Meister Autor; oder, die Geschichten vom versunkenen Garten - 10

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Anfangs an zierlichen Gartengittern vorüber, dann durch taufrische, von
lebendigen Hecken eingefaßte Pfade und zuletzt im stillen, freien Felde. Es
verlockt nichts in gleicher Weise so weiter und weiter als solch ein
Feldweg durch das reife Korn und die Garben, dem Sonnenaufgang entgegen.
Nur ein erbärmlich kahlgezaustes Bauerngehölz warf einmal einigen Schatten
auf mich, doch das war bald durchschritten und das dicht dran gedrückte
noch im Schlafe liegende Dorf gleichfalls. Das nächste Dorf fand ich
bereits wach, und vor dem Kruge eine Bank und einen Tisch, an welchem
letztern ich mit dem zufrieden war, was die Wirtschaft zu bieten hatte. Da
sah ich die Sicheln und Erntewagen an mir vorüberziehen und hielt die Hand
in den ersten Sonnenstrahl des neuen Tages. Wer im Grunde nur für sich
selber zu sorgen hat, kann im Auskosten des Leidens und der Freude der Welt
um ihn her, sich Genüsse verschaffen, in welchen der sublimierteste
Egoismus, dessen der Mensch fähig ist, sich gipfelt. Das höchste, innigste,
innerste, schärfste Leben lebt man in diesen Momenten; -- wer es leugnet,
möge es mit einem Gesichte tun, wie ein Frauenzimmer, das nach einem in der
Familie eingetretenen Todesfall den Traueranzug vor dem Spiegel anprobiert.
--
Durch einen sehr heißen, wolkenlosen Morgen schlich ich müde und abgespannt
zur Stadt zurück, schlief totenähnlich bis zum Mittag auf dem Sofa und
fragte am Nachmittage bei den Leuten im Cyriacihofe an, ob ich mich ihnen
in irgendeiner Art nützlich erzeigen könne. Herr Autor sowohl wie die Frau
Schaake erkannten die Höflichkeit über Verdienst an, aber sie verwunderten
sich selber darüber, wie glatt in solchen Fällen das alles abgehe.
Geistliche wie weltliche Behörden machten den Trauernden die Tage so leicht
als möglich. Es waren Namen, Daten und Zahlen in gedruckte Schemata
einzutragen gewesen, und der Sarg im Hause ohne jegliche Weitläufigkeit.
Der gute Steuermann, der sich so lange ungestraft auf allen Meeren
herumgetrieben hatte, lag bereits tief, tief im Binnenlande in diesem
Sarge, und --
»Morgen um zehn Uhr wollen wir ihn hinausbringen,« sagte der Meister Autor.
Den Hafenmeister sah ich nicht. Er hatte alle Hände voll zu tun, berichtete
mir der Meister; denn so ziemlich der ganze Hof gehe mit, und jedermann
verlange sein Stück Kuchen.
Gertrud Tofote hatte bis jetzt nur viele schöne Blumen und Kränze mit
weißen Atlasschleifen geschickt und hatte dabei sagen lassen: sie sei sehr
betrübt und sehr unwohl und bitte den Onkel Kunemund nur auf ein einziges
Viertelstündchen zu ihr zu kommen.
»Vielleicht so gegen Abend werde ich es möglich machen,« sagte mir der
Meister: »jetzo sitze ich hier Wache und -- Herr, ich sage Ihnen, ich habe
trotz alledem in meinem Leben Stunden gehabt, wo ich das ganze deutsche
Volk zum Tanze hätte aufziehen mögen!«
Er saß mit seiner Pfeife in der kühlen steinernen Halle vor der Tür der
Base Schaake; die Tür stand halb offen, und ich sah darin grade auf den
sonderbaren Schimmer der Stearinkerzen im hellsten Tageslichte. Der Meister
Autor hatte eben wieder seine Pfeife anzuzünden und sagte:
»Ja, ja, sehen Sie diese Zündholzdose. Ich habe sie vom Arend geerbt. Er
hat sie auf manchem Anstande gebraucht. So um das Jahr Vierzig, wenn's mir
recht ist, fiel die Menschheit auf derartiges Feuerzeug. Vorher hatte man
sich arg mit Stahl und Stein zu quälen, doch das beizu; -- Herr, die
Lichter da, auf welche Sie eben sahen, hab' ich angezündet und, Herr, ich
habe dabei an den letzten Weihnachtsbaum denken müssen -- den letzten im
Walde, den die Alte, der Arend und ich unserm armen Trudchen aufputzten. O
lieber Herr, wie viele Gärten versinken dem armen Menschen in der Welt.«
...
