Meister Autor; oder, die Geschichten vom versunkenen Garten - 05

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greisen Freunde jetzt ebenfalls noch; ich half ihm höflich, und wir gingen
dem Dorfe zu, ohne auf dem Wege noch ein Weiteres miteinander zu reden. --
Im Dorfe herrschte noch immer eine gewisse, ganz kuriose großstädtische
Bewegung. Wie ein Schwarm Stare in ein Röhricht fällt, so hatte sich das
sozusagen allgemein europäische Publikum von dem aufgehaltenen Schnellzuge
auf das erstaunte winzige Gemeinwesen niedergeschlagen, und allerlei Volk,
das durchaus nicht dahin gehörte, erfüllte die Gasse. Die Dorfleute sahen
mit den allergrößesten Augen in das so plötzlich über sie hereingebrochene
Wesen und Treiben hinein, und die höflicheren Bauern und Bäuerinnen hatten
auch wohl schon einige Stühle und Bänke für die unvermuteten Gäste in den
Schatten ihrer Gras- und Baumgärten hinausgeschafft und den Besuch zum
Hinsetzen eingeladen. Über die Schenke, den Dorfkrug, hatte sich ein bunter
Haufen ohne Unterschied des Standes und der Wagenklasse hingestürzt, um
das vorhandene Getränk zu vertilgen und über es und die armselige Kneipe
herzhaft und unglimpflich loszuziehen. Es war eine närrische Bewegung, und
als wir hineintraten, machte auch der Meister Kunemund große Augen; aber
nicht lange.
Der Meister führte mich, nachdem er sich vergewissert hatte, wie die Sachen
standen, ohne weiter nach rechts und links zu sehen, die Dorfgasse entlang.
Und so kamen wir denn, ohne aufgehalten zu werden, zu seiner Wohnung am
entgegengesetzten Ende der Gemeinde, einer ärmlichen Hütte, zu der man über
einen Steg, der über ein mit saftigem Grün bewachsenes, fußbreit
hinrieselndes Wässerchen führte, gelangte. Eine armselige Hütte, doch von
Bäumen und Hecken umgeben, also zu dieser Jahreszeit gar nicht übel in die
Welt hineingebaut, ja ganz behaglich und idyllisch in dieselbe hingelegt.
--
»Da lebe ich denn wieder und bin zurückgekommen dahin, woher ich kam,«
sagte Herr Kunemund. »Da hinter dem Fenster stand meines Vaters Webstuhl;
die Bank hier vor dem Fenster hat er noch meiner Mutter aus Feldsteinen
aufgeschichtet. Da sind wir beide geboren, ich und mein kleiner Bruder; daß
der Tofote, der Arend, drin sterben mußte, ist viel merkwürdiger, als daß
ich darin meine letzte Stunde in Geduld abzuwarten habe. Was sagen Sie,
Herr? Vorhin hatten Sie große Lust, mich einen armen Tropf und Teufel zu
nennen. Haben Sie noch Lust dazu? Nicht wahr, ich habe mein Maß doch noch
um vieles besser als viele Leute auf der Erde zugemessen erhalten? Es
stirbt nicht jeder in seinem Vaterhause.«
»Was das anbetrifft, so haben Sie es freilich gar nicht so übel getroffen!«
erwiderte ich, mit vollstem, innigstem Ernste auf den Ton des Greises
eingehend. Er aber nickte wieder, und diesmal nickte er ganz behaglich
dazu. Nachher lud er mich durch eine, fast zierlich zu nennende
Handbewegung ein, den ausgetretenen Steg mit dem vermorschten Astloch in
der Mitten, und die Schwelle seines Hauses zu überschreiten. Er ging mir
voran, ihm folgte der alte Dachs, und dem Dachs folgte ich, und jetzt, in
diesem Moment, senkten sich mir die Gegensätze des am heutigen Tage
Erlebten von neuem scharf in die Seele.
Auf die lange heiße schnelle Fahrt durch das neunzehnte Jahrhundert der
unvermutete Stillestand und der jähe Schrecken! Mitten im wirbelndsten
Leben die aufdringliche Kunde von den Trümmern und dem Tode da vorn auf
der anscheinend so glatten Bahn! Dann die stillen, erstaunten Minuten in
der Einsamkeit des Feldes, am duftig-begrünten Hang des Hohlweges -- die
weite Aussicht in die lachende, beweglich-unbewegte Ferne! Und nun?
