Meister Autor; oder, die Geschichten vom versunkenen Garten - 04

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Schnörkelschnitzeleien an Tür und Pfosten hatten dem Geschmack des alten
abenteuernden Heimtückers zugesagt, und er hatte das Seinige getan und
alles verblichene Gold neu auffrischen lassen. Auch die Decken- und
Wandmalereien hatte er zum größten Teil konserviert, und die bekannten
Abgöttereien, Schäfereien, Jägereien und Fischereien ergötzten das Auge
fast von jeder Richtung her. Aber Mynheer hatte auch ein Gusto für buntes
Fensterglas mit in seinen lichten Schlupfwinkel gebracht und seine Gemächer
in das bunteste Licht gekleidet. Und was er von seinen Weltfahrten an
Wunderdingen mitgeschleppt hatte, das hatte er auf den Tischen und
Schränken und die Wände entlang aufgehäuft und angehängt. Selbst die
Fußböden hatte er durch ausländische farbenprächtige Teppiche und die Felle
fremder Tiere nach Möglichkeit wunderlich ausgestattet; das Ganze
überwältigte, selbst nur als Raritätensammlung betrachtet, beim ersten
Durchschreiten der Räume vollständig.
Aber die Lebendigen waren doch das Merkwürdigste, -- sie stehen mit jedem
Worte, mit jedem Gestus fest in meiner Erinnerung -- der Meister Autor, das
schöne Waldfräulein und der Leichtmatrose und Pilgerführer Karl Schaake von
der Hamburger Barke Kehrwieder.
Ich sehe den Bremer Mohren, Ceretto Wichselmeyer, eine Tür nach der andern
vor der neuen Herrschaft öffnen; ich sehe das süße Kind immer größere und
glänzendere Augen öffnen, aber ich sehe es auch von Schritt zu Schritt
immer mutiger und mutwilliger werden. Ich sehe, wie sich Fräulein Gertrud
Tofote lachend auf weiche Polster wirft, um sofort wieder aufzuspringen und
über die orientalischen Decken, die Tigerfelle mit leichter Hand zu
streichen; ich sehe sie mit bunten Schmuckkästchen in der Hand, mit einem
javanischen Federfächel in der Hand, -- ich sehe sie mit einem
Korallenschmuck im Haar vor einem der vergoldeten Spiegel. Ja, ich sehe das
Lächeln, mit welchem sie sich in den Spiegeln des Hofmarschalls von Kalb
oder des Oberschenks von Bock, und zwar auf den Teppichen Mynheer van
Kunemunds stehend, beäugelt; und ich sehe auch den Meister Autor Kunemund,
der hinter ihr hertritt, sich über ihr Entzücken freut und doch dann wieder
auch stehen bleibt und kopfschüttelnd und traurig sie, unbemerkt von ihr,
lange und fest ins Auge faßt.
Ich sehe dann den Meister Autor, wie er den Stock seines »kleinen Bruders«
in einer Ecke findet und am Nagel den Hut des Seligen. Ich sehe, wie er vor
diesen Stücken der Erbschaft lange mit dem schwarzen Zauberhüter der
tausend Herrlichkeiten flüstert, um von neuem den Kopf zu schütteln. Ich
belausche einen tiefen Seufzer des Alten, während aus dem Nebengemache,
hinter dem schweren sammetbefranzten Türvorhang her, ein neuer, heller,
lachender Jubelruf des jungen Mädchens erklingt; den jungen Seefahrer
erblicke ich in diesem Momente nicht, aber ich finde ihn noch wieder -- im
Märchenhause Mynheers van Kunemund und in meiner Erinnerung. --
Wir haben allgemach das ganze Haus durchstöbert und kehren nun zurück durch
den Wirrwarr der bunten Räume, um das lustig verzauberte Gartenschlößchen
auch von außen zu umschreiten und den Garten einer neuen und eingehenderen
Durchforschung zu unterwerfen. Und auf diesem Rückmarsche finde ich meinen
jungen Salzwassermann in einem Winkel eines der vordern Gemächer, und zwar
in mürrischer Betrachtung der Schlange unter den Blumen.
Er saß auf einem Eckpolstersitz und hatte von einem Hängebrett zur Seite
den Gegenstand herabgeholt, der ihn so sehr bedenklich machte, daß er alles
andere darüber vergaß.