Das war das Wort! -- Es fallen Schlösser -- Luftschlösser ein; aber das hat
nichts zu bedeuten: die Gärten allein, die den Menschen, den armen Menschen
versinken, die waren ein jeglicher eine Wirklichkeit von dem verlorenen
Paradiese an! Wenn ihr das leugnen wollt, so leugnet es aus der Mitte
eines, in dessen Besitze ihr euch noch befindet, aber nimmer vor der Pforte
eines solchen, der euch verloren ging; -- im erstern Falle ist wenigstens
die Aussicht vorhanden, daß es euch gelingen werde, euch selber zu belügen.
--
Der folgende Tag war einer der heißesten im ganzen Jahre. Die Sonne schien
die Erde wie mit einer glühenden Zange zu halten, die Hitze und der Staub
waren unerträglich; ein Schein, sozusagen animalischer Verdrossenheit legte
sich über alle Vegetation; und unsere Aufgabe ließ sich unter keinen
Umständen auf eine kühlere Stunde verschieben.
Wir führten den Steuermann Schaake hinaus vor die Stadt und begruben ihn.
So ziemlich der ganze Hof fand sich ein zu dem oben bemeldeten Kuchen und
einem Glase nicht teuern Moselweins.
Ein gut Teil der Freunde und Bekannten ging auch mit hinaus auf den
Kirchhof und, nachdem das feierliche: Von Erde bist du genommen usw. --
gesprochen worden war, soviel als möglich im Schatten sich haltend, wieder
nach Hause. Der Meister Autor und ich blieben noch ein Weilchen, der --
Erde und der Sonne zum Trotz.
»Es ist doch kurios,« sagte Herr Kunemund, nachdem wir einige Minuten stumm
neben der halbzugeschütteten Grube gestanden hatten, »sonderbar ist's
eigentlich, daß man grade bei solchen Gelegenheiten am deutlichsten spürt,
daß man vorhanden -- daß man da ist.«
»Freilich,« sagte ich, »aber Meister, dazu gehört eben doch auch, daß man
wenigstens ein einziges Mal schon vorher wirklich und im Vollen gefühlt
hat, daß man da ist, und das ist keineswegs so häufig der Fall.«
»Darüber hab' ich noch nicht nachgedacht,« sprach der Meister Autor; und
dann tauschten wir einige andere Gedanken und Bemerkungen aus, die zwar
weder groß noch tiefsinnig waren, dessenungeachtet aber doch gedacht und
gemacht werden mußten.
»Am meisten kümmert mich der Hafenmeister,« seufzte der Alte. »Was dieser
hier mich angeht, so bin ich zufrieden, weiß mich zu schicken und zu
fassen; ich setze mich da nur ein wenig fester auf meiner Schnitzbank. Aber
was denken Sie über die Base Schaake?.. Der Junge war ihr Liebling und ihr
ganzes Leben; und wenn er auch oft lange Jahre von ihr weg war, und sie es
also schon gewohnt sein sollte, so wird sie sich in diese Ruhe doch niemals
finden. Sie kann's nicht, sie wird's nie können. Ob sie ihr eigenes Leben
einmal, wie Sie sagen, ein einziges Mal im Vollen gefühlt hat, weiß ich
nicht, aber daß sie in dem Jungen ihr Dasein spürte, das will ich wohl
beschwören. Ich kenne sie danach! Wenn er abwesend war, so war es ihr
einziger Trost, daß sie saß und las. Ich sage Ihnen, sie las -- und was las
sie? Den Robinson und die Geschichte von dem fliegenden Holländer und vor
allem andern die Geschichten von dem türkischen Kaufmann, der zu den Leuten
kam, die das Gesicht mitten auf dem Bauche trugen, und der einen Walfisch
für eine Insel hielt und mit seinen Kameraden ein Feuer drauf machte, um
seine Suppe zu kochen. Was sie sonst von Reisen und Abenteuern auftreiben
konnte, las sie und glaubte alles. Ihren Augen sahen Sie es nicht an, wie
bunt es oft in ihrem Kopf herging. Sie reiste mit, die alte Frau, und
erlebte auf ihrem Spinnstuhle die menschenmöglichsten Dinge. Ich habe
oftmals mein Erstaunen und meine Verwunderung darüber gehabt, was für ein
beschlagener Reisender sie war. O sie wußte dem Jungen, jedesmal wenn er
heimkam, von ihrem Stuhle her mehr Merkwürdigkeiten zu berichten, als er
ihr von seinem Schiffe aus. Er hat es mir selber oft genug halber weinend
und halber lachend erzählt. Und das ist nun vorbei, Herr; das ist vorbei,
und das ist das Schlimme und Angstvolle, lieber Herr! Was soll die alte
Frau anfangen; jetzo, da sie ihrem Jungen nicht mehr nachreisen kann?