Nun das -- _das_, was immer bei allem Getümmel und Getöse der armen Welt
doch zur Seite -- da hinter dem Hügelzug -- hinter dem Walde, hinter der
Mauer des kleinen Gartens -- hinter den Fenstern des Hauses, an welchem wir
vorüber fliegen -- -- hinter dem Gewühl in der eigenen Brust sich weiter,
weiter spinnt, immerfort sich weiter spinnt: das große, offenkundige
Geheimnis! Ja das, was Hunderttausende von Meilen ferne von uns liegt, und
in welches uns doch ein Schritt hineinführt! das Aller-Welt-Weisheit-Volle
-- das, was hinter allen Dingen liegt, die uns im Augenblick größer als es
dünken, meine Herrschaften: die Stille des Vegetierens, die Stille des
Urgrundes -- der ungekräuselte, dunkele, schrecklich-schöne Spiegel, durch
den aller Aufruhr in uns, meine Herren und Damen, und außer uns, meine
Herren und Damen, doch nur wie Bild an Bild nichtsbedeutender Zufälligkeit
fließt! -- --
Ich nahm den Hut ab auf dieser Schwelle; denn der Meister Autor hatte mich
gewarnt: »Stoßen Sie sich nicht an den Kopf!«, und nur selten war die rege,
durcheinanderwimmelnde Welt, soweit sie mich anging, so ganz und vollkommen
zu Nichts geworden, hinter mir versunken, wie jetzt bei diesem Eintritt in
das Haus des Meisters Autor Kunemund.


Dreizehntes Kapitel.

Wir standen beide gebückt unter der niedern Stubendecke.
»Nehmen Sie es nur nicht übel,« sagt mein Führer, »mein Vater und meine
Mutter waren alle zwei kleines Volk, und auch mein kleiner Bruder ist da
nicht aus der Art geschlagen: ich wollte nur, Sie hätten ihn persönlich
kennen gelernt. Was mich anbetrifft, so habe ich freilich in dem alten Nest
so eine Art von Kuckuck ausgemacht.«
Selten hatte ein Vergleich äußerlich so wohl und innerlich so schlecht
gepaßt. Ich äußerte derartiges, und Herr Kunemund fragte lächelnd:
»Meinen Sie?« und fügte hinzu: »aber sie nannten mich in meiner Kinderzeit
im Dorfe stets den Kuckuck, und als ich neulich heimkam, hat's mich fast
verwundert, daß sie mich nicht durchgängig noch so riefen. Da sieht man
aber, wie man aus der Menschheit herauswächst und alt wird, -- das erstemal
als mich ein zahnlos Weibchen ansprach, wie es sich gehörte, ist's mir
ordentlich warm über die Leber gelaufen; aber kein halb Dutzend reicht noch
zu mir hin und hinunter und spricht mich an: Na, Kuckuck, wie geht es
denn?!«
»Wie Sie sagten, hat auch der Herr Förster Tofote hier bei Ihnen gewohnt?!«
»Richtig, und das war im Grunde ebenso wunderbar denn der Arend, sehen Sie,
maß auch gut seine sechs Fuß drei Zoll, wenn nicht mehr, und hat sich also
gleicherweise hier zwischen den Wänden, unter den Balken und auf der Bank
arg zusammenklappen müssen. Er hat mit mehr als einer Brausche an der
Glatze und an der Stirn in die Grube fahren müssen, wenn das auch wenig
sagen wollte, da er sein Lebtag durch dran gewöhnt war, mit der Stirn
anzurennen. Sehen Sie, da das Stück weichen Tannenholzes von der
Türverschalung hat er mir auch abgestoßen mit seinem Dickkopf, und ist mir
das gleichfalls als ein Andenken an ihn zurückgeblieben. Zuletzt wurd's ihm
zu viel, und er hielt sich am liebsten draußen auf der Bank auf, und jetzt
liegt er draußen, und mit dem Anrennen, den Beulen und Hautschrunden hat's
für ihn keine Not mehr.«
Es gab mancherlei Andenken in der schlechten Hütte, und nicht bloß solche,
welche den braven Förster Arend Tofote seinen guten Bekannten in das
Gedächtnis zurückriefen.
