Meister Autor; oder, die Geschichten vom versunkenen Garten - 06

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Eine dunkle Tür zur Linken lud zum Anpochen ein, und eine Männerstimme
forderte einen Augenblick später zum Eintritt auf. Ich stand zweifelnd
still auf der Schwelle in der Überraschung vor dem Bilde, das sich jetzt
dem Auge bot.
Ich erzähle heute, nachdem alles, was mich damals innerlich mächtig
erregte, durch die Jahre gesänftigt hinter mir liegt, und ich darf jetzt
demnach wohl auch dem Äußerlichen sein Recht geben und Gefühl und
Empfindung auf die Beschreibung folgen lassen.
Wieder vor allem andern ein tief in die Wand eingelassenes hohes
Bogenfenster, und dieselbe Flut von Licht, jedoch hier noch wundervoller
und magischer sich über das mittelalterliche Eichengetäfel des Gemaches
ausbreitend! Grüne Zweige draußen vor dem Fenster -- das Hausgerät eines
alten Jüngferleins ringsum, doch ein Bett und darauf ein bärtiger Mann im
Winkel! In der Fensterwölbung am Spinnrad eine alte Frau! ... in dem
Sonnenstrahl die merkwürdigste alte Frau mit dem merkwürdigsten weißen
Haar, das ich je an einer Frau gesehen hatte!
Das war gleicherweise eine Fülle von Licht, -- eine Fülle, die sich nicht
bändigen ließ und an Schönheit wahrlich den blondesten, braunsten,
schwärzesten Locken der Jugend nichts nachgab. Blaue klare Augen, wie sie
nur zu diesem Silber paßten, leuchteten unter den noch immer dunkeln
Brauen; -- und dazu war das alte Zauberweible taub; es saß und spann und
hielt die hellen, blauen Augen nur fest auf das Schmerzenslager gerichtet,
auf welchem der starke, breitschultrige Mann, der Seefahrer und Abenteurer
hülflos wie ein Kind lag. Von meinem Eintreten vernahm die Base des
Steuermanns Karl Schaake nichts, sie folgte aber den Augen ihres Neffen und
stand rasch auf von ihrem Spinnstuhle.
Auch der Verwundete richtete sich, soweit er durfte, empor, und er war es
auch, der fragte: mit wem man die Ehre habe.
Glücklicherweise war das bald gesagt und erklärt, und aus dem
verwundert-fragenden Blicke des armen Burschen wurde augenblicklich ein
sehr erfreuter, und die fiebernde Hand, die er mir entgegenstreckte, griff
fest die meinige und ließ sie fürs erste nicht los.
»O das ist schön! das ist brav!« rief der Steuermann Schaake. »Das ist das
Beste, was mir in diesen nächsten Tagen zufallen konnte. Nehmen Sie es
nicht, als ob ich Ihnen mit einem dummen Schiffsagenten-Komplimente
aufzuwarten gedächte; aber Sie, Herr von Schmidt, hatte ich vor allen
andern Menschen nötig.«
Ich sagte dem Armen einige triviale Trostesworte, auf die er natürlich
wenig Achtung gab. Dagegen aber winkte er das alte Weiblein, das bis jetzt
auf das, was wir gegenseitig vorgebracht hatten, mit der Hand hinter dem
Ohre gehorcht hatte, eifrig-hastig heran und ließ es näher zu seinem Bett
hintreten. Und als sie sich über ihn hingebeugt hatte, um ganz genau zu
vernehmen, brüllte er ihr zu:
»Du, das ist der Herr, von dem ich dir gesagt habe. Das ist der Mann, den
wir jetzt so sehr gut gebrauchen können. Siehst du, alte Mutter, ich hab's
dir doch gleich durchs Sprachrohr deutlich gemacht, daß du dir deine
ungemütliche Jammerei zu drei Vierteln hättest sparen können. He, hab' ich
nicht immer Glück gehabt zu Wasser und zu Lande?«
»Das weiß der liebe Gott!« seufzte das weiße Weibchen, beide Hände flach
erhebend und wieder senkend.
