Die Träger des deutschen Idealismus - 08

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Lebens gefunden. Solches Zurückgehen auf die Tiefen der Seele bedeutet
ihm aber keine Flucht vor der Welt, kein Sichverschließen in eine
einsame Klause, sondern in der Seele selbst hat er eine Welt gefunden
und diese Welt mit aller Kraft zu beleben gesucht und verstanden. Ihn
durchdringt ein fester Glaube an ein Ganzes der Menschheit, das in
jeder Seele unmittelbar gegenwärtig ist und das Leben des einzelnen
trägt, aber nicht nur muß dieser das Bild der Menschheit in sich
erst zu voller Anschauung bringen, er hat auch innerhalb des Ganzen
eine besondere Art zu entwickeln, das Ganze in eigentümlicher und
unvergleichlicher Weise in sich selber darzustellen. Damit erhält
die Seele eine große Aufgabe und eine fortlaufende Bewegung im
eigenen Bereich, sie fällt um so weniger aus der großen Wirklichkeit
heraus, als die Menschheit und die ihr innewohnende Vernunft für
Schleiermacher die Tiefe der Welt zu bilden scheint. Zugleich entsteht
ein eigentümliches Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft. Aufs
entschiedenste wird hier abgelehnt, das Individuum als ein bloßes
Mittel für die Gemeinschaft zu behandeln und sein Tun einer allgemeinen
Formel zu unterwerfen, aber es wird auch nicht nach Art der Romantik
als ein völliger Selbstzweck erklärt und selbstbewußt von seiner
Umgebung abgehoben, es bleibt als eine eigentümliche Darstellung des
Ganzen von diesem umfaßt und auf es angewiesen, von ihm aus empfängt es
sein Maß. Diese Ausgleichung der Gegensätze ist für Schleiermacher auch
zu einer persönlichen Wahrheit geworden: er hat in allen Lebenslagen
den größten Wert auf die Gemeinschaft gelegt, sie zu heben und zu
stärken gestrebt, aber er hat sich zugleich die vollste Unabhängigkeit
innerhalb der Gemeinschaft gewahrt und ist mannigfachen Anfechtungen
gegenüber tapfer und treu den Weg seiner eigenen Überzeugung gegangen.
Überhaupt verband sich in seinem Leben in bewunderungswürdiger
Weise mit Zartheit und Innigkeit des Gefühls eine große Kraft und
Mannhaftigkeit des Handelns, die künstlerische Anmut seiner Darstellung
darf uns diesen festen Kern seines Wesens ja nicht übersehen lassen. Er
ist, als Ganzes genommen, wohl die anziehendste Persönlichkeit im Kreis
unserer großen Denker.
* * * * *
Seine Wirkungen auf das gemeinsame Leben gehen nach dreifacher
Richtung: er hat das Ganze des Seelenlebens befestigt und vertieft,
er hat der Religion zuerst eine volle Selbständigkeit auch in der
Wissenschaft erkämpft, er hat die Moral vor drohender Verengung zu
bewahren und mit dem Ganzen des Lebens eng zu verknüpfen gesucht.
* * * * *
[Randnotiz: Vertiefung des Seelenlebens]
Jene Vertiefung des Seelenlebens erfolgt in hartem Kampf mit der
alternden Aufklärung, Schleiermacher zeigt hier mit besonderer
Klarheit, nach welcher Richtung damals die Sehnsucht der Besten ging.
Es galt, dem Leben einen Sinn und Wert bei sich selbst zu erringen, es
von aller niedrigen Nützlichkeit und Zweckmäßigkeit zu befreien, in
welche die Zeitumgebung es hatte sinken lassen. Die Bewegung dagegen
findet ihren bedeutendsten und schönsten Ausdruck in Schleiermachers
»Monologen«. Sie beginnen mit einem Preise eines Lebens aus einem
vollen Beisichselbstsein der Seele. Hier allein im innersten Handeln
erfolgt eine Erhebung von der Notwendigkeit zur Freiheit, von dem
Wandel der Zeit zur Ewigkeit. »Auf mich selbst muß mein Auge gekehrt
sein, um jeden Moment nicht nur verstreichen zu lassen als einen
Teil der Zeit, sondern als Element der Ewigkeit ihn herauszugreifen
und in ein höheres freieres Leben zu verwandeln.« Das aber nicht in
Losreißung, sondern im Zusammenhang mit dem All; verstehen wir es
nur nicht als bloß körperliche Masse, sondern »was Welt zu nennen
ich würdige, ist nur die ewige Gemeinschaft der Geister, ihr Einfluß
aufeinander, ihr gegenseitiges Bilden, die hohe Harmonie der Freiheit«.
