle Kraft der Seele gewinnen könnte; der dritte die Idee
Gottes, als des Trägers einer naturüberlegenen Ordnung, die das Glück
zur Glückswürdigkeit in das rechte Verhältnis bringt. Von diesen Ideen
ist aber die erste als die grundlegende die weitaus wichtigste, die
anderen dienen mehr zur Ausführung und zur Hilfe. Im Grunde ist es
der Glaube an das in uns gegenwärtige Wirken einer Welt der Freiheit
gegenüber aller bloßen Natur, der Kant eine volle Gewißheit und
freudigen Lebensmut gibt. »Die Idee der Freiheit ist die einzige unter
allen Ideen der reinen Vernunft, deren Gegenstand Tatsache ist.«
* * * * *
[Randnotiz: Das moralische Gesetz in uns]
Wie sich ihm mit dem allen unser Verhältnis zu den großen Lebensfragen
darstellt, darüber spricht er sich an einer Stelle der Praktischen
Vernunft aus, die für das Ganze seiner Denkart zu bedeutend und zu
bezeichnend ist, als daß wir auf eine Anführung verzichten möchten.
Er sucht zu zeigen, daß eine nähere Einsicht in die tiefsten Gründe
der Wirklichkeit unserem moralischen Handeln leicht gefährlich werden
könnte. »Statt des Streits, den jetzt die moralische Gesinnung mit
den Neigungen zu führen hat, in welchem nach einigen Niederlagen doch
allmählich moralische Stärke der Seele zu erwerben ist, würden Gott
und Ewigkeit mit ihrer furchtbaren Majestät uns unablässig vor Augen
liegen. -- Die Übertretung des Gesetzes würde freilich vermieden, das
Gebotene getan werden; weil aber die Gesinnung, aus welcher Handlungen
geschehen sollen, durch kein Gebot mit eingeflößt werden kann, der
Stachel der Tätigkeit hier aber sogleich bei Hand und äußerlich ist,
die Vernunft also sich nicht allererst emporarbeiten darf, um Kraft zum
Widerstande gegen Neigung durch lebendige Vorstellung der Würde des
Gesetzes zu sammeln, so würden die mehrsten gesetzmäßigen Handlungen
aus Furcht, nur wenige aus Hoffnung und gar keine aus Pflicht
geschehen, ein moralischer Wert der Handlungen aber, worauf doch allein
der Wert der Person und selbst der der Welt in den Augen der höchsten
Weisheit ankommt, würde gar nicht existieren.
Nun, da es mit uns ganz anders beschaffen ist, da wir, mit aller
Anstrengung unserer Vernunft, nur eine sehr dunkle und zweideutige
Aussicht in die Zukunft haben, der Weltregierer uns sein Dasein und
seine Herrlichkeit nur mutmaßen, nicht erblicken oder klar beweisen
läßt, dagegen das moralische Gesetz in uns, ohne uns etwas mit
Sicherheit zu verheißen oder zu drohen, von uns uneigennützige Achtung
fordert, übrigens aber, wenn diese Achtung tätig und herrschend
geworden, allererst alsdann und nur dadurch Aussichten ins Reich
des Übersinnlichen, aber auch nur mit schwachen Blicken erlaubt; so
kann wahrhafte sittliche, dem Gesetze unmittelbar geweihte Gesinnung
stattfinden und das vernünftige Geschöpf des Anteils am höchsten Gute
würdig werden, das dem moralischen Werte seiner Person und nicht bloß
seiner Handlungen angemessen ist. Also möchte es auch hier wohl damit
seine Richtigkeit haben, was uns das Studium der Natur und des Menschen
sonst hinreichend lehrt, daß die unerforschliche Weisheit, durch die
wir existieren, nicht minder verehrungswürdig ist in dem, was sie uns
versagte, als in dem, was sie uns zuteil werden ließ.«
* * * * *
Zeigt diese Stelle einmal, wie tief eine religiöse Überzeugung in Kants
Gemüte wurzelt, so bekundet sie nicht minder die eigentümliche Art des
von ihm entwickelten Idealismus. Bisher suchte die Philosophie aus
dem Ganzen der Weltanschauung dem Leben seine Richtung zu geben, es
hatte seine Ziele und Güter aus der mit dem All befaßten Wissenschaft
zu empfangen. Darin vollzieht nun Kant eine völlige Umkehrung.
Ein spekulatives Eindringen in die letzten Gründe ist nach seiner
Überzeugung dem Menschen schlechterdings versagt, aber deshalb brauchen
wir nicht auf allen Sinn der Wirklichkeit zu verzichten, wir finden
ihn und zugleich die Richtung des Lebens vom Handeln her, von einem
Handeln, das sich selbst zu einer Welt erweitert, aus seiner Tätigkeit
eine Welt der Freiheit hervorbringt.
Ein Idealismus, der daraus hervorgeht, scheint unserem Denker
weit kräftiger und lebensvoller als einer, der einer verwickelten
Weltanschauung entspringt; auch hat er den Vorteil, sich auf etwas zu
gründen, was jedem Menschen nahe und gegenwärtig ist, was daher jeder
ohne viel gelehrtes Wissen bei sich beleben kann. Es ist der Mensch als
Mensch, den diese Denkweise aufruft.