»Dem ist es auch niemals eingefallen, von einem Salzfisch, einem Seehahn
oder einer Seeschwalbe zu verlangen, daß sie ein Nest unter einen Dachrand
hängen und ihren Laich an eine Hauswand absetzen. War es etwa seine Schuld,
als der Esel aufs Eis und der Steuermann Karl Schaake auf die Eisenbahn
ging? Glück muß man haben, Tante Schaake, und daß ich Glück habe, das
kannst du hier wieder sehen. Tausend andere hätten hier liegen können, bis
sie reif gewesen wären für des Kapitäns Gesangbuch, das Brett und die Kugel
am Fuß; ich aber habe mich kaum gemütlich in der Blockade eingerichtet, so
signalisiert auch das Fort San Salvador schon: Schiff in Sicht -- =man of
war= -- sechsundneunzig Kanonen; die Tür geht auf, und Sennora Fortuna
steckt den Kopf herein und fragt vergnügt: Befehlen Sie sonst noch was,
Maat?!«
Obgleich ich in diesem Moment durchaus nicht wußte, wie gerade ich dem
Seemann so außerordentlich erwünscht kommen und nützlich werden könne, so
freute mich doch die Freude des armen Teufels über meinen Besuch sehr, und
ich sagte ihm das auch so eindringlich als möglich.
Dann gab ich der Alten die Hand, und wir verstanden uns bald recht gut;
sie war sehr freundlich und gut, und je länger man sie offen oder
verstohlen ansah, desto weißer wurden ihre Haare und desto blauer und
klarer ihre alten Augen.
»Er ist recht schlimm mitgenommen,« sagte sie betrübt. »Die Doktoren und
Wundärzte haben die Köpfe geschüttelt, und, Herr, glauben Sie ihm nur
nicht, wenn er Sie anlacht: er beißt sich doch die Lippen blutig vor
Schmerzen. O daß der liebe Gott uns das auch noch hat schicken müssen!«
Daß die Greisin recht hatte, sah ich wohl. Der Verstümmelte litt die
furchtbarsten Qualen; er lag auch im heftigsten Fieber, und es war ein
Fieberlachen, mit welchem er rief:
»Schicken müssen? =Damn!= Wenn der betrunkene Kapitän die Rahen nicht in
die Piek setzt, sondern absolut mit vollen Segeln in den Hafen laufen muß,
-- wer, zum Teufel, will ihn abhalten, seinen Willen zu haben? O, die Base
ist ein guter Hafenmeister und weiß in dem entstehenden Lärm ihr Wort zu
sprechen.«
»Lieber Herr,« sagte die Base Schaake, mich leicht mit dem Ellbogen
berührend. »Sie müssen ihm seine Reden zugute halten; er hat mich von jeher
seinen alten Hafenmeister genannt und ist eben sein ganzes Leben durch zu
weit weg gewesen. Und dann sind wir auch von Natur ein Paar unbeholfene
Leute; und es freut mich so sehr, wenn das Kind meint, an dem Herrn den
Richtigen gefunden zu haben.«
Das bärtige breitschultrige Kind auf dem Marterbette verzog wieder mitten
in seinen Schmerzen den Mund zu einem behaglichen Lachen:
»Den Richtigen? Höre, Alte, so gut solltest du mich doch kennen, um mir
unbesehen zu glauben, daß ich mein Notfeuer nicht anzünden werde, wenn da
eine verdammte malayische Seeräuber-Proa um die Insel kreuzt! Natürlich ist
das der Richtige!... und Ihr, Herr, stoßt Euch nur ja nicht an ihre dumme
Art; denn daß je eine Henne es mit ihrem Küken besser im Sinne gehabt habe,
als sie mit mir, das glaube ich erstens nicht, und zweitens weiß ich das
Gegenteil ganz genau.«
Was mich anbetraf, so hatte ich mich selten so schnell in einem Haushalt
orientiert, wie in diesem hier. --


Sechzehntes Kapitel.