»Mir ist der Geist das erste und das einzige: denn was ich als Welt
erkenne, ist sein schönstes Werk, sein selbstgeschaffener Spiegel.«
Diesem unendlichen All der Geister hat sich das Endliche und Einzelne
einzufügen und Wirkungen von ihm zu empfangen. Aber im eignen Innern
bleibt es frei, die Freiheit ist in allem das Ursprüngliche, das Erste
und Innerste. Ihre Aufgabe ist es, »die Menschheit in mir zu bestimmen,
in irgendeiner endlichen Gestalt und festen Zügen sie darzustellen und
so selbstwerdend Welt zugleich zu bilden«. Indem sich so Endliches und
Unendliches in uns verbindet, wird die Selbstanschauung unmittelbar
auch zu einer Anschauung der Menschheit, und der Gedanke der Menschheit
wiederum führt zum unermeßlichen Gebiet des reinen Geistes. Im
Anschauen seiner selbst findet der Geist Unsterblichkeit und ewiges
Leben, daher heißt es: »Beginne schon jetzt dein ewiges Leben in steter
Selbstbetrachtung; sorge nicht um das, was kommen wird, weine nicht
um das, was vergeht, aber sorge, dich selbst nicht zu verlieren, und
weine, wenn du dahin treibst im Strome der Zeit, ohne den Himmel in
dir zu tragen.«
* * * * *
Um aber jenes Ziel zu erreichen, gilt es vor allem, das Bewußtsein
der Menschheit in sich selbst zu voller Klarheit zu wecken und es das
Handeln leiten zu lassen, damit sich das Leben mit voller Sicherheit
über das sinnlose tierische Dasein zur Höhe der Vernunft erhebe. Aber
so notwendig solche Erweckung eines Allgemeinen in uns ist, sie allein
gibt unserem Leben noch keinen rechten Sinn, dazu wird gefordert, daß
jeder Mensch auf eigene Art, in neuer eigener Mischung der Elemente
die Menschheit darstellt. Dies Ausbilden einer Besonderheit ist alles
eher als eine Absonderung von anderen Menschen. Denn »wer sich zu einem
bestimmten Menschen bilden will, dem muß der Sinn geöffnet sein für
alles, was er nicht ist«. »Die höchste Bedingung der eigenen Vollendung
im bestimmten Kreise ist allgemeiner Sinn.« Zur Ausbildung eines
solchen Sinnes bedarf es aber vor allem der Liebe. »Keine Bildung ohne
Liebe, und ohne eigene Bildung keine Vollendung in der Liebe: eins das
andere ergänzend, wächst beides unzertrennlich fort.«
* * * * *
[Randnotiz: Vertiefung des Gemeinschaftslebens]
Eine derartige Gesinnung drängt auch zur Gestaltung der Welt. Ihr
kann aber nicht eine bloße Verbesserung der Außenwelt genügen, auch
nicht eine bloße Veränderung der Organisation des Zusammenlebens,
sie muß eine innere Erhebung der geistigen Gemeinschaft zu echter
Bildung erstreben; dabei aber stellen sich sofort Gefahren ein,
denen es entgegenzuarbeiten gilt. Jene Gemeinschaft nämlich bedarf
zum Zusammenhalten bestimmter Mittel und Ordnungen, wie der Sprache
und der Sitte; diese aber bedrohen leicht das Eigenleben mit
einer Verkümmerung. Aber dem läßt sich widerstehen und nach einer
Ausgleichung streben, wenn nur das eigene Innere zu voller Kraft
belebt ist. »Harmonisch in einfacher schöner Sitte leben kann kein
anderer, als wer die toten Formeln hassend eigene Bildung sucht und so
der künftigen Welt gehört; ein wahrer Künstler der Sprache kann kein
anderer werden, als wer freien Blickes sich selbst betrachtet und des
inneren Wesens der Menschheit sich bemächtigt hat.«
* * * * *
So liegt schließlich die Lösung aller Aufgaben in uns selbst, in dem,
was wir aus uns machen; streben wir nur immer mehr zu werden, was wir
von Haus aus sind. Die Unabhängigkeit, die wir damit gewinnen, befreit
uns auch von den Schranken, welche das Geschick uns setzt. Denn in uns
waltet die Götterkraft der Phantasie, sie stellt den Geist ins Freie,
sie hebt ihn über jede Gewalt und jede Beschränkung hinaus, sie macht
uns fähig, die ganze Welt in Besitz zu nehmen, das Fremde in Nahes, das
Zukünftige in Gegenwart zu verwandeln.