Als ich an ihn herantrat und ihm die Hand auf die Schulter legte, fuhr er
sogar zusammen und wurde sofort sehr rot, was ihm, beiläufig gesagt, gar
nicht übel stand.
»Was haben Sie denn da aufgegabelt, das Ihre Aufmerksamkeit so sehr in
Anspruch nimmt, lieber Freund?« fragte ich, und der Leichtmatrose erwiderte
verlegen und womöglich noch röter werdend:
»O nichts!«
»Dem scheint doch nicht so zu sein. Bitte, lassen Sie doch einmal sehen,
was Sie Gefährliches da hinter Ihrem Rücken verbergen.«
Und jetzt sprudelte und stotterte der junge Mensch heraus, was ruhig und
lachend zu sagen er sich zu schämen schien:
»Ich weiß nicht, wie das hierher kommt, und ob der, welcher es hierher
gebracht hat, gewußt hat, was es bei sich zu Hause bedeutet. Aber auf den
Inseln der Banda- und der Harafura-See schafft ein Feind es dem andern
verstohlen ins Haus oder aufs Schiff und geht nachher hin und reibt sich
die Hände und wartet ruhig den Erfolg ab. Sie sagen und glauben fest daran,
daß es Unglück bringe -- daß Haus und Schiff zugrunde gehen müsse, wenn es
nicht noch frühzeitig wieder hinausgeworfen werde. Es ist natürlich eine
Narrheit; aber kein malayischer Seemann duldet es auf seinem Schiff, und
ertappen sie einen, der es böswillig in der Hosentasche trägt, fliegt
beides über Bord, der braungelbe Kerl wie das graugrüne Zauberding.«
»Das ist ja recht interessant! Aber was ist es denn? Zeigen Sie doch
einmal, lieber Karl!«
Zögernd legte der Leichtmatrose einen dem äußern Anschein nach höchst
unverfänglichen Gegenstand in meine Hand, nämlich einen
schwärzlichgrünlichen Stein von eirunder Form und der Größe einer
Weiberfaust. Bei näherer Betrachtung erwies sich jedoch, daß das Ding
bezeichnet war und nicht ohne Kunst und Mühe zugerichtet, daß es also auch
wohl für den Verfertiger seine Bedeutung haben mußte. Die eine Hälfte war
mit einem Durcheinander wahrscheinlich sehr magischer und niederträchtiger
Schriftzüge bedeckt; auf der andern Hälfte wies sich ein Gesicht
eingegraben, und seltsamerweise hatte sich der Künstler augenscheinlich
bemüht, so gut es ihm eben möglich war, jedwede Fratzenhaftigkeit davon
fernzuhalten, und das war ihm auch so ziemlich gelungen. Es gab sicherlich
häßlichere molukkische Frauen und Göttinnen, als diejenige gewesen sein
mußte, die zu diesem Skulpturwerk Modell gesessen hatte.
Nachdem ich das magische Ei mit gebührender Aufmerksamkeit hin und her
gewendet, es unter jeglichem Gesichtspunkt betrachtet und zuletzt sogar
berochen hatte, gab ich es zurück und zuckte die Achseln.
»Sie nennen es den Stein der Abnahme und dulden es nicht,« sagte Karl
Schaake.
»Der Stein der Abnahme?! Freilich ein sonderbares, bedeutungsvolles
Wort!... der Stein der Abnahme!«
Ich nahm das Ding zum zweitenmal und betrachtete es noch einmal von allen
Seiten, indem ich wiederholte:
»Der Stein der Abnahme!«
Den Schriftzügen vermochte ich nichts abzugewinnen, wohl aber allmählich
dem Weibergesicht. Die Phantasie tut in allen diesen Stücken das Ihrige
und tat das auch jetzt. Das kindische, unsichere Bild gewann ein
tierisch-stupides Leben, und über alles einen Zug von unerbittlicher
Grausamkeit und kahlem, nichtssagendem Hohn, der es mich auf der Stelle zum
andernmal zurückgeben ließ:
»Sie dulden es nicht?«
»Unter keinen Umständen! Sie reißen selbst das Haus nieder, in welchem es
gefunden wird.«
»Und Sie, lieber Freund, verspüren all Ihrem Europäertum zu Trotz ebenfalls
nicht die mindeste Lust, dieses Es, diesen -- Stein der Abnahme, hier --
grade hier, in diesem Hause zu dulden? Es juckt Sie längst in allen
Fingern, das Entsetzliche verstohlen in die Tasche zu schieben und es
nachher in den Fluß zu werfen, da wo er Ihnen am tiefsten vorkommt? Nicht
wahr?«
Der junge Mann nickte mit allem Nachdruck, den Blick nicht von mir
abwendend.