So saß ich denn am Bette des Verwundeten und sprach ihm zu, wie man mit
einem im starken Fieber Liegenden zu sprechen wagt. Ich erzählte ihm, wie
ich vorgestern mit seinem alten Freunde, dem Herrn Kunemund,
zusammengetroffen sei, und wie alles so wunderlich in der Welt, auch im
Schlimmen, sich ineinander schicke. Diesen Gemeinplatz machte ich auch dem
»alten Hafenmeister« deutlich, und das weißlockige Zauberweibchen erhub die
blauen Augen und schüttelte das Haupt und sagte:
»Der Autor, der Autor, der wird sich auch arg kümmern! Herr, wollen Sie es
ihm schreiben in unserem Namen? Bitte, tun Sie es, meinem Kinde zum
Gefallen; Sie werden es zu machen wissen, daß er nicht mehr erschrickt, als
nötig ist.«
Ich versprach gern, das zu übernehmen, und der Steuermann drückte mir von
neuem die Hand und rief:
»Das ist das eine, wozu wir Sie so gut gebrauchen können; aber es ist noch
mehr da --«
Er brach ab, und ich erfuhr heute noch nicht, wozu ich ihm noch weiter
nützlich sein könne, drang auch nicht in ihn, es mir mitzuteilen, denn die
Sonne sank tiefer, und mit dem Abend kam das Fieber heftiger, und der Arzt
und der Wundarzt zum neuen Verband. Ich ging als die Doktoren anlangten,
und versprach wiederzukommen. Die Greisin begleitete mich vor die Tür und
brach da in ein heftiges Weinen aus:
»O Herr, ich bin siebenzig Jahre alt, und ich soll ihm ein Gesicht machen
wie ein jung Mädchen, welches am Pfingstsonntage zu Tanze gehen will!« ...
Mit dem Worte in Herz und Hirn nachklingend stand ich wieder in dem Hofe,
fand meinen Weg durch die alte Stadt in den schönen Sommerabend hinein und
aus dem Tore der Stadt. Da suchte ich den Garten, den Gertrud Tofote geerbt
hatte, und fand ihn nicht mehr. -- Der Garten war verschwunden, wie in
einem Jahre -- vielleicht weniger als einem Jahre, jener prächtige, alte,
düstere Cyriacushof mit seinen jahrhundertelangen Erinnerungszeichen, den
ich eben verlassen hatte, verschwunden sein konnte -- verschwunden war. Die
damals durch den rotweißen Pfahl angedeutete Straße zog sich, vollständig
ausgebaut, mit Kanalisation und Gasleitung über den romantischen Platz
hin. Der Teich, in welchen der Stein der Abnahme hineingefallen war, war
ausgefüllt, und die Räder des Tages rollten leicht darüber weg. Die hohen,
dunkeln Bäume um das Wunderhaus des achtzehnten Säkulums waren
niedergehauen, die Blumen und Büsche ausgerissen; und mit den Bäumen,
Blumen, Büschen, springenden Wassern, singenden Vögeln und den
Schmetterlingen war auch das Wunderhaus verschwunden; -- wunderliche
Gebäude freilich waren zu beiden Seiten des macadamisierten Weges dafür in
die Höhe gewachsen, und es galt da wirklich, wie es jedermann überall vor
Augen hat, mit einer kleinen Abänderung das Wort aus dem Vorspiel zum
Faust:
in unsern deutschen _Gassen_
Probiert ein jeder, was er mag.
Welches denn vielleicht der passende Ort zu einer abermaligen mich selbst
betreffenden Abschweifung und Anmerkung wäre, oder zur Wiederholung einer
schon früher angedeuteten Frage, nämlich: Was gingen grade _mich_ alle
diese Leute an? --!
Ich hatte in meinem Leben mancherlei gesehen, erfahren, erlebt, -- hatte
das, was man geistige Kämpfe zu nennen pflegt, bestanden, und körperliche
gleichfalls. Ich hatte auch vielerlei probiert, hatte nicht einen
Felsblock, sondern manch ein rund Dutzend den Berg hinaufgewälzt und dem
sofortigen Wiederherunterrollen mit offenem Munde nachgestarrt. Gütiger
Himmel, ich schäme mich nicht, es zu sagen, ich hatte manche Träne
verschluckt und, ohne mich zu schämen, manchen Schweißtropfen vergossen und
manchen Seufzer hervorgestoßen: was gingen mich _diese_ Leute und diese
Verhältnisse an?
Ich hatte das Leben und den Tod in meinem Leben einander ablösen gesehen
und meine Schlüsse daraus gezogen wie irgendein theoretischer oder
praktischer Philosoph: wie kam es, daß ich an diesen Zuständen und
Menschen, die mir in den Weg geraten waren, wie Tausende mehr, ein so
tiefes, inniges und zugleich so schmerzhaftes Interesse nehmen mußte? Wie
geschah es, daß mich das Verschwinden des Gartens Mynheers van Kunemund
nicht nur ärgerte, sondern auch so ungemein melancholisch stimmte?