»In solch einem Dorfe hält manches, was sich in der Stadt schnell im
Durcheinander und Gebrauch verliert, bis in alle Ewigkeit,« sagte der
Meister Autor. »Daß ich aber noch in einem Winkel auf meiner Mutter
Spinnrad gestoßen bin, das war mir freilich schier und klar außer dem
Gaudium ein Mirakel. Ich traute meinen Augen nicht, als ich es beim
Vorsteher in der Mägdestube fand, und ich schätze es als eine Noblesse von
dem Vorsteher, daß er es mir abließ, und mir nicht über seinen gewöhnlichen
Wert seine Forderung machte. Ich hätte ihm die Haut vom halben Leibe dafür
abgelassen, dem Vorsteher: denn -- wisset Ihr, Herr, ich kann auch spinnen
und spinne jetzt die Abende durch und den ganzen Winter. Wenn man solche
dumme Augen hat, wie ich, so geben sich die Künste, die man treibt, eben
von selber. Im Strumpfstricken und Flicken nehme ich es mit jedermann und
den besten Hausfrauen auf. Seit unser Trudchen uns abhanden kam, wüßte ich
auch keinen, der mir aus Liebe, Güte oder Gefälligkeit dieses Geschäfte
abnehmen sollte.«
Es konnte nicht meine Sache sein, den Greis jetzt schon bei »unserm«
Trudchen festzuhalten. Ich hielt es für besser, ihn ganz von selber dahin
kommen zu lassen, wo ich ihn so gern gehabt hätte. Fürs erste schlug er
noch einen Hasenwinkel.
»Des Vogels erinnern Sie sich wohl nicht mehr? haben ihn wohl gar nicht
einmal beachtet, wenn Sie uns die Ehre schenkten? Stieglitze gibt's genug
in der Welt; aber ein klügerer ist seinerzeit noch nicht den Alten aus dem
Neste gefallen. Damals hüpfte und sang er; jetzo sitzt er still in seinem
alten Bauer -- nämlich ausgestopft. Und, lieber Herr, der Kerl ärgert mich
dann und wann am stillen Abend, wenn ich mit ihm, mir und dem Dachs so
allein sitze. -- Es wäre besser gewesen, wir hätten ihm nach seinem
Abscheiden ein Kinderbegräbnis gemacht und ihn ruhig in ein Loch im Garten
gesteckt, der Arend und ich! Ich persönlich bin auch nicht auf die dumme
Ausstopferei gekommen; ich traf den Tofote schon eifrig und grimmig
darüber, als ich eines Abends nach Hause kam. Gertrude war schon in der
Stadt, und wir konnten sie also nicht um ihre Meinung fragen. Sie hatte ihn
uns zurückgelassen; denn sie machte sich nichts mehr daraus.«
Jetzt noch weniger hätte ich den Alten bei dem zierlichen Namen
festgehalten!
»Ei seht aber, Meister Autor,« sagte ich, um den seltsamen Blick desselben
von dem ausgestopften Tierchen abzuwenden, »Sie haben da ja ein ganzes
Museum -- ein vollständiges ethnologisches Museum!... und welche
prachtvollen Muscheln, welche ausgezeichneten Korallen! Je genauer man
zusieht, desto größere Schätze entdeckt man bei Euch. Sind Sie heimlich
etwa auch während meiner Abwesenheit zur See gewesen? haben Sie auch wie
Ihr Bruder die Tropenländer mit dem Kuriositätensack auf dem Rücken
durchwandert?«
»Dieses gerade nicht, -- o nein, im Gegenteil,« sagte der Alte ehrlich auf
meinen Scherz. »Ich weiß eigentlich auch nicht, was Karl sich dabei denkt.
Ich habe zwar mein großes Vergnügen daran, und das wird es wohl sein, was
ihn antreibt! Er kommt nie von Reisen heim, ohne mir dergleichen
Schnurrpfeiferei mitzubringen. Der Junge sitzt noch immer gern bei mir.«
»Karl? Welcher Karl?«
»Nun, erinnern Sie sich denn nicht? der Karl Schaake! der Leichtfittich und
Leichtmatrose, der damals aus der Stadt Lübeck mit uns ging, als ich Sie
abgeholt hatte, um uns zu helfen, die große Erbschaft meines ausländischen
Bruders in Besitz zu nehmen! Nicht wahr, jetzt fällt es Ihnen ein? Und
wissen Sie, der Junge fährt noch immer auf der See; aber jetzo als
Steuermann. Keine Völkerschaft ist ihm zu schwarz! und bis dato ist er auch
immer noch ganz gut und ungebraten davongekommen und mit seinem Geschäft
zufrieden. Wie gesagt, was für ein Gefallen er gerade an mir findet, außer
daß wir aus einem Dorfe sind, und die Base aus dem Cyriacihofe mit uns,
kann ich nicht sagen; ich zerbreche mir aber auch gar nicht den Kopf
darüber, denn die meisten Leute, auf die ich im Leben stieß, sind so
gewesen. In der Hinsicht habe ich mich nicht zu beklagen.«
»Das heißt: auch Euch, Meister, ist nie eine Völkerschaft zu schwarz
gewesen!« sagte ich lächelnd; aber des frühern Leichtmatrosen und jetzigen
Steuermanns Karl Schaake entsann ich mich nunmehr ganz deutlich und zwar
mit dem Gefühl der Beschämung und des Ärgers, welches man immer hat, wenn
man wieder einmal findet, daß man seinem Gedächtnis zuviel trauete.