* * * * *
Ein solches Leben von innen heraus, ein solches Bilden seiner
selbst wird durch den Gedanken an Alter und Tod nicht im mindesten
eingeschüchtert. An uns selbst liegt es, Mut und Kraft durch das ganze
Leben zu wahren. »Ein selbstgeschaffenes Übel ist das Verschwinden
des Mutes und der Kraft; ein leeres Vorurteil ist das Alter.« Aus dem
Bewußtsein der inneren Freiheit und ihres Handelns entspringt ewige
Jugend und Freude. Wer im Alter klagt, daß ihm die Jugend fehlt, dem
hat in der Jugend das Alter gefehlt.
»Das ist des Menschen Ruhm, zu wissen, daß unendlich sein Ziel ist, und
doch nie stillzustehen im Lauf, zu wissen, daß eine Stelle kommt auf
seinem Wege, die ihn verschlingt, und doch an sich und um sich nichts
zu ändern, wenn er sie sieht, und doch nicht zu verzögern den Schritt.
Darum ziemt es dem Menschen immer in der sorglosen Heiterkeit der
Jugend zu wandeln. Nie werd' ich mich alt dünken, bis ich fertig bin;
und nie werd' ich fertig sein, weil ich weiß und will, was ich soll.«
So verbleibt nichts, das die Festigkeit und die Freudigkeit des Lebens
erschüttern könnte, das aus ursprünglicher Innerlichkeit hervorgeht;
auf modernem Boden hat Schleiermacher so das Innenleben in sich selbst
zu begründen gesucht und damit unser Dasein bereichert.
[Randnotiz: Selbständigkeit der Religion]
Am stärksten hat er in das allgemeine Leben eingegriffen durch sein
Wirken auf dem Gebiete der Religion. Ist er es doch gewesen, der
dieser zuerst in der Denkarbeit eine volle Selbständigkeit erstritten
und sie zugleich in ihrer unterscheidenden Eigentümlichkeit vollauf
zu entwickeln unternommen hat. Daran fehlte es bisher. Bis in die
Neuzeit hinein war die Religion viel zu sehr an die kirchliche Form
gebunden, viel zu sehr geschichtliche Tatsächlichkeit, um sich um
ihren allgemeinen Begriff und seine Begründung viel zu kümmern, das
Denken war ganz von der besonderen Gestalt eingenommen. In der Neuzeit
wurde das anders, aber wo ein Bedürfnis nach wissenschaftlicher
Rechtfertigung der Religion entstand, da suchte man es zunächst von der
Weltanschauung her zu befriedigen; für weitere Kreise war es namentlich
die in der Welt bemerkte, aber aus ihren eigenen Zusammenhängen
anscheinend unerklärbare Zweckmäßigkeit, die den Schluß auf das Dasein
eines höheren Wesens als des Urhebers zu rechtfertigen schien. Als die
Unzulänglichkeit dieses Verfahrens zum Bewußtsein kam, stellte sich
ihm der Versuch entgegen, die Religion auf die Moral zu gründen, die
großartigste Ausführung dessen gibt uns Kant. Aber die Dürftigkeit
einer Religion, welche lediglich der Moral zu dienen hat, konnte ihm
selbst und seinen Zeitgenossen nur entgehen, weil die Persönlichkeit
unter dem Einfluß der religiösen Überlieferung aus den Begriffen weit
mehr machte, als wissenschaftlich dargetan war; eine Selbständigkeit
der Religion und zugleich die Entwicklung eines eigentümlichen Lebens
ward damit nicht erreicht. Dies Verdienst blieb Schleiermacher
vorbehalten, er hat hier nicht nur die Einsicht gefördert, sondern
das religiöse Leben selbst aufs wesentlichste vertieft. Seine
Überzeugungen haben sich naturgemäß im Verlauf seines Lebens vielfach