Die Antwort auf alle diese Fragen war leicht zu finden. Die Schicksale
dieser guten Menschen und Sachen schlugen sämtlich Töne in meiner Brust an,
die lange auf diesen Fingerdruck von außen gewartet hatten. _Mein_ Gefühl
und Bangen, _mein_ Unbehagen in der Zeit kam hier zum Anklang, und so ward
mir im Tiefsten tragisch das, was jedem andern im Werkeltage, wenn auch
vielleicht ein wenig betrüblich, so doch im ganzen recht gleichgültig und
nichtsbedeutend erscheinen mußte.
Mit Recht! denn welch ein Glück für die Menschheit ist's, daß sie es gar
nicht merkt, wie ihr die Zeit, die Jugend, das Glück, das Märchen, der
Zauber, die Schönheit, die Zucht und die Tugend (man gestatte mir die zwei
letzten verbrauchten Worte) unter den Händen weggleiten! Keines von alle
diesem würde eben noch vorhanden sein, wenn man sein Abblassen,
Einschrumpfen, Schwinden und Vergehen augenblicklich merkte und den
schlimmen Prozeß diagnostisch, die Hand am Pulse, begleiten könnte. Die
Menschheit würde es dann schon längst, längst aufgegeben haben, dem Tage
und dem Glücke zu trauen. Sie würde den eben erwähnten Entwickelungs-Fort-
und -Abgang merklich beschleunigt haben, -- sie würde einfach ein
beschleunigtes Verfahren der langsamen Hinquälerei vorgezogen haben. Die
Philosophen nennen das, was das große Tamtam schlägt, das _Ding an sich_
und haben sich unendlich gefreut, als sie das Wort gefunden hatten. Dieses
Ding an sich, insofern es durch jedes neugeborene Kind, oder vielmehr durch
jegliches Neugeborene sich darstellt, hat noch nie über den Tod
nachgedacht. Mit dem ersten Kinde, mit welchem das Wissen des Todes geboren
werden wird, ist die Stunde des Weltgerichts vorhanden, und die erste
Mücke, die sich mit Vergnügen von der Grasmücke fressen läßt, spricht das
Urteil, also -- horchen wir Alten doch noch ein wenig dem sonderbaren,
klangvollen Dröhnen in unsern Ohren! --
Ich hatte die neue Straße, über die traumhafte Erinnerung wegschreitend,
durchwandert, hatte die verschiedenen Stilarten der frischaufgeschossenen
Menschenunterschlupfe ästhetisch-kritisch begutachtet; und, das helle Leben
um mich, das Handbuch der Kunstgeschichte im Kopfe, überraschte es mich,
als ich mit einem Male vor dem Gitter des Kirchhofes stand, auf welchem man
den kleinen, muntern Bruder Autor Kunemunds begraben hatte. Den hatte man
noch nicht ausreuten können, den Kirchhof nämlich! Dreißig Jahre und länger
verlangt das respektiert zu werden! Es ist recht unangenehm; aber bis dato
hat man noch vergeblich sich den Kopf über die Frage zerbrochen, wie der
Verdruß abgestellt werden könne; -- die Lebenden haben es so eilig, und die
Toten wollen sich Zeit gönnen -- wahrhaftig, es wäre lächerlich, wenn es
nicht so sehr, sehr ärgerlich wäre! --
Ich stand vor dem schwarzen, eisernen Gitter, vor welchem auch die neue
Prachtstraße hatte Halt machen müssen, und ich blickte hinein und hin auf
die Büsche, Bäume und Blumen über den Gewölben und um die Grabhügel. Sie
lachten in der Abendsonne, und nicht ohne Grund. Im schönsten Grün lachte
der Garten der Toten über die verschwundenen Gärten der Lebendigen; er
allein hatte seine Blumen und Vögel und Schmetterlinge behalten, der Ort
der Verwesung! und -- ich wendete mich, schritt die neue Straße abermals
hinauf, und kaufte im nächsten Buchladen ein Adreßbuch der Stadt, werde es
aber den Lesern nicht deutlich zu machen suchen, wie ich gerade jetzt
_darauf_ kam.