»Nun, was hindert Sie denn, lieber Karl? Ich meine, wir können es vor dem
Meister Autor, dem Bruder Mynheers van Kunemund, wie vor der niedlichen
Erbin Mynheers -- und vor letzterer am ersten verantworten. Sehen Sie, das
Fenster steht weit genug geöffnet. Werfen Sie, und reinigen Sie das Haus
von dem Unheil!«
So vieler Worte hatte es kaum bedurft. Beim ersten bereits war der
Seefahrer aufgesprungen, und jetzt flog im weiten Bogen der Stein der
Abnahme aus dem Fenster und klatschend mitten in das Bassin vor dem Hause.
»So -- gottlob!« rief tief aufatmend Karl.
»So!« sagte ich lachend und habe späterhin Gelegenheit gefunden, mich
dieses Lachens mehrfach zu erinnern. Fürs erste fanden wir uns noch einmal
im Garten unter den Bienen, Blumen und Schmetterlingen zusammen und
beredeten noch dieses und jenes, woran Gertrud Tofote, versunken in ein
unruhiges Träumen, wenig Anteil nahm.
Dann fragte Herr Kunemund:
»Du wirst doch heute mit uns essen, Karl?« und Karl dankte zögernd und
sagte:
»Ich habe der Muhme im Cyriacihofe versprochen, heute bei ihr zu bleiben,
und sie wird schon längst eine recht schöne Rede über mein Ausbleiben für
mich in Bereitschaft haben.«
So nahmen wir Abschied. Wir, der Seefahrer und ich, ließen die Erbin im
Besitz der Erbschaft Mynheers van Kunemund, und ein jeder ging seines
eigenen Weges: ich den meinigen, wie gesagt, durch verschiedene Jahre. In
diesen Jahren hatte ich das Meinige in Wohl und Wehe abzutun und konnte
mich nicht immer mit dem, was andere Leute eigentlich allein anging,
beschäftigen. Aber dessenungeachtet behielt ich diesen Tag mit allen seinen
Figuren und Vorgängen in merkwürdiger Frische in der Erinnerung. Den
Meister Autor hatte ich ja sogar, wie man das so nennt, liebgewonnen. Und
wenn man sich gewöhnlich wenig mehr bei dem Wort denkt, als daß ein
wohltuend warmes Behagen von der oder der Persönlichkeit für uns ausgeht,
so trat hier doch noch etwas anderes hinzu: ich hatte nämlich den Meister
auch da zu respektieren, wo sich mein ganzes, oft flüchtig genug im Tage
lebendes Wesen gegen seine Natur und sein Treiben als gegen etwas ganz
Gewöhnliches und Einfältiges, wenngleich ungemein Feststehendes sträubte.
Das Behagen behielt freilich stets die Oberhand. In mancher verdrießlichen
Stunde schweifte meine Seele mit Wohlgefühl in des Alten Einsamkeit und
sein sagenhaftes Leben hinüber; und in mancher unsichern Stunde habe ich
ihn, den Meister Autor Kunemund, in der Einbildung um Rat gefragt,
denselben jedesmal erhalten und wirklich dann und wann befolgt und zwar
niemals zu meinem Schaden, wenngleich sehr häufig zur unmäßigen
Verwunderung anderer Leute.
»_Dem_ Mann geht es immer gut! Dem Mann kann es nie schlecht gehen!« dachte
ich, und saß mit ihm in der Phantasie an der Schnitzbank und spielte mit
dem tapfern, blanken Messer seines königlichen Ahnherrn. Und mit ihm sah
ich seinen Wald im Frühlings-, Sommer-, Herbst- und Wintergewande, in
Sonnenlicht und Nebel, und sah die Alte und den Förster Tofote und das
Kind, das schöne Kind. Und während ich an meinem eigenen Leben schnitzelte
und zwar im Holz, das mir überwiesen worden war, philosophierte ich dann
und wann, wie es sich gehörte, über das Material, welches andern in die
Hände fiel, so zum Exempel über die Erbschaft Mynheers van Kunemund.