weitergebildet, zwischen seinen in vollster Jugendfrische gehaltenen
Reden über die Religion und dem Augenblick, wo er auf seinem Sterbebett
sich und den Seinigen das heilige Abendmahl reichte, liegt viel
Bewegung. Aber der Grundzug blieb in allen Weiterbildungen unverändert,
das Streben, im Innersten der Seele, im reinen Gefühl der Religion
eine sichere Stätte zu bereiten und hier einen zuverlässigen Maßstab
für alles zu finden, was die Überlieferung an uns bringt. Unsere
Schilderung folgt zunächst der ersten Auflage jener Reden, da sie
die eigentümliche Art des Mannes im ursprünglichsten Hervorbrechen
zeigt. Daß er über Religion zu den »Gebildeten unter ihren Verächtern«
spricht, grenzt sein Unternehmen schärfer ab, als der heutige
Sprachgebrauch annehmen läßt. Denn die Ausdrücke »Bildung« und
»gebildet« waren eben erst vom Körperlichen aufs Geistige übertragen
worden, und sie bezeichneten zunächst die Anhänger der sich wider die
Aufklärung erhebenden neuen künstlerischen Denkart, es waren also die
Modernen seiner eigenen Zeit, welche Schleiermacher für die Religion zu
gewinnen suchte; so stellt er ihre Verfechtung ganz auf den Boden der
neuen Zeit.
* * * * *
[Randnotiz: Das Wesen der Religion]
Zunächst gewinnt er seiner eigenen Überzeugung freien Raum durch
ein Abweisen unzulänglicher Fassungen. Es gilt eine Abgrenzung
der Religion sowohl gegen Metaphysik als gegen Moral, es gilt eine
Abweisung der landläufigen Art der Religion, welche aus ihr ein
bloßes Gemisch von Metaphysik und Moral machte, es gilt aber auch
eine Auseinandersetzung mit dem tiefergehenden Versuche Kants, die
Religion auf die Moral zu gründen. Schleiermacher meint, daß, so
gut die Moral eine Unabhängigkeit von der Religion verlangen dürfe,
ebensowohl man dieser eine solche zugestehen müsse; es sei eine
Verachtung der Religion, sie in ein anderes Gebiet zu verpflanzen
und da dienen zu lassen. Das Nein führt dann rasch zum Ja: »Die
Religion begehrt nicht das Universum seiner Natur nach zu bestimmen
und zu erklären wie die Metaphysik, sie begehrt nicht aus Kraft der
Freiheit und der göttlichen Willkür des Menschen es fortzubilden und
fertigzumachen wie die Moral. Ihr Wesen ist weder Denken noch Handeln,
sondern Anschauung und Gefühl. Anschauen will sie das Universum, in
seinen eigenen Darstellungen und Handlungen will sie es andächtig
belauschen, von seinen unmittelbaren Einflüssen will sie sich in
kindlicher Passivität ergreifen und erfüllen lassen. Sie will im
Menschen das Unendliche sehen, dessen Abdruck, dessen Darstellung.«
»Praxis ist Kunst, Spekulation ist Wissenschaft, Religion ist Sinn und
Geschmack fürs Unendliche.« Im Anschauen erfolgt nach Schleiermacher
ein Einfluß des Angeschauten auf den Anschauenden, ein ursprüngliches
und unabhängiges Handeln des ersteren wird vom letzteren seiner Natur
gemäß aufgenommen und zusammengefaßt. Was wir anschauen, ist nicht die
Natur der Dinge, sondern ihr Handeln auf uns; das Universum aber ist
in einer ununterbrochenen Tätigkeit und offenbart sich uns in allem,
was es hervorbringt, und es handelt damit auf uns; alles Einzelne nun
als einen Teil des Ganzen, alles Beschränkte als eine Darstellung des