In diesem Buche des Lebens blätternd und nach allerlei Namen suchend,
erreichte ich mein Wirtshaus wieder, bezog am folgenden Morgen eine
Privatwohnung und fand mich am Nachmittag zum zweitenmal am Bette des
verwundeten Steuermanns Schaake sitzend.
Er befand sich, den Umständen nach, ganz leidlich. Seine Schmerzen wußte er
zu verbeißen, und das Fieber trat nicht heftiger auf, als man erwarten
konnte. Meinem Besuche hatte er, wie sein alter Hafenkapitän, die schöne,
weiße Frau Muhme sagte, mit Sehnsucht und Ungeduld entgegengesehen; und nun
waren wir allein, und die Hand auf die Bettdecke des Kranken legend, sagte
ich:
»Ich habe mich gestern da und dort ein wenig umgeschaut. Das ist so eine
Gärtnerschnurre, die dann und wann gelingt, daß man einen Baum ausreißt,
ihn mit dem Gezweig in den Boden gräbt und seinen Spaß und seinen Ruhm
davon hat, wenn die Wurzeln wirklich anfangen, Blätter zu treiben. Man
nennt das den Gipfel der Kultur, lieber Freund, und ist sehr stolz darauf:
was für Früchte unsere Nachkommen aus dem Experiment zwischen die Zähne
bekommen werden, können wir freilich heute noch nicht bestimmen, bekümmert
uns übrigens auch durchaus nicht. Den Garten, den die kleine Gertrud
ererbte, habe ich vergeblich gesucht, aber wo das Fräulein jetzt wohnt,
hab' ich in Erfahrung gebracht; und nun, Freund, was ist es mit der
Gertrud? was ist aus der Gertrud Tofote, seit jenem Tage, an welchem Sie
den Stein der Abnahme aus dem Fenster warfen, geworden?«
Auf diese Frage richtete sich der Steuermann mit einem Ruck auf, der mich
bedauern ließ, sie an ihn gestellt zu haben, denn er biß die Zähne vor
Schmerz dabei aufeinander und hätte fast den Verband seiner Füße in
Unordnung gebracht.
»Unsere Gertrud?... O, ich habe gemeint, der Alte -- ich meine den Meister,
-- den Herrn Kunemund, habe Ihnen das schon gesagt!«
Ich schüttelte den Kopf.
»Nicht?... O, unserm Trudchen soll es sehr gut gehen.«
»Sie sagen das mit einem eigentümlichen Tone, lieber Freund. Weshalb wissen
Sie nicht mehr oder wollen, wie der Meister, nicht mehr von ihr sagen, als
was sich in ein kahles, mattes >Soll< legen läßt?«
Da faßte der Verwundete hastig meine Hand, zog mich näher zu sich heran und
flüsterte mir zu:
»Sie haben eben davon gesprochen! Ich hatte damals recht; aber es war
schon zu spät! Was half es mir, daß ich den Unglücksstein in der
Hinterlassenschaft des alten Sünders fand? Herrgott, was ist aller
Nebenwind auf See gegen den, welchen der Flutwechsel auf dem Lande bringt!
Das hat auch Gertrud erfahren! Aber es mußte so sein, denn wenn wir ihn
meilenweit weggetragen und ihn dann in hunderttausend Stücke zerschlagen
hätten, so würde es nichts geholfen haben. Das Unglück ist auf dem Platze
geblieben, hat das Wasser in dem Weiher vertrieben und die Bäume vergiftet!
Es war eben der Stein der Abnahme, und er allein ist schuld daran, daß die
arme Gertrud uns, mich und das alte, liebe Leben aufgegeben hat. Ach, Herr
von Schmidt, Sie, der Sie viel unter die Leute kommen, werden ihr gewiß
begegnen, und wenn Sie ihr begegnet sind, dann wollen wir -- ich und der
Meister Autor Sie fragen, wie es unserer Gertrud Tofote geht!«
Ich fragte heute nicht weiter nach der jungen Dame. Fürs erste wußte ich
genug und ging wieder ziemlich melancholisch und verstimmt nach Hause, bald
nachdem die weiße blauäugige Muhme hereingekommen war, um meinen Platz am
Schmerzenslager des Neffen einzunehmen. Doch, -- auf _eine_ Frage geriet
ich noch und erhielt auch Antwort darauf.