Hundert Meilen entfernt vom Elmwalde kümmerte ich mich um jenen wunderlich
schönen Garten, die liebliche Erbin darin und dachte an die rotweiße
Meßstange, welche jener Stadterweiterungsplan der armen Gertrud Tofote
zwischen ihrem Flieder, Jasmin und ihren Rosen eingepflanzt und
aufgerichtet hatte. --


Elftes Kapitel.

Der Schnellzug hielt im freien Felde, ungefähr eine halbe Stunde von der
Station, und während fünf Minuten unterhielten sich die Reisenden in
sämtlichen Wagen, in der Erwartung, daß es sogleich weiter gehen werde,
ruhig über die möglichen Gründe des plötzlichen Anhaltens. Nach einer
weiteren Minute bogen sich die ungeduldigeren Passagiere aus den Fenstern,
um sich nach diesen Gründen umzusehen, und einen kürzesten Moment später
bot die lange Wagenreihe mit den daraus hervorguckenden Köpfen den Anblick
einer Straßenseite, wenn drunten in der Gasse etwas ganz Außergewöhnliches
vorgegangen ist oder vorgeht. Wenn nun aber auch kein Kanarienvogel der
zärtlichen Pflege seiner altjüngferlichen Herrin entschlüpft war, so war
nichtsdestoweniger etwas, wenn auch nicht Außergewöhnliches, so doch gewiß
ziemlich Aufregendes passiert, zumal für diejenigen, welche dergleichen
noch nicht auf ihren Reisen erlebt hatten.
»Personen- und Güterzug entgleist ... Bahn unfahrbar!... Heizer und
Lokomotivführer tot, viele Passagiere verwundet!« ging es plötzlich von
Mund zu Munde durch alle Klassen des Zuges, und die bereits am Rande der
Böschung in Gruppen stehenden Schaffner ließen sich nunmehr allgemach
herbei, die Nachricht zu bestätigen und fingen auf Befehl des Zugführers
an, die Wagentüren zu öffnen.
Allgemeines Herausklettern -- Durcheinander von Frage und Antwort -- hie
und da Mitleid und Entsetzen in den Mienen; aber meistens doch nur, je nach
dem Charakter oder der Eile der persönlichen Reisenot heftiges
Gestikulieren, leises Murren und lautes Schimpfen! Wer es schon mitgemacht
hat, weiß es, wie die Welt in solcher Lage sich gibt; wer noch nicht im
freien Felde vor die Alternative gestellt wurde, in dem Coupé zu
übernachten, oder nach eigenem Können und Vermögen seinen Weg über das
Hindernis da vorn auf dem Geleise zu suchen, der mag sich selber den Puls
fühlen. --
Was mich anbetraf, so hatte ich wenig zu versäumen, und nachdem mir die
Gewißheit geworden war, daß für eine längere Zeit an ein Freiwerden der
Bahn und ein Weiterfahren des Zuges nicht zu denken sei, ergab ich mich
gleichmütig in die Situation, sah mich um und suchte mich in der Gegend
zurecht zu finden.
Wir hielten in der Ebene, wie gesagt, eine halbe Lokomotivviertelstunde von
der nächsten Station entfernt, hatten also einen ziemlich beträchtlichen
Weg, und zwar auf sehr schlechtem und gar noch dazu durch ein heftiges
Gewitter am frühen Morgen aufgeweichtem und grundlos gemachtem Pfade zu dem
Orte hin. Aber es war ein herrlicher, klarer, sonniger und doch durch eben
jenes Morgengewitter erfrischter Sommernachmittag, und es gab schlimmere
Klemmen als die meinige im menschlichen Leben: ich wenigstens hatte
schlimmere und zwar ziemlich heiter überwunden, wenn auch dann und wann nur
aus dem einfachen Grunde, weil ich mußte.