Versunkener Garten, Herr! Sie, Herr Bergmeister, haben eben auch mit uns
andern drei Schaufeln voll Erde drauf geworfen!«
»Zum Teufel, ja!« schrie ich im Innern meiner Seele und zwar mit dem
nämlichen objektiven Grimm, mit welchem der Meister Autor vorgestern abend
den Signor Ceretto, den bremischen Mohren, anschnauzte. Laut sage ich,
indem ich dem Greise zu gleicher Zeit leise und gerührt die Hand auf die
Schulter legte:
»Ob wohl die Base ihrem braven wilden Seefahrer nicht doch schon wieder
nachreist?! Es wird ihr auch da an Reiseführern nicht ermangeln.«
Der abendländische Lebensbaum, =Thuja occidentalis=, die Stinkzypresse
wucherte in großer Menge auf dem Friedhofe und war das einzige Gewächs, das
sich in dieser Hitze wohlzufühlen schien. Der Meister hielt einen
abgebrochenen Zweig davon in der Hand, lächelte und sagte:
»An das Einfachste denkt man immer zuletzt.«
Nun wäre eigentlich nichts weiter zu sagen gewesen, aber ein guter Rat,
oder das, was man gewöhnlich für einen solchen nimmt, geriet mir auf die
Zunge, und ich enthielt ihn dem alten Freunde nicht.
»Herr Kunemund, alle Umstände ineinander rechnend, könnten Sie jetzt wohl
noch einmal den Versuch machen, es hier bei uns in der Stadt auszuhalten.
Die erwünschte Stille würdet Ihr auf dem Cyriacushof im vollen Maße finden
-- Ihr und der Hafenmeister gehört im Grunde ganz und gar zueinander, und
es würde gewiß kein Tag vorübergehen, an welchem Ihr das nicht von neuem
ausspürtet. Überlegt es Euch!«
»Das habe ich wohl schon dann und wann überlegt,« erwiderte der Meister.
»Auf den ersten Blick sieht es sich freilich ganz hübsch an, aber bei
genauerer Besichtigung tut es sich denn doch nicht. Wie lange steht denn
der Hof noch aufrecht, Herr? Sie wissen es ebenso gut als ich, daß die
Maurer mit den Brecheisen und die Zimmerleute mit den Äxten im Anmarsch auf
ihn sind. Das alte Gemäuer mag freilich lange genug gestanden haben, aber
der Base Schaake wegen hätte es doch noch gut ein paar Jährchen länger
stehen bleiben können. Herr, je älter man wird, desto brüchiger scheint
auch die Welt um einen her zu werden. Wie sich dieses demnächst machen
wird, kann ich heute noch nicht sagen: die eine Alte hab' ich ja schon
daheim im Hause; wer weiß, ob ich mir nicht auch die andere dazu holen
werde. Lieber Herr, Sie sind jedenfalls jetzt schon eingeladen, sich unsern
Haushalt dann mal anzusehen.«
An den demnächstigen Abbruch des Cyriacihofes hatte ich nicht gedacht und
wußte auf die Erinnerung daran nichts zu entgegnen. Der Meister Autor
seufzte noch einmal recht tief; dann warf er den Thujazweig, den er bis
jetzt mechanisch zwischen den Fingern gedreht hatte, in das Grab des
Seefahrers, nahm meinen Arm, und wir verließen den Kirchhof. --
An der Pforte fanden wir keinen uns erwartenden Wagen mit einem ob unseres
Zögerns verdrossenen Kutscher. An heißen, mit Teer getünchten Planken,
Holzhöfen, Gartenmauern und vereinzelten unschönen Häusern vorüber führte
uns unser Weg durch den heißen, vom Abfall der Fabrik- und Kohlenwerke
geschwärzten fußhohen Staub nach der Stadt zurück. Auf diesem Weg sprachen
wir nichts mehr miteinander, bis uns an einer Wendung, die er machte, ein
anderer Leichenzug entgegenkam, und wir beiseite traten, um ihn vorbei zu
lassen.