Der Unglücksstein mußte freilich gewirkt haben, und es war nur ein Glück,
daß jetzt die neue Straße auch über ihn hinwegführte, und er also auf
Nimmerwiedersehen begraben worden war und keinen weitern Schaden mehr
anrichten konnte. Ich bemerkte dergleichen, und der Kranke richtete sich
von neuem empor und rief kläglich in seinem Fieber:
»Wissen Sie das gewiß? Ich nicht!... Wer kann sagen, wer ihn aus dem Teiche
auffischte? wer weiß, wer ihn voller Vergnügen mit sich nach Hause nahm,
als das Wasser des Tümpels abgelassen worden war, und der Schlamm offen zum
Durchwühlen dalag? Man soll absonderliche Kuriositäten in dem Schlamme
gefunden haben; ach, Herr von Schmidt, und fragen Sie nur den Meister
Kunemund danach, der wird's Ihnen schon sagen, daß das Unglück sich nicht
so leicht verbraucht in der Welt. Was Schaden bringt und Unheil stiftet,
hat meist immer eine gute Gesundheit. O, es wird sicherlich jemand das Ding
wiedergefunden haben und dafür büßen müssen!«
»Wir wollen es nicht hoffen,« sagte ich, und dann tat ich meine letzte
Frage, als die Muhme Schaake bereits auf meinem Stuhle saß.
»Noch einer! Da war noch ein Erbstück des Mynheer; -- der Mohr, der -- wie
hieß er doch? der Signor Ceretto! Lebt er noch, und was ist aus ihm
geworden?«
»O der Nigger!« rief der Steuermann, und trotz allem Elend und Jammer ging
ein Lächeln über sein Gesicht. »Ei freilich lebt der noch und gottlob dazu
gesagt! Sie, unsre Gertrud schleppt ihn mit sich herum; er gehört zu ihrem
Haushalt, wenn er das vielleicht auch nur seiner Farbe zu danken hat.
Wissen Sie, lieber Herr, wenn Sie dem Fräulein begegnen, dann werden Sie
auch wohl den Nigger zu Gesichte kriegen, und, bitte, dann grüßen Sie ihn
recht schön von mir!«


Siebenzehntes Kapitel.

Es fehlen an der Leiter, die in den Brunnen hinunterreichen soll, immer
einige Sprossen, hatte mir einmal bei einer andern Gelegenheit der Meister
Autor gesagt; ich hatte es, das Wort, richtig befunden, es, wie man weiß,
dann und wann weiter gegeben, und es bewährte sich auch diesesmal. Ich
hatte den Alten kurz und bündig, wie es sich ihm gegenüber gehörte, von dem
Unglücksfall, der seinen Freund Karl Schaake betroffen hatte, in Kenntnis
gesetzt; wir erwarteten im Cyriacihofe seine eilige Ankunft mit jeglichem
Eisenbahnzug, er aber blieb aus. Wie sich's später auswies, war mein
Schreiben richtig angelangt, hatte den Alten jedoch nicht zu Hause
getroffen. Ein anderer Brief war vor dem meinigen gekommen, ein
absonderliches Dokument, das _die_ Alte in _ihrem_ Dorfe einem Schulkinde
in die Feder diktiert hatte. Darin stand denn zu lesen, daß es ihr, der
Alten, gottsjämmerlich jammervoll ergehe, daß sie, die es zu allen Zeiten
so gut mit dieser schlechten Welt im Sinne gehabt habe, jetzo von der
ganzen Bauerschaft als ein Scheuel und Greuel vor die Feldmark gesetzt
werden solle, und zwar mit Zurücklassung all ihrer Habseligkeit von wegen
aufgewendeter Gemeindekosten.
»Alle seind mir aufsässig,« schrieb das Schulkind. »Sie verschimpfieren
mir, wie man es keinem Hund und keiner Katze bietet. Sie hohnnecken mir bei
Tag und Nächten, daß ich mich von Tage tun möchte, jedwedes Mal, daß mir
die Sonne aufgeht. Sie zerren mich herum, jung und alt, wie eine tote Katze
in der Gosse; sie betitulieren mich, wo ich mir sehen lasse, daß es eine
Schande ist, und die, die es am wenigsten leiden sollten, sind die Ärgsten.