Ich hatte mich bald in der Gegend zurechtgefunden. In der Ferne, gegen
Nordost zog sich wieder einmal der Elmwald hin; in der hügeligen Ebene
zwischen dem Walde und der Eisenbahn, ungefähr eine Viertelwegstunde von
der letztern lag ein Dorf in Gebüsch, Wiesen und Kornfeldern, und der Weg,
den wir sämtlich zu treten hatten, wenn wir das Hindernis vor uns umgehen
wollten, führte durch dieses Dorf. Zu Haufen und einzeln, teilweise schwer
genug mit ihrem Gepäck belastet, schritten die Insassen des Bahnzuges den
roten Dächern zu; ich aber, mit ein wenig besserm Humor für das Ertragen
der Verdrießlichkeit ausgerüstet, ließ den Schwarm voranziehen. Eine
Zigarre anzündend, klomm ich ihm den Hohlweg hinauf langsam bis auf die
Höhe nach, erstieg dann die Böschung und saß am Rande eines unübersehbaren
Weizenfeldes unter einem schattigen Fliederbusche nieder, und zwar in
ziemlich eigentümlicher Stimmung.
Da war eben noch der wirreste Lärm, das Rasseln der Räder, das Geschwätz
der Mitreisenden, das Ächzen der Maschine, kurz der Dampf, Qualm und die
Musik der ganzen kostbaren Erfindung um mich gewesen und jetzt -- die
tiefste Stille -- bis auf die Lerchen über mir im Blau und die Grille neben
mir im Thymianbusch. Und, weithin zu überblicken, lag die Ebene im
Sonnenduft, und im Süden das Gebirge im weißlichen Glanze. In
Schlangenlinien zog sich der Bahnkörper durch die Fläche und um die Hügel,
hier verschwindend, dort von neuem auftauchend, bis sich die Windungen im
Dunste der Ferne verloren. Die Sonne glitzerte auf den Schienen; und dort,
zwei- bis dreihundert Schritte von meinem grünen Busche entfernt, zwanzig
Fuß tiefer als er, lag wie ein verendendes Ungeheuer der schwarze lange
Wagenzug mit dem nur noch leise auskeuchenden Kopfe des Drachens, der
Lokomotive. Nur die Beamten -- der Lokomotivführer, Heizer und Schaffner
waren noch um die Wagen beschäftigt, und in den ersten Klassen hatten
einige verdrießliche Herrschaften von beiden Geschlechtern
verzweiflungsmatt ihre Plätze festgehalten.
»Wie schön doch die Welt geblieben ist!« sagte ich erstaunt. »Gütiger
Himmel, und das liegt noch immer dicht neben uns, und lächelt uns mitleidig
nach, während wir da vorüberrasen, befangen im Wahn in dem wüsten Gelärm
durch eigenes Mitlärmen, Mitkeuchen und Mitgreifen das zu gewinnen, woran
wir längst vorbeigewirbelt wurden. Welch eine Fratze schneidet uns unser
eigenes Leben, wenn wir es einmal in der rechten Beleuchtung anschauen!
Meine Herrschaften, da wäre die Gelegenheit, für die, die da lachten, zum
Weinen, und für die, die da weinten, zu einem Lachen zu kommen! O
verflucht, lieber von Schmidt!«
Ich hätte in dieser märchenhaften Stimmung fast die Zigarre als eine
=frivolitas frivolitatum= in den Hohlweg hinunter und der Eisenbahn
zugeworfen, tat es aber natürlich doch lieber nicht, sondern blinzelte
behaglich mit einem befreienden Atemzug in das Bessere, ohne das Gute zu
verwerfen, bis das Märchen noch freundlicher seine Hand mir in die helle
sonnenvolle Stunde hinein und entgegen streckte, und mir die Gelegenheit
bot, die beste Bekanntschaft, die ich in der Gegend hatte, zu erneuern.
Der goldene Weizen dicht hinter mir sang leise im leichten Winde. Die
letzten Passagiere hatten sich längst aus meinem Gesichts- und Gehörkreise
verloren, als das Gebell eines Hundes und der Schall von Fußtritten im Korn
mich bewog, mich langsam und widerwillig nach der Störung hin umzudrehen.