Unendlichen hinzunehmen, das ist Religion. »Alle Begebenheiten in der
Welt als Handlungen eines Gottes vorstellen, das ist Religion.« Mit
der Anschauung aber ist untrennbar ein Gefühl verbunden. »Anschauung
ohne Gefühl ist nichts und kann weder den rechten Ursprung, noch die
rechte Kraft haben, Gefühl ohne Anschauung ist auch nichts: beide
sind nur dann und deswegen etwas, wenn und weil sie ursprünglich eins
und ungetrennt sind.« Wenn Schleiermacher es als einen gänzlichen
Mißverstand verwirft, daß die Religion handeln solle, so steht sie
darum nicht gleichgültig neben dem Handeln. »Bei ruhigem Handeln, das
aus seiner eigenen Quelle hervorgehen muß, die Seele voll Religion
haben, das ist das Ziel des Frommen.« »Die religiösen Gefühle sollen
wie eine heilige Musik alles Tun des Menschen begleiten, er soll alles
mit Religion tun, nichts aus Religion.« Für die nähere Gestaltung
bleibt dem Individuum freier Raum, denn das Universum läßt sich in
verschiedener Art anschauen, daher soll keiner seine besondere Art
dem anderen aufdrängen wollen. »Im Unendlichen steht alles Endliche
ungestört nebeneinander, alles ist eins und alles ist wahr.«
* * * * *
[Randnotiz: Anschauung und Gefühl]
Wie aber kommen wir zu solcher Anschauung des Universums und dem
ihr verbundenen Gefühl? Die äußere Natur kann weder mit ihrer Größe
noch ihrer Schönheit sie erzeugen, sie wirkt nur dann religiös,
wenn Religion schon vorhanden ist; den Stoff für diese finden wir
vielmehr in der Menschheit. »Um die Welt anzuschauen und um Religion
zu haben, muß der Mensch erst die Menschheit gefunden haben, und
er findet sie nur in Liebe und durch Liebe.« In der Menschheit und
ihrer unendlichen Mannigfaltigkeit ergreifen wir »die Harmonie
des Universums, die wunderbare und große Einheit in seinem ewigen
Kunstwerk«. Jedes Individuum ist seinem inneren Wesen nach ein
notwendiges Ergänzungsstück zur vollkommenen Anschauung der Menschheit.
Jeder ist zugleich ein Kompendium der Menschheit, jede Persönlichkeit
umfaßt in einem gewissen Sinne die ganze menschliche Natur. Noch über
die Menschheit dringt der Gedanke insofern hinaus, als die Menschheit
mit ihren Veränderungen und ihrem Werden nicht selbst das Universum
sein kann, vielmehr wird sie sich zu ihm verhalten, wie die einzelnen
Menschen sich zu ihr verhalten. Solche Ahnung von etwas außer und über
der Menschheit enthält jede Religion, aber dies ist auch der Punkt, wo
ihre Umrisse sich dem gemeinen Auge verlieren.
So wenig die Anschauung des Universums unmittelbar auf das Handeln
wirkt, sie erzeugt Gefühle, welche das Ganze des Lebens erhöhen.
So erzeugt sie Ehrfurcht und Demut, so auch Liebe und Zuneigung zu
den Brüdern, ohne deren Dasein wir einer Anschauung der Menschheit
entbehren müßten. Die Anschauung des Unendlichen stellt ferner das
Gleichgewicht und die Harmonie des menschlichen Wesens wieder her,
welche unwiederbringlich verlorengehen, wenn jemand sich, ohne zugleich
Religion zu haben, einer einzelnen Richtung der Tätigkeit überläßt.
* * * * *
Solche Überzeugungen ergeben eine eigentümliche Stellung zu den
Dogmen und Lehrsätzen der Religion, auch zu den Ideen Gott und
Unsterblichkeit; diese alle werden im universalsten Sinne gedeutet.