Da sagte der Meister, den Kopf schüttelnd:
»Das ist doch wunderlich!«
»Was ist wunderlich, alter Freund?«
»Daß andere Leute immer bei dem nämlichen Geschäfte, in derselben Lage, in
ganz demselben Pläsier und Jammer sind. Auf dem Dorfe wird es einem nur
nicht so deutlich! I, sehen Sie doch nur -- eben sind wir fertig --«
»Und fangen die andern an. Richtig. Ausgefahrene Geleise, Meister Autor!
Das einzige Neue liegt nur grade bei den Leuten, die aus ihrem Dorfe
kommen, um sich darüber zu verwundern, und nicht bloß hierüber!«
»Hm, hm, da kein Ende dran ist, wird es freilich auch wohl keinen Anfang
haben,« brummte Herr Autor Kunemund. »Hat das auch schon einer
herausgefunden und schriftlich attestiert?«
Nun mußte ich trotz der unpassenden Zeit und Gelegenheit doch lachen.
»Ach Meister, Meister,« sagte ich meinerseits den Kopf schüttelnd, »dieses
hat wohl schon manch einer ausfindig gemacht; aber über das, was es
bedeutet, darüber ist man noch nicht einig und im klaren.«
»Dann hilft mir auch das übrige nichts, und meinesteils lasse ich es
einfach geschehen,« sprach Autor Kunemund, und so schritten wir weiter zum
Hofe des heiligen Cyriacus, der vielleicht gleichfalls aus keinem andern
Grunde ein Heiliger geworden war, als weil er hatte geschehen lassen, was
er nicht ändern konnte.
Wie unser uns vorangelaufenes Sarggefolge hielten wir uns auf der
Schattenseite; man kann eben von der größten Tragödie nach Hause gehen und
doch den behaglicheren Modus der Heimkehr dem unbequemeren vorziehen.
Der uralte Schatten des Torweges fiel jetzt fast kalt auf uns, und auf der
engen Steintreppe und im steingewölbten Vorsaale durchschauerte es mich
fröstelnd. Ich ging aber doch noch einmal hinein mit dem Meister, die
Greisin zu begrüßen, und habe mich späterhin selber darob beglückwünscht,
wenn ich daran dachte, daß ich eigentlich den alten Freund nur bis an das
Tor hatte geleiten wollen.
Trudchen Tofote saß bei der Base Schaake!
Das sah ich angenehm überrascht von der Stubentür aus, drückte auf ihrer
Schwelle dem Meister die Hand und begab mich nunmehr, wie durch einen
kühlen Trunk erfrischt, durch die entsetzliche zwölfte Stunde des Tages
nach meiner eigenen Wohnung zurück und um zwei Uhr nach dem =Hotel de
l'Allemagne= zur Wirtstafel.


Vierundzwanzigstes Kapitel.

Der wäre freilich aller Praktiken Meister, den der Augenblick nicht
überrumpeln, den der Schein nicht rühren oder ärgern könnte! Wie wenig
Schlaf würde er bedürfen, wie wach und lebendig würde er jederzeit um sich
her schauen: was mich anbetraf, so tat ich nimmer einen so tierisch-tiefen
Nachmittagsschlaf als an diesem Nachmittage. Mir war es wahrlich nach den
Erlebnissen des Tages, die Temperatur eingerechnet, nicht möglich wach zu
bleiben, und ich schlief -- schlief totenähnlich, totengleich; es kümmerte
mich gar nicht, ob die andern das laute, lärmende Spiel weiter trieben, ob
es sich fortdrängte an den Straßenecken und auf den Heerstraßen. Einen
älteren Herrn als mich würde wahrscheinlich der Schlag gerührt haben; im
Falle er mich gerührt hätte, würde ich nicht das geringste davon gemerkt
haben. Signor Ceretto Wichselmeyer würde mich steif und still auf dem Diwan
gefunden und das Weitere veranlaßt haben; es war nämlich natürlich der Mohr
aus dem Schüsselkorbe zu Bremen, der mich durch wiederholtes Gepoch an
meiner Tür nach fünf Uhr erweckte.