Ein enger Pfad durchschnitt querüber die gelben Wellen der Halme und Ähren
und mündete, ungefähr sechs Schritte von meinem Ruheplatze, in den Hohl-
und Dorfweg hernieder leitend. Auf diesem kaum fußbreiten Pfade durch das
hohe Korn bewegte sich ein breitkrämpiger grüner Filzhut mir entgegen --
kam ein Mann, ein alter weißköpfiger Mann, mit bereiftem Kinn, lang,
schlotterig und gebückt, die kurze Pfeife im Munde, und dicht vor den Füßen
begleitet oder besser geleitet von einem, dem Anschein nach, nicht mehr
jungen Dachshunde, und trat, als ich grade die Hand über die Augen legte,
um die malerische Erscheinung genauer zu betrachten, an den Rand des
Hohlweges mit der Absicht, in ihn hinunterzusteigen.
So viele Leute ich während der letzten Jahre aus dem Gedächtnis verloren
hatte, den Meister Autor Kunemund hatte ich nicht daraus verloren und --
hier war der Meister Autor!
Unverkennbar war er es! ein wenig greisenhafter und körperlich gebrochener,
auch wohl noch ein wenig blinder, aber doch der ganze Meister Kunemund!
Mit einem Rufe der freudigsten Überraschung sprang ich in die Höhe und rief
den guten Namen, und jetzt legte auch der Alte die Hand über die Augen, und
so standen wir und sahen uns an. --
Er erkannte mich natürlicherweise nicht sofort und wollte eben nach einem
kurzen höflichen Gruße weiter gehen, der Eisenbahn zu, als ich ihm den Weg
vertrat und ihm die Hand bot.
»Wir waren einmal gute Freunde, Herr Kunemund,« sagte ich. »Und ich hoffe,
daß wir uns als solche heute wiederfinden.«
Nun nannte ich ihm meinen Namen, und er rückte mir rasch unter die Nase zu
genauester Betrachtung, und dann ging ein breites Lächeln des Erkennens ihm
über die verwitterten Züge; er schüttelte mir kräftiglich die Hand und
rief:
»Herr, sieh, sieh, das freut mich, das freut mich aber wirklich! Sehen Sie,
lieber Herr Bergrat, grade an Sie habe ich eben noch gedacht, und wie oft
ich die letzten Zeiten hindurch an Sie gedacht habe und Sie gern einmal
gesprochen hätte, das kann nur ich alleine wissen. Also aber vor allem
andern, Ihnen geht es doch nach Wunsch in der Welt?«
Wem geht es eigentlich nach Wunsch in der Welt? Wem ging es irgend einmal
zu irgendeiner Zeit danach? Ich zuckte die Achseln, doch da ich
augenblicklich wenigstens mich über einen außergewöhnlich scharf
zubeißenden Lebensverdruß nicht zu beklagen hatte, so rief ich: »Man soll
um Gottes willen die Götter nicht eitel machen; ich werde mich sehr hüten,
sie zu loben; aber sonst, jawohl, geht es mir ganz gut!« und damit gab ich
ihm seine Frage zurück. Da zog auch der Alte die Schulter in die Höhe, und
ich brauchte die Bestätigung durch sein Wort nicht abzuwarten; ich sah es
schon selber, daß es ihm nicht gut ging, und daß der Staub und Dampf der
Erde ihn doch noch ein wenig mehr als mich zugedeckt habe und überwölkt
halte. Ich sah schon auf den zweiten Blick, daß der Meister Autor der Mann
nicht mehr war, den wir einstens, an einem Sommertage im Walde getroffen
hatten, das Kind hütend, und mit dem Kinde geheimnisvolle Wunder in der
Einsamkeit erlebend -- er war heute vielleicht noch etwas mehr!
»Nun, ich bin auch noch ganz zufrieden, lieber Herr,« sagte der Greis;
allein das Wort kam zögernd heraus, und er brach ab und fragte: »Was ist
denn dorten passiert auf der Bahn? Ich hörte im Felde von einem, daß ein
Unglück geschehen sei, und kam, um nachzusehen. Sind Sie auch mit
betroffen, Herr?«
Ich beruhigte ihn und gab ihm Nachricht und Auskunft über den Vorfall,
soviel ich davon zu vergeben hatte.