»Unsterblichkeit darf kein Wunsch sein, wenn sie nicht erst eine
Aufgabe gewesen ist, die ihr gelöst habt. Mitten in der Endlichkeit
eins werden mit dem Unendlichen und ewig sein in einem Augenblick, das
ist die Unsterblichkeit der Religion.«
* * * * *
[Randnotiz: Religiöse Gemeinschaft]
Eine Religion solcher Art ist nicht lehrbar, es gilt nur die Hemmungen
zu entfernen, welche der von ihr verlangten Anschauung des Universums
entgegenstehen. Eine solche Hemmung bildet namentlich eine bloß
verstandesmäßige Betrachtung der Dinge, welche nicht nach ihrem Was
und Wie, sondern nur nach ihrem Woher und Wozu fragt, eng verbunden
damit ist die Richtung auf den bloßen Nutzen; auch die Gefahr liegt
nahe, daß der Mensch unter den Druck mechanischer und unwürdiger
Arbeit gerate und damit die Ruhe und Muße verliere, in sich die Welt
zu betrachten. Eine Hilfe erwartet Schleiermacher namentlich von der
religiösen Gemeinschaft, denn zur Gemeinschaft drängt die Religion, wie
er sie faßt, mit Notwendigkeit. »Ist die Religion einmal, so muß sie
notwendig auch gesellig sein.«
Nur bedeute uns die Gemeinschaft keine Gleichförmigkeit in der
Religion. Es gibt verschiedene Arten, das Universum anzuschauen, ihrer
Entwicklung ist freier Platz zu lassen, auch die Religion selbst muß
sich individualisieren. Bei Erörterung der verschiedenen Gestaltungen
der Religion verwirft Schleiermacher mit großer Entschiedenheit die
Vernunftreligion, von welcher die Aufklärungszeit so viel erwartete,
ihm gilt sie als ein bloßer Schatten, als eine magere und dünne
Religion. Auch allgemeine Begriffe, wie Pantheismus oder Personalismus,
erzeugen aus eigenem Vermögen keine lebensvolle Gestalt, das
geschieht lediglich in geschichtlichen, positiven Religionen, welche
in bestimmter Art die unendliche Religion im Endlichen darstellen.
In ihnen allein erscheint alles wirklich und kräftig, nur hier hat
jede einzelne Anschauung ihren bestimmten Gehalt und ein eigenes
Verhältnis zu den übrigen, jedes Gefühl seinen eigenen Kreis und seine
besondere Beziehung. Ein solches »Individuum der Religion« kann nicht
anders entstehen als dadurch, daß irgendeine einzelne Anschauung
des Universums aus freier Willkür zum Zentralpunkt der Religion
gemacht und alles darin auf sie bezogen wird. Dazu bedarf es großer
Führer, aber auch eines weitverbreiteten Verlangens, das durch sie
eine Befriedigung findet. Von hier aus erhält Schleiermacher die
Aufgabe, bei den einzelnen Religionen zu zeigen, wie sich bei ihnen
die Anschauung des Unendlichen eigentümlich darstellt und ihnen damit
eine ausgeprägte Individualität verleiht. So zeigt er es beim Judentum,
so namentlich eingehend beim Christentum. Die unmittelbare Anschauung
des Christentums ist ihm »die des allgemeinen Entgegenstrebens alles
Endlichen gegen die Einheit des Ganzen, und die Art, wie die Gottheit
dieses Entgegenstreben behandelt, wie sie die Feindschaft gegen sich
vermittelt und der größer werdenden Entfernung Grenzen setzt durch
einzelne Punkte über das Ganze ausgestreut, welche zugleich Endliches
und Unendliches, zugleich Menschliches und Göttliches sind. Das
Verderben und die Erlösung, die Feindschaft und die Vermittlung, das
sind die beiden unzertrennlich miteinander verbundenen Seiten dieser
Anschauung, und durch sie wird die Gestalt alles religiösen Stoffs im
Christentum und seine ganze Form bestimmt.«
[Randnotiz: Das Christentum]
Durch die Fortdauer dieses Gegensatzes wird der durchgehende Charakter
aller seiner religiösen Gefühle heilige Wehmut; diese Empfindung
erfüllte auch den Stifter des Christentums, von dem Schleiermacher mit
tiefster Empfindung und aufrichtiger Ehrfurcht ein ergreifendes Bild
entwirft. Was in ihm an Grundanschauung hervorbrach, wie überhaupt die
Grundanschauung jeder positiven Religion, ist an sich ewig, aber sie
selbst und ihre ganze Bildung ist vergänglich. Veränderungen sind nicht
nur möglich und statthaft, sondern bei dem Fortschritt der Menschheit
unerläßlich: »Das große Werk der geistigen Schöpfung dauert noch fort«;
eine solche Weiterbildung fordert Schleiermacher auch für die eigene
Zeit, »welche so offenbar die Grenze ist zwischen zwei verschiedenen
Ordnungen der Dinge«. Wiederholt weist er darauf hin, daß die große
Umwälzung der Reformation das Dogma völlig unverändert gelassen hat.