Meine Seele stieg auf aus der Tiefe des Vergessens, wie der Körper eines
Ertrunkenen aus der Tiefe des Wassers -- langsam und geschwollen.
»Ich bitte nach Menschenmöglichkeit um Entschuldigung,« sagte der Schwarze,
»aber es ging um mein Leben, wenn ich nach Hause kam, ohne Sie gesehen und
gesprochen zu haben.«
»Um Ihr Leben, Ceretto?«
»Oder um meine Augen, was mir doch auch verdrießlich gewesen sein würde.«
»Und wer --«
»Pst!« sagte der Neger, mit dem Finger auf den Lippen, und blickte grinsend
über die Schulter nach der Tür zurück, als ob er erwarte, daß sofort jemand
hervorstürzen würde, um die fernere Ausführung seiner Sendung zu
übernehmen. Dann trat er auf den Zehen so nahe als möglich an mich heran
und stöhnte kläglich:
»Oh!«
»Etwas deutlicher und etwas weniger geheimnisvoll, wenn ich bitten darf,
Ceretto!« rief ich kläglich und geärgert. »Ihr wißt, daß ich zu allen
Zeiten mit Vergnügen höre, was Ihr mir zu sagen habt -- selbst wenn es der
Auftrag eines andern ist -- aber augenblicklich -- bin ich -- ein wenig
sehr beschäftigt -- in Anspruch genommen -- kurz -- ich bitte Sie, Ceretto,
fassen Sie sich so kurz als möglich.«
»Mit dieser Absicht kam ich, Herr. Also ganz kurz -- unsere Freundschaft
ist zu Ende.«
»Unsere Freundschaft?«
»Ist aus und zu Ende! Sie haben sich bei den Ohren gehabt und einander die
Gesichter zerkratzt wie zwei Konkurrentinnen, die einander grad gegenüber
jede einen wilden Mann sehen lassen. Ich habe das als einer der wilden
Indianer einmal selber erlebt, doch damals behielt mich meine Prinzipalin
und ich meinen Dienst. Diesmal und unter andern Umständen ist mir auf
Michaelis gekündigt worden, und wenn Sie, verehrter Herr, mich dann
gebrauchen können, stelle ich mich schon heute zur Verfügung. Sonst ist
alles in der schönsten Ordnung, und selbst der Herr Autor Kunemund wäre
nicht imstande, eine größere Ordnung hineinzubringen.«
»Aber meine fünf gesunden Sinne nebst allem übrigen bringt Ihr in die
größte Unordnung, Ihr schwarzes Untier!« rief ich. »Wer hat sich in den
Haaren gelegen und gegenseitig die Gesichter zerkratzt?«
»Mein hübsche Herrin, das junge Kind, das seit heute morgen bei der Alten
im Cyriacushofe sitzt, und meine schöne Herrin, die seit gestern nacht
durch alle Zimmer rennt, ihrer Kammerjungfer mit dem Polizeikommissar
gedroht hat und fortwährend Tische und Stühle über den Haufen stößt. Wer
denn anders?«
Meine Phantasie war plötzlich in einem merkwürdig hohen Grade tätig. Ich
sah und hörte die Frau Christine -- sie mußte entzückend in ihrer Aufregung
sein. Vorgebeugt, mit verhaltenem Atem und wahrscheinlich ziemlich albern
fixiertem Blicke stierte ich auf den Mohren, als müsse ich eine neue Welt
aus seiner schwarzen Seele hervorstieren; und der Schlingel grinste --
grinste und blieb stumm, bis ich ihn an der Schulter packte und wenigstens
das Übrige, was er mir zu sagen hatte, aus ihm herausschüttelte.
»Es ging sofort los, nachdem wir vorgestern nacht nach Hause gekommen
waren. Mein Liebchen hin, meine Liebe her! Meine Gute her, meine Beste hin!