»Ihre Hülfe ist da unten nicht vonnöten, Herr Kunemund. Ihr wißt freilich
manchen Zauberspruch, Meister; aber ein Eisenbahngeleise macht Ihr doch
noch nicht frei durch Euren guten Willen. Also wenn Sie es sonst nicht
eilig haben, verehrter Freund, so gönnen Sie mir ein Viertelstündchen Ihre
Gesellschaft. Sehen Sie, da habe ich unter dem Busch gesessen in nicht
unfröhlichen Gedanken, und jetzt kommen Sie durch das Weizenfeld, der
Mann, der mir vor allen Menschen notwendig war, die gute Stunde zu
vollenden! Es geschehen doch noch Wunder, und das Wurzelwerk und Kraut hier
unterm Busch ist auch nicht ohne Grund zu einem Sitz für uns beide
zurechtgemacht. Setzen wir uns, und dann, Meister, Meister, wie geht es im
Walde? Was macht das Haus mit den Hirschgeweihen auf den Giebeln? was kocht
die Alte? und was macht der Förster und Euer wunderschönes Pflegekind, die
Gertrud Tofote, die ein so reiches Mädchen geworden war, als wir uns
zuletzt sahen -- wißt Ihr noch? Wahrhaftig, ich verwirre mich fast; nach so
vielen guten Bekannten und Freunden habe ich mich bei Euch zu erkundigen!«
»Da wird es freilich besser sein, daß Sie mir einen Platz an Ihrer Seite
geben, lieber Herr. Man fragt eben nicht nach vielen Leuten in der Welt,
wenn es Freunde sind, ohne daß man eine ausführliche Antwort erwartet. Ich
habe wohl Zeit zu allem; aber wissen Sie ganz gewiß, daß Sie dergleichen
haben? Ich habe es oft gefunden, daß die Leute sich hierin irren, als
worauf sie dann selber sich ärgern und man selber den Verdruß davon hat.«


Zwölftes Kapitel.

Wir saßen beieinander am Rain, im Schatten und doch in der Sonne. Der
Thymian roch noch immer sehr gut, die Grille sang, die Lerche sang und das
Ährenfeld sang auch, und zu allem andern ließ sich jetzt auch noch eine
Wachtel aus dem Weizen vernehmen; aber der alte Zauberer sagte trüblich:
»Also erstens, ich wohne nicht mehr im Walde!«
»Was, Sie wohnen nicht mehr im Walde?«
Er schüttelte den Kopf:
»Nein. Und der Arend auch nicht mehr, und die Alte desgleichen. Ein neuer
Förster sitzt an unserer Stelle, und die Forstbehörde hat ihm das Haus
restauriert; das heißt, als man auf sein Geschrei anhub, es ihm zu
erneuern, ging es natürlich ganz aus den Fugen, und so hat man ihm ein ganz
neues hinsetzen müssen. O das ist wunderschön, sie nennen es gotisch und
haben lange drauf studiert, bis sie die Form herausgebracht haben, sagt
man, aber jetzo haben sie sie heraus, und nun geht sie ihnen leicht genug
ab, an jeglicher Stelle, wo man ihnen den Platz dazu anweist. Ja Herr, was
Sie damals von und an uns kannten, das ist alles nicht mehr vorhanden.
Alles zerstreut -- verkauft -- ins Blaue gejagt! Ich auch; aber ich bin
gottlob auch der einzige, der es noch nicht verwunden hat. Danke, Herr, den
andern geht es recht wohl.«
»Meister, Meister?!... Meister, was ist das? Seine Freunde soll man nicht
durch unnütze Reden quälen. Laßt mich alles hören und so schnell als
möglich! Wie geht es dem Förster? Was ist aus Fräulein Gertrud geworden?«
»O, _der_ geht es sehr, sehr gut. Danke schön!« sagte der Alte, den Kopf
womöglich noch tiefer auf die Brust herabsinken lassend.