* * * * *
Die hier der Religion gegebene Gestalt wird in den späteren Schriften
weiterentwickelt, in der Grundrichtung aber festgehalten. Der Begriff
der Anschauung tritt zurück vor dem des Gefühls, das Gefühl aber
wird dahin vertieft, daß es nicht ein besonderes Seelenvermögen
neben anderen bedeutet, sondern vielmehr die tiefste Wurzel alles
Seelenlebens, das »unmittelbare Selbstbewußtsein«, die »ursprüngliche
Einheit oder Indifferenz des Denkens und Wollens« bildet; nur im
Gefühl scheint der Mensch der Welt unmittelbar verbunden zu sein und
ihre Wirkungen ungetrübt aufzunehmen; die Religion aber entspringt aus
dem Gefühl der unbedingten Abhängigkeit. Wie die Religion in dieser
Fassung eine volle Selbständigkeit auch gegen die Philosophie besitzt,
so entwickelt sie auch ihren eigenen Gedankenkreis, sie bringt nicht
Behauptungen von der Welt, sondern Beschreibungen der frommen Gefühle,
sie kann daher mit der Philosophie in keiner Weise zusammenstoßen.
Auch in den späteren Werken, die einen engeren Zusammenhang mit
dem geschichtlichen Christentum suchen, bleibt es dabei, daß die
Religion ihre Größen nicht von draußen entlehnt, sondern sie bei sich
selbst erzeugt. Wenn in der christlichen Glaubenslehre, dem größten
systematischen Werke Schleiermachers, das Wesen der Frömmigkeit darin
gesetzt wird, »daß wir uns unserer selbst als schlechthin abhängig
oder, was dasselbe sagen will, als in Beziehung mit Gott bewußt sind,«
so wird hinzugefügt, »wenn schlechthinige Abhängigkeit und Beziehung
mit Gott in unserem Satze gleichgestellt wird, so ist dies so zu
verstehen, daß eben das in diesem Selbstbewußtsein mitgesetzte Woher
unseres empfänglichen und selbsttätigen Daseins durch den Ausdruck Gott
bezeichnet werden soll, und dieses für uns die wahrhaft ursprüngliche
Bedeutung desselben ist.« So ist dies Abhängigkeitsgefühl in keiner
Weise durch ein vorhergehendes Wissen von Gott bedingt.
* * * * *
Solche Fassung der Religion macht es möglich, wie schon die Reden
deutlich zeigten, mit der Ergreifung der Wirklichkeit unter der
Form der Ewigkeit, auf welcher die Religion bestehen muß, eine
geschichtliche Betrachtungsweise zu verbinden, der Verschiedenheit der
Zeiten ihr volles Recht zu gewähren, ohne einem haltlosen Relativismus
zu verfallen. Es leuchtet ein, wie mächtig das für eine Verständigung
der Religion mit der Wissenschaft und dem Ganzen des Kulturlebens ist.
Auf eine solche Verständigung beider Gebiete hat Schleiermacher stets
mit größtem Eifer gedrungen, er hat in dieser Richtung stark auf das
deutsche Leben und darüber hinaus gewirkt.