* * * * *
Nachdem so die Weltmacht der Moral völlig gesichert ist, darf sie ihr
Maß an das vorgefundene Dasein legen, darf sie den ganzen Umkreis
des Lebens an sich zu ziehen und von sich aus zu gestalten suchen.
Sie wird dabei vor allem eine völlige Unabhängigkeit vom Stande der
Menschen wahren, nicht ihre Vorschriften danach einrichten und darauf
herabstimmen, was im Durchschnitt getan wird; für »höchst verwerflich«
wird es erklärt, »die Gesetze über das, was ich tun soll, von
demjenigen herzunehmen oder dadurch einschränken zu wollen, was getan
wird«. Die Moral hat ihr Gesetz und ihr Gericht in sich selbst, das Tun
und Treiben der Menschen ändert daran nicht das mindeste. »Wenn ein
jeder löge, wäre deswegen das Wahrreden eine bloße Grille?«
[Randnotiz: Das radikale Böse]
Bei solcher Unabhängigkeit der Moral kann es in keiner Weise
erschrecken und niederdrücken, wenn der Mensch sich in weitem Abstande
von ihr befindet. Das aber ist nach Kants Überzeugung in der Tat der
Fall. Sein Urteil über den moralischen Stand der Menschheit ist wenig
günstig. Er beklagt vor allem die Unlauterkeit des Menschen, seinen
Mangel an Wahrhaftigkeit und Aufrichtigkeit, er findet in ihm einen
Hang zum Bösen, der nicht zu vertilgen, sondern nur zu überwiegen ist,
er meint, daß das Böse nicht bloß in den Neigungen, sondern im Willen
liege, indem man jenen nicht widerstehen wolle. So hat Kant die Lehre
von einem »radikalen« Bösen, und er spricht wohl von einer Bösartigkeit
der menschlichen Natur; auch seine näheren Ausführungen zeigen ein
starkes Mißtrauen gegen die moralische Haltung des Menschen. »Aus so
krummem Holz, als woraus der Mensch gemacht ist, kann nichts ganz
Gerades gezimmert werden.«
Da dies aber seine Hochschätzung des Menschenwesens als eines Trägers
sittlicher Freiheit in keiner Weise vermindert, so entsteht eine starke
Spannung, und es erklärt sich auch, wie Kant weniger darauf bedacht
ist, eine Verständigung zwischen der sittlichen Forderung und dem
Menschen der Erfahrung herbeizuführen, als das sittliche Gesetz in
seiner vollen Reinheit und Strenge aufrechtzuhalten; alle Laxheit, alle
Neigung zu Kompromissen findet bei ihm entschiedenste Ablehnung.
Es bringt ihm daher echte Moral einen fortwährenden Kampf mit sich,
einen Kampf zwischen Neigung und Pflicht, zugleich aber eine hohe
You have read 1 text from German literature.
Next - Die Träger des deutschen Idealismus - 03
  • Parts
  • Die Träger des deutschen Idealismus - 01
    Total number of words is 4024
    Total number of unique words is 1404
    40.7 of words are in the 2000 most common words
    53.4 of words are in the 5000 most common words
    60.0 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Die Träger des deutschen Idealismus - 02
    Total number of words is 4036
    Total number of unique words is 1295
    41.9 of words are in the 2000 most common words
    55.3 of words are in the 5000 most common words
    61.0 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Die Träger des deutschen Idealismus - 03
    Total number of words is 4090
    Total number of unique words is 1405
    39.8 of words are in the 2000 most common words
    54.7 of words are in the 5000 most common words
    61.2 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Die Träger des deutschen Idealismus - 04
    Total number of words is 4043
    Total number of unique words is 1373
    40.4 of words are in the 2000 most common words
    53.5 of words are in the 5000 most common words
    60.0 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Die Träger des deutschen Idealismus - 05
    Total number of words is 4075
    Total number of unique words is 1458
    39.3 of words are in the 2000 most common words
    51.9 of words are in the 5000 most common words
    58.8 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Die Träger des deutschen Idealismus - 06
    Total number of words is 4049
    Total number of unique words is 1343
    39.3 of words are in the 2000 most common words
    53.2 of words are in the 5000 most common words
    60.1 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Die Träger des deutschen Idealismus - 07
    Total number of words is 4076
    Total number of unique words is 1363
    38.9 of words are in the 2000 most common words
    52.8 of words are in the 5000 most common words
    58.4 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Die Träger des deutschen Idealismus - 08
    Total number of words is 4047
    Total number of unique words is 1292
    43.0 of words are in the 2000 most common words
    55.4 of words are in the 5000 most common words
    61.8 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Die Träger des deutschen Idealismus - 09
    Total number of words is 4073
    Total number of unique words is 1404
    40.9 of words are in the 2000 most common words
    54.9 of words are in the 5000 most common words
    61.4 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Die Träger des deutschen Idealismus - 10
    Total number of words is 4050
    Total number of unique words is 1280
    41.1 of words are in the 2000 most common words
    53.9 of words are in the 5000 most common words
    60.0 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Die Träger des deutschen Idealismus - 11
    Total number of words is 4067
    Total number of unique words is 1338
    38.5 of words are in the 2000 most common words
    51.8 of words are in the 5000 most common words
    58.0 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Die Träger des deutschen Idealismus - 12
    Total number of words is 147
    Total number of unique words is 105
    66.5 of words are in the 2000 most common words
    76.8 of words are in the 5000 most common words
    81.6 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.