Liebe Christine -- liebe Gertrude! Fräulein Tofote -- gnädige Frau!...
Damit waren wir dann in den richtigen Ton gefallen, und die
Auseinandersetzung konnte einen ruhigen Verlauf nehmen und nahm ihn auch. O
Herr, Sie -- und gerade nach dem traurigen Ereignis da im Hofe -- hätten
hinter dem Vorhange stehen und sie auf dem Diwan nebeneinander sitzen sehen
sollen! Ich habe vor manchem Vorhange die Pauke geschlagen; aber hier hielt
ich mich so still als möglich hinter ihm und horchte wie ein Mäuschen, bis
die gnädige Frau das gnädige Fräulein auch wieder >mein Mäuschen< nannte,
und man sich für diesmal gute Nacht sagte, gerade an derselbigen Stelle, wo
sich Katze und Hund gleichfalls gute Nacht zu sagen pflegen. Können Sie es
sich wohl vorstellen, daß sie sich wirklich beiderseits dabei auf die
Stirnen küßten? Mir hinter der Tür traten die Tränen in die Augen.«
Ich setzte mich, unfähig etwas zu bemerken, auf meinen Diwan; doch der
Freigelassene des alten Satans Mynheer van Kunemund hatte noch länger sein
Vergnügen an meiner Furcht vor ihm.
»Ja, ja,« sagte er mit melancholisch-philosophischem Akzent, »es ist
lieblich, wie sich das alles vor den Augen der Welt zurechtlegt; -- es ist
so schön, die Greisin im Cyriacushofe zu trösten, und es ist so sehr
erquickend, seinen Willen zu bekommen und doch noch von jedermann darum
gelobt zu werden; von dem jungen Herrn von Wittum vor allen andern.« --
Waren das wirklich die Gründe, denen der Meister Autor und ich es zu danken
hatten, daß wir die Gertrud Tofote die alte verlassene Frau im Cyriacushofe
tröstend und durch ihre Gegenwart im Schmerze aufrichtend fanden? Matt und
unfähig darüber nachzudenken, fragte ich:
»Und was nun? was nun weiter, lieber Mann?«
»Natürlich wünscht man Sie zu sehen und das Weitere mit Ihnen zu
überlegen.«
»Wer wünscht das, Herr Wichselmeyer?«
Der Mohr sah mich unbeschreiblich verachtungsvoll an und ließ eine
verhältnismäßig lange, aber glücklicherweise wenig kostbare Zeit
vorüberstreichen, ehe er mich einer Antwort würdigte.
»Das Kind doch nicht?!« rief er endlich. »Sie würden der letzte sein, an
den das gnädige Fräulein sich um Rat und Trost wenden würde; aber die
gnädige Frau bittet um einen Besuch, wünscht sich Ihnen an das Herz zu
legen und Ihre Wut an Ihnen auszulassen.«
»An mir?! Gütiger Himmel, weshalb denn gerade an mir?«
»An den Tod kann man sich nicht halten; der Herr Autor Kunemund lassen auch
nicht mit sich scherzen, und einen muß man doch haben, dem man sagen darf,
was man über die ganze Geschichte denkt! Sie sind der Mann, lieber Herr;
Sie allein; denn Sie sind zugleich ein Mann von Welt, und wer in dieser
lästerlichen, hinterlistigen, heimtückischen Welt keine Sehnsucht empfindet
nach der einzigen Kreatur, von der man gewiß weiß, daß sie uns versteht und
uns nachfühlt, der ist eben in eine andere Schule gegangen und hat darin
das Seinige gelernt, ungefähr wie ein gewisser Nigger, der sich aus
Bescheidenheit weiter nicht nennen will, dessen Dienstbuch aber jederzeit
auf der Polizei eingesehen werden kann.«
Ich hielt mir die Stirn mit beiden Händen. Dieses an diesem glühenden
Tage?!...
»Meine Empfehlung an Ihre Herrin, Ceretto, ich werde ihr meine Aufwartung
machen.«
»Das werde ich bestellen, obgleich es, sozusagen, überflüssig ist; -- man
kannte die Antwort schon ohne das.«
Nun hätte ich den Schwarzen doch noch aus der Tür werfen müssen; er schien
es aber auch einzusehen und entfernte sich schleunigst ohne das, nachdem er
sein letztes Wort gesprochen hatte.