Der Vorsteher sagt, das sei, weil ich es mit allen verdorben habe, aber,
Kunemund, er lügt in seinen Balg hinein, und das will ich ihm dermaleinst
vor Gottes Thron in das Gesicht sagen, und Er, Meister Kunemund, soll es
mir bezeugen, denn Er kennt mich! Lieber Gott, wenn du mich nur hinnehmen
wolltest, das ist mein einzigstes Gebet, wenn sie mir wieder vor die Tür
hofiert und in den Kaffeekessel -- haben. Es ist nicht zum Aushalten,
Meister Autor, und dazu einen so alt -- so alt werden zu lassen, das ist
Unrecht, und das will ich auch dermaleinst vertreten, der liebe Herrgott
mag's mir verzeihen. Du lieber Himmel, wenn ich an den Arend jetzt denke
und an Sie, Herr Kunemund, und an die Gertrud und die Hunde und das übrige
Vieh und das ganze gute alte Leben, so könnte ich mir mein Hemde in meinen
Tränen waschen; denn so ist es, und so gut wird es mir niemals wieder. Aus
tiefer Not schrei ich zu dir, steht im Gesangbuch, und welche Nummer der
Pastor alle Sonntage auch singen lassen mag, was mich anbetrifft, so höre
und singe ich nur das eine, wie sich auch der Kantor vor der Orgel die
Seele herausdrücken und Hände und Füße abdrücken mag mit Wie viele Freuden
dank ich dir, oder Dir Gott, dir will ich fröhlich singen, oder Mein Herz,
ermuntre dich zum Preise, oder Wie groß ist des Allmächtigen Güte, ist der
ein Mensch, den sie nicht rührt? Nein, liebster Herr Kunemund, ich bin kein
Mensch mehr, o, und wenn ich es ihnen nur geben könnte, wie sie es mir
gegeben haben und tagtäglich geben, so sollte sich die Landesbrandkasse
wirklich darüber verwundern, und damit, Kunemund, wende ich mich in meinen
höchsten Nöten an Ihn« -- usw....
Auf diesen Brief hin hatte sich der Meister Autor natürlich sofort auf die
Socken gemacht und die Wanderschaft zu der »Alten« angetreten; mein
Schreiben aber lag beim Vorsteher, und da es zufällig unter seine sonstigen
Papiere und Schreibereien geriet, so wurde es auch, als der Meister Autor
mit der Alten zurückgekommen war, keineswegs sofort an ihn ausgeliefert; --
den Brief der Alten an den Meister bewahre ich als ein kostbares Kleinod
unter meinen Papieren. »Mit meinen fröhlichen Redensarten, die sich an den
Spaß knüpfen, will ich Ihnen lieber nicht aufwarten,« sagte Herr Kunemund,
als ich ihm das Dokument glücklich abgeschmeichelt hatte; und nun will ich
weiter erzählen. --
»Ich habe schon einmal die Ehre gehabt, Ihnen zu begegnen, mein gnädiges
Fräulein,« sprach ich mit einer tiefen Verbeugung zu der glanzvollen
Erscheinung, der mich mein Freund, der Hofrat (wie in einer alten, alten
Komödie) zuführte und vorstellte.
Die großen Augen erhoben sich verwundert fragend, und das Kind aus dem
Musterforst, die so sehr stattlich gewordene Elfe lächelte:
»Wirklich? O aber es wäre mir sehr interessant, zu erfahren Wo und Wie. Ich
bitte --«
Und sie machte mir Platz neben sich auf dem Divan und lud mich mit der
zierlichsten Fächerbewegung ein, mich zu setzen, was ich mit Vergnügen tat,
während der Herr Hofrat sich im Kreise der Gesellschaft verlor, und uns,
wie es schien auch nicht ungern, uns selber überließ.