* * * * *
[Randnotiz: Die Religion im Ganzen des Kulturlebens]
Gewiß steht diese Fassung der Religion manchem Zweifel offen, im
besonderen mag sich die Frage erheben, die so oft in der geistigen
Arbeit auftaucht, ob die Persönlichkeit nicht größer war als das Werk,
ob Schleiermachers innerliche und reiche, dazu in geschichtlichen
Zusammenhängen wurzelnde Persönlichkeit in die Lehren und Begriffe
nicht mehr hineingelegt hat, als sie an sich selbst enthielten. Aber
unberührt von solchen Fragen und Zweifeln bleibt sowohl die Tatsache,
daß er zuerst der Religion in der Wissenschaft und im allgemeinen
Geistesleben einen selbständigen Platz erstritten hat, und das von
innen heraus, vom eigenen Leben des Menschen her, als die andere,
daß die Wiederbelebung der Religion bei uns ihm außerordentlich
viel verdankt: er nimmt hier eine führende Stellung ein. Das uns
Deutschen eigene Verlangen, bei den letzten Fragen des Menschenlebens
Tiefe und Freiheit miteinander festzuhalten, hat er wie kein anderer
erfüllt. Auch sei in seinem Bilde stets gegenwärtig gehalten, daß
das Abhängigkeitsgefühl, das seine Religion beherrschte, durchaus
keine Gedrücktheit des Gemütes noch auch eine matte Ergebung in alle
Schlechtigkeit des Weltlaufs erzeugte, vielmehr zog Schleiermacher
aus jenem Gefühl den freudigsten Mut zum Handeln und eine unbeugsame
Kraft, sich allen Widerständen gegenüber zu behaupten. Wie bei so
vielen religiösen Naturen war auch bei ihm das Bewußtsein eines
Getragenwerdens von weltüberlegener Macht eine Quelle starken und
zuversichtlichen Wirkens in der Welt und einer Standhaftigkeit in allen
Lebenslagen.
* * * * *
[Randnotiz: Pflichten, Güter und Tugenden]
Eine Vermengung von Religion und Moral hat Schleiermacher stets
bekämpft, aber die Gesinnung, welche seine Religion durchdringt,
hat ihn auch die Moral aufs erheblichste fördern lassen, auch hier
regte die Lage der Zeit zu bedeutendem Wirken an. Aus der moralischen
Verweichlichung hatte Kant die Zeit aufs gründlichste aufgerüttelt,
aber nun entstand die Gefahr, daß die Moral das Recht anderer
Lebensaufgaben verkümmere und auch bei sich selbst in eine zu enge Bahn
gerate; dieser Gefahr hat Schleiermacher durch Lehre und Tat energisch
entgegengewirkt. Gewiß läßt sich bestreiten, ob er in seinen Begriffen
die eigentümliche Art der Moral mit genügender Schärfe gefaßt und ihre
Aufgabe deutlich genug abgegrenzt hat, aber auch wer hier von ihm
abweicht, muß ihm große Verdienste auch auf diesem Gebiete zuerkennen:
er hat die Moral sowohl den Prinzipien nach in universalster Weise
gefaßt als auch sie in die einzelnen Lebensgebiete ebenso kräftig wie
geschickt hineingearbeitet, er hat auch das Alltägliche in ihrem Lichte
sehen gelehrt. Universal ist seine Behandlung der Moral, indem er
diese von der Einseitigkeit des Pflichtgedankens befreit und auch den
Gütern und Tugenden ihr volles Recht gewährt -- er hat überhaupt diese
Einteilung erst aufgebracht --; sie ist universal, indem er das ganze
Leben in die ethische Betrachtung hineinzieht und das Sittliche nicht
als ein besonderes Gebiet, sondern als ein Naturwerden der Vernunft
versteht; sie ist endlich universal, indem sie sich zur besonderen
Aufgabe macht, Vernunft und Individualität, Ganzes und Einzelnes zu
vollem Ausgleich zu bringen. Darin vornehmlich findet Schleiermacher
das Eigentümliche seines Strebens gegenüber der Einseitigkeit Früherer,
welche entweder das Ganze dem Einzelnen oder den Einzelnen dem Ganzen
aufgeopfert haben, dort zu epikureischem Genuß, hier mit rauhem
Pflichtgebot. Immer verficht er das gute Recht der Individualität, aber
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