»Gottlob! Und ihr Vater wird bei ihr wohnen, und die Alte gleichfalls --
was jagt Ihr einem für einen unnötigen Schrecken ein! -- Sie alter Sünder
werden nur hier Ihren eigenen schnurrigen Willen für sich allein weiter
haben wollen, und in melancholischen Augenblicken wie zum Exempel jetzt
haben Sie dann freilich alle Zeit, sich über sich selber zu ärgern.«
Der Greis schüttelte wiederum den Kopf, aber diesmal lachte er dazu;
wahrlich er lachte, und zwar ganz behaglich, als er mir entgegnete:
»Ganz so, wie Sie es sich vorstellen, ist die Geschichte doch nicht, lieber
Herr. Der Arend Tofote hat freilich bei unserem Kinde sein Quartier
genommen, aber ausgehalten hat er das nicht lange. Zuletzt wollte er seinen
schnurrigen Willen auch allein haben, und so hat er sich denn begraben
lassen, und zwar als er auf Besuch bei mir da im Dorfe war. Dort drüben
jenseits des Weges auf dem Kirchhof im Felde liegt er; und die Alte ist zu
ihrer Vetterschaft hinter dem Walde gezogen; ich hingegen, lieber Herr,
wissen Sie, spiele hier den Maulwurf auf der Schaufel; aber Vergnügen macht
es mir gerade nicht. Nur wer jemals selber den Maulwurf auf der Schaufel
hat spielen müssen, kann darüber nachsagen oder nur ein Wort mitreden.«
»Wahrlich!« rief ich mit heftigstem Nachdruck aus der Mitte meines
Schreckens heraus; aber ich sagte weiter nichts, denn ich hatte nun
allmählich wohl merken müssen, daß hier mit einiger Vorsicht aufzutreten
sei. Ich unterbrach also das Schweigen, in welches der Meister Autor
versunken war, nicht; sondern ich ließ ihn seinen eigenen Weg durch seine
Erlebnisse gehen, in der festen Gewißheit, daß er mich baldigst auffordern
werde, ihm auf demselben zu folgen. Und so geschah es auch. --
Der Himmel war blau über uns, freudig-lockend das ferne Gebirge, grün der
nähere Elmwald. Die Schmetterlinge umflatterten uns, die roten und blauen
Blumen am Rande des Kornfeldes nickten uns lieblich zu, im Dornbusch und im
Fliederbusch war's lebendig und kroch und summte es, und die Lerchen und
die Wachtel wollten auch nicht still werden. Die Welt war sehr schön,
selbst an dieser eigentlich ziemlich unschönen und ganz und gar nicht
romantischen Stelle; aber ein schauerlich Grauen ob der Gewißheit, daß mir
von neuem einmal gezeigt werde, daß sie ebenso häßlich als schön sei,
durchfröstelte und überkroch mich. Notwendig erschien mir das neue
=argumentum ad hominem= grade nicht, und ich würde mit Vergnügen Verzicht
darauf geleistet haben.
Nachdem der Alte lange genug geschwiegen hatte, sah er auf und sagte mit
einem letzten Blick auf den bewegungslosen Bahnzug:
»Ich hatte mir vorgestellt, daß man da vielleicht eine Handreichung
brauchen könne, wenn dem aber nicht so ist, so meine ich, wir gehen weiter,
lieber Herr; und, Herr Bergrat, da ich Sie doch einmal wieder zu meinem
großen Vergnügen so unvermutet getroffen habe, so habe ich jetzo auch eine
Bitte an Sie. Kommen Sie auf ein Viertelstündchen in meine Stube! Sehen Sie
es sich einmal an, wo ich untergeschlupft bin! Sie tun ein gutes Werk an
einem nichtsnutzigen, überflüssigen Gesellen, der noch nie in der Welt sich
zurechtfinden konnte, und der jetzt ganz an den Nagel gehängt ist, wie ein
Junggesellen-Bratenrock, in den, statt des jungen Nachwuchses, die Motten
kamen. Ja ihr, die ihr euch da umtreibt (er wies auf die glitzernden
Eisenschienen, die sich durch die Landschaft zogen), ihr, die ihr alles,
was euch passiert, von einem Tage zum andern zu nehmen wißt, ihr könnt euch
freilich nicht in unser Gemüte hineinversetzen.«
»Herr Kunemund,« sagte ich, »wann fehlen der Leiter, die in einen Brunnen
hinunterreichen soll, _nicht_ einige Sprossen!«
Ich hätte mich eines philosophischen Ausdrucks bedienen können, ich hätte
mich höchst schulgerecht ausdrücken können; aber da mich der Meister
verstand, so war's nicht vonnöten; und zu allem Übrigen war die Redensart
auch ganz und gar sein Eigentum und nicht das meinige. Er klopfte mich
freundlich auf die Schulter, und wir standen auf aus dem Gras, Moos und
Thymian.
Das schwere, mühselige Sichemporheben des Alters bekümmerte mich bei dem
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