Fünfundzwanzigstes Kapitel.

Ein Gewitter mußte kommen, und gegen sechs Uhr zeigten sich die Vorboten
desselben an allen Ecken und Enden, das heißt über alle Dächer her, die mir
rings um meine Fenster den unermeßlichen Äther verengerten. Während die
giftig-weißen Wolkenballen emporstiegen und, sich umwälzend, ihre Farbe ins
Dunkelgraue, ins Schwarze verwandelten, machte ich die möglich-sorgsamste
Toilette, meine äußere Erscheinung gleichfalls aus dem Grauen ins Schwarz
verändernd. Zu gleicher Zeit machte ich unter dem Einfluß der elektrischen
Schwüle einen Seelenprozeß durch, dessen häufigere Wiederholung mir für den
Körper nicht wünschenswert sein konnte.
Ich überdachte mein Leben und zählte die Jahre desselben. Die Summe der
letzteren streifte nahe an die Zahl Vierzig heran; das erstere erschien mir
in der augenblicklichen Gewitterbeleuchtung wie ein gutstehendes,
wohlgehäufeltes, unübersehbares, aber auf Regen wartendes Kartoffelfeld. Ob
das, was der Meister Autor »versunkene Gärten« nannte, unter der nahrhaften
Vegetation begraben lag, will ich unaufgerührt lassen; sicher aber war, daß
mir das noch niemals so glaublich erschienen war, als in diesen
Augenblicken. So weich, so menschenscheu und zugleich so sehr
menschenbedürftig wie jetzt hatten mich Leben und Tod noch nie gestimmt.
»Diese Hexe!« stöhnte ich leise, die Hemdärmel zuknöpfend. O, sie wußte es
ganz genau, was sie zustande brachte, als sie neulich fragte: wer ist denn
der Herr da? -- Hätte sie statt dessen, beide Hände mir entgegenstreckend,
die Bekanntschaft erneuert, so wäre alles verlaufen wie es sich eigentlich
gehört -- erfreulich, höflich, in den besten gesellschaftlichen Formen;
aber bei
der Macht Proserpinas
Und bei Dianas unverrückter Allgewalt,
Auch bei den Büchern, kräftiger Bannsprüche voll,
Die hoch vom Himmel feste Stern' herunterziehn --
dies Weib wußte, was für ein Zauberwort es gebrauchte!
Wer ist denn der Herr eigentlich? -- --
Ich nähere mich dem Schlusse meines Berichtes und werde im Gegensatze zu
meinen, derartige psychologische Raritäten novellistisch aus der Tiefe
ihres Talentes herauffischenden Kollegen von Wort zu Wort, von Satz zu Satz
ehrlicher und wahrer. Diese an das alberne Gänschen, das Trudchen Tofote
gerichtete Frage: Wer ist der Herr? ich sollte ihn eigentlich kennen! --
fibrierte zu allen Stunden scharf und schrillend mir durch die innigsten,
wehmütigsten Gemütsbewegungen der letzten Tage und Nächte. Wir mögen noch
so sehr in das Schicksal anderer Leute verflochten werden, unser eigenes
Schicksal behalten wir darum doch für uns allein, und es ist uns stets --
manchmal unsern tiefsten Empfindungen und Anmahnungen zum Trotz, das
wichtigere.
Das Wort der Hexe ärgerte mich durch die Stunden am Bette des sterbenden
Steuermanns, setzte mir seine scharfen Nägel mitten im Verkehr mit dem
Meister Autor und der Base in das weiche Herzfleisch, war mir in der heißen
Sonne unter den hohnlachenden Lebensbäumen am Grabe des Seefahrers Karl
Schaake wie ein eisiger Hauch im Nacken und zwang mich mehrmals, mich
umzusehen, _wer_ »eigentlich« da hinter mir stehe und mich anblase.
Was waren mir alle versunkenen und versinkenden Gärten gegen dieses
höhnische, lebendige, blühende Lächeln der Hexe, der Frau Christine von
Wittum?!...