»Wir taten einst einen wunderlich verhängnisvollen Gang zusammen, mein
Fräulein,« sagte ich. »Ein guter Bekannter von uns beiden hatte mich dazu
eingeladen und abgeholt, und so ging ich mit als Chorus tief in das Märchen
hinein und sah das zuckerige Haus mitten im Zaubergarten. Ich hatte
eigentlich nicht recht daran glauben wollen, aber ich überzeugte mich, daß
alles so vorhanden war, wie die Geschichte und die Geschichten es uns
berichten. Nichts fehlte! weder die Wände aus Honigkuchen, noch das Dach
aus Eierkuchen, noch die Fensterscheiben aus Bonbontafeln. Und nun bin ich
wieder über den Platz geschritten und habe leider gefunden, daß der Wind --
der Wind, das himmlische Kind, sein Spiel während der letzten Jahre ein
wenig arg getrieben hat; die Heerstraße führt mitten durch den Märchenwald,
mein Fräulein, die Dekorationen haben sich merkwürdig verschoben, und wir
alle haben mit daran rücken müssen.«
Das schöne Mädchen sah mich betroffen an und drückte den zusammengelegten
Fächer an den Mund; dann aber faßte sie sich schnell genug und rief:
»Mein Gott ja, das ist ja aber auch wahr! Sie waren in der Tat dabei
zugegen, als mir des Onkels Erbschaft übergeben wurde! Das waren freilich
sonderbare Zustände, an die Sie mich da erinnern! Der Onkel Kunemund hatte
mich in jenem schrecklichen Gasthause abgesetzt, um Sie zu seinem eigenen
Troste herbeizuschaffen; und dann gingen Sie mit uns zu dem verwilderten
Garten und dem unheimlichen alten Hause. Ei ja, ja, nicht wahr, das alles
hat sich seltsam verändert? Dekorationen und Akteure sind andere geworden,
und unter den letztern hab' auch ich mein Kostüm gewechselt; -- finden Sie
nicht?«
»Gewiß!« sagte ich, verbindlich mich neigend und überzeugte mich
verstohlen von neuem, daß der Meister Autor vollkommen genau gesehen hatte,
wenn oder als er das Nämliche gefunden hatte. Dann fuhr ich fort: »Ich war
längere Jahre abwesend von dieser Stadt und habe meinerseits gleichfalls
die Bilder im Guckkasten in bunter Folge wechseln gesehen. Überall
verschiebt die Welt sich, mein teures Fräulein, und sonderbarerweise
meistens ohne daß wir es bemerken; das Buch Hiob hat heute in dieser
Beziehung in demselben Grade recht wie zur Zeit seiner Abfassung. Wie in
den Tagen des Mannes von Uz geht der Herr vorbei, ohne daß wir es gewahr
werden; aber manchem alten guten Bekannten bin ich seit meiner Rückkehr
doch wieder nahe gekommen. Haben Sie in der letzten Zeit Nachrichten von
unserm Freunde, dem Herrn Kunemund erhalten?«
»Nei--n, mein Herr,« sagte das Fräulein, und ich beobachtete dabei leider
auch ein etwas mißmutiges Emporziehen der feinen runden Schultern, ließ
mich jedoch selbstverständlich nicht dadurch irr machen, sondern fuhr
heiter fort:
»Dann habe ich einigen Anspruch auf ihre Dankbarkeit, indem ich Ihnen die
neuesten mitteilen kann. Es geht dem braven Alten recht wohl; er führt sein
Schnitzmesser so rüstig und kunstfertig wie vor Jahren und hat auch seine
übrigen Künste in Wald, Garten und Feld durchaus noch nicht verlernt. Ich
hatte die Ehre, ihn neulich auf dem Wege zu treffen, und er lud mich
freundlich ein, ihn in seiner jetzigen Häuslichkeit zu besuchen. Zwei sehr
angenehme Stunden habe ich in seiner Gesellschaft hingebracht; leider war
es nur ein sehr unglücklicher Zufall, der mich mit ihm von neuem
zusammenführte, nämlich jenes Eisenbahnunglück, das mich nur einen kurzen
Augenblick auf der Reise aufhielt, das aber einem andern, jüngern guten
Bekannten, ich meine den armen Steuermann, Herrn Karl Schaake, so teuer zu
stehen kam --«
Jetzt fuhr die junge Dame im Ernst zusammen, wurde erst sehr bleich, dann
sehr rot und rief:
»Mein Herr?«
»Ja, mein liebes Fräulein, auch ihn habe ich bereits einige Male besucht.
Er leidet große Schmerzen, trägt sie mit leidlichem Humor und macht seine
Umgebung um so trostloser, je vergnügter er sich stellt. Die Ärzte und
Chirurgen sind noch immer nicht sicher, ob sie ihm seine unglückseligen
Füße lassen dürfen oder nicht.«
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