Wir kannten uns recht gut; wenn wir uns auch durch manches Jahr aus dem
Gesichte verloren hatten. Als wir uns kennen lernten, waren wir noch --
»Oooooh!« stöhnte ich, und mit dem Griffe, mit welchem andere Leute dann
und wann nach der Pistole, dem Strick oder dem Rasiermesser griffen, faßte
ich meinen Hut und ging -- ging zur Frau Christine, die mich durch den
Zaubermohr und Diener weiland Mynheers van Kunemund hatte ersuchen lassen,
noch einmal bei ihr vorzusprechen.
Es lag mir schwer in den Gliedern, und ich wunderte mich gar nicht über
die müden, verdrossenen Gesichter der Leute in den Straßen. Langsam, ein
Bein dem andern nachschleifend, erreichte ich die Haustür der gnädigen
Frau, und auch hier wieder fand ich natürlich den Signor Ceretto
Wichselmeyer am Pfosten lehnend, -- wie in jener Mondnacht unter dem
Torbogen des Cyriacihofes. Außer der Hautfarbe hatte er von seinen
afrikanischen Ahnen noch dieses an sich behalten, daß ihm nicht leicht bei
irgendeiner europäischen Temperatur (physischen wie moralischen) zu schwül
zumute wurde. Er nickte mir freundlich und aufmunternd zu, geleitete mich
die Treppe hinauf, öffnete mir die Tür des Salons und meldete mich:
»Herr Baron von Schmidt!«
Da vernahm ich denn aus der Tiefe des bereits bei der Schilderung jenes
Gesellschaftsabends erwähnten tropischen Zimmergartens ein sonores,
wohlklingendes:
»Endlich!«
und entgegen meinem Herzklopfen rauschte die Frau Christine von Wittum,
reichte mir die Hand und rief:
»Ich habe zu Ihnen geschickt, um doch _einen_ Menschen zu haben, an dem ich
mein Mütchen kühlen konnte. Welche ärgerlichen, verdrießlichen,
langweiligen Tage! Aber Sie haben mich zu lange warten lassen, mein Herr;
und während des Wartens hab' ich mich eines andern besonnen: Lieber Baron,
ich würde noch einmal zu Ihnen geschickt haben, um Sie bitten zu lassen,
ruhig zu Hause zu bleiben, wenn mich diese fürchterliche Luft nicht
vollständig unfähig gemacht hätte, nochmals die Hand nach dem Klingelzug
auszustrecken. O ihr Götter, was alles muß man in dieser trostlosen Welt
ausstehen!«
»Allerlei Art von Dasein, liebe Gnädige,« sagte ich.
»Und ist das nicht gerade die Dummheit? Weshalb allerlei Dasein? Was geht
uns das anderer Leute an? Ich bitte Sie, was zum Beispiel hatten Sie sich
in die Verhältnisse dieser guten Menschen, die seltsamerweise
augenblicklich uns beide zu gleicher Zeit quälen und beunruhigen, zu
mischen?«
»Ich habe mich nicht hineingemischt, meine Gnädige. Mit Behagen, Spannung,
Rührung, Trauer und --«
»Und? und?«
»Und Mißbehagen habe ich als Zuschauer dagestanden und wahrlich mehr guten
Rat empfangen als gegeben.«
»Sie behaupten also, mein Herr, mir das törichte Ding, dieses hübsche aber
gänzlich unbedeutende Waldblümchen, diese Gertrud Tofote, aus welcher ich
in einer Laune mein Püppchen, mein Spielzeug gemacht hatte, nicht genommen
zu haben?«
»Mein Wort darauf!«
Es trat eine Pause in der Unterhaltung ein. Draußen in der Gasse trieb sich
jetzt ein heißer Wind um, und die Staubwirbel bis zu unserm Balkon in die
Höhe.
»Schließen Sie doch die Balkontür, bitte,« sagte die Frau Christine.
»Heute bin _ich_ meinerseits in der Stimmung, alles um mich symbolisch zu
nehmen und mich darüber zu ärgern.«
Ich lächelte, und --
»Lachen Sie nicht!« rief die gnädige Frau, in der Tat ziemlich aufgeregt;
aber zurücksinkend kam sie auf meinen letzten Ausruf zurück.
»Ich muß Ihnen also wohl auf Ihr Wort hin glauben! O, wüßten Sie nur, wie
sehr es mich innerlich angriff, als mir dieses alberne Trudchen den Stuhl
vor die Tür setzte. Gütiger Himmel, etwas muß ich doch haben, um dieser
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