Unbeschadet eines gegen das Ende des zehnten Abschnittes
niedergeschriebenen Wortes war mir der Seefahrer -- in dieser Stunde
wenigstens -- ganz und gar aus der Erinnerung abhanden gekommen.
»Der Stein der Abnahme!« rief ich. »Karl Schaake! Richtig, -- der
Hadschi-Schiffsmann, der den heidnischen Unglücksstein aus dem Fenster
Mynheers van Kunemund warf. Also der lebt auch noch und hat seinen Beruf
wacker festgehalten.«
»Ja freilich,« sagte der Alte melancholisch. »Was das mit dem Unglücksstein
ist, weiß ich zwar nicht, denn das habt ihr beiden damals unter euch allein
ausgemacht; aber die Fische und die Wilden haben ihn bis jetzt gottlob noch
nicht gefressen. Daß es dem armen Jungen aber besser hätte ergehen können
und ohne meinen kleinen Bruder auch ergangen wäre, das steht gleicherweise
fest. Der Teufel hole die ganze Geschichte!«
Ein Geheimnis lag hier gerade nicht vor. Wer sich offenen Auges durch diese
Welt drängt, der lernt es bald, sich in den Verhältnissen zurechtzufinden;
das Leben liegt vor ihm wie ein Rätsel in einem -- Kinderbilderbuche, unter
dem die Auflösung in umgekehrter Schrift gedruckt steht. Stellt nur euch
nicht auf den Kopf, sondern das alte abgegriffene Rätselbuch, und ihr
werdet bald heraus haben, was es mit den Geheimnissen auf sich hat.
Es war in diesem Falle eben wohl möglich, daß der tückische Zauberstein,
der in dem Gartenteiche versank, schon zu lange für die Erben unter den
Raritäten Mynheers van Kunemund gelegen hatte. In diesen Dingen verstehen
Mutter Natur und Muhme Schicksal keinen Spaß, und also trat ich so dicht an
den Meister Autor heran und sagte leise:
»Jetzt, Herr Kunemund, sagen Sie es mir, was aus Ihrem schönen, süßen
Pflegekind, aus der kleinen hübschen Gertrud geworden ist! Ich bin mit
Ihnen gegangen und habe mir von Ihnen alles vorweisen lassen, bunte
Muscheln, Korallen, den Kolibri, das Seepferd, kurz was Sie wollten; aber
jetzt lassen Sie mich auch hier klar sehen. Daß das Dasein schwer und
mühevoll auf Ihnen liegt, habe ich vom ersten Augenblick unserer Begegnung
gemerkt; daß ich nicht aus kühler, kalter Neugierde frage, meine ich, wißt
Ihr, alter Freund! Also bitte, Mann, teilt mir mit, weshalb Ihr Euch hier
in der Einsamkeit auf den Maulwurf- und Grillen-Fang, auf das
Strumpfstricken und Hanfspinnen gelegt habt! Meister Autor, Sie sind es
unserer alten Vertraulichkeit schuldig, daß Sie mir sagen, weshalb der
Förster nicht in seinem Försterhause, nicht bei seiner Tochter, sondern
unter diesem Dache gestorben, weshalb die Alte zu ihrer Vetterschaft
gezogen ist, und -- und, -- und wie es der Gertrud Tofote geht!«
»Das sind viele Fragen auf einmal, lieber Herr Bergmeister!«
»Und doch nur eine.«
»Jawohl! Im Grunde haben Sie da recht, und so will ich sie Ihnen denn auch
beantworten. Es ist alles mit rechten Dingen zugegangen. Niemandem ist
etwas Absonderliches passiert. Mir nicht! dem Arend nicht! der Alten nicht,
und unserem armen Trudchen nicht! Wir sind auseinander gekommen, ohne daß
wir es gemerkt haben; das heißt, wir waren einmal eines Tages auseinander
und merkten es dann erst. Haben Sie je Leute gekannt, denen es in der Welt
anders ergangen ist? Ich meine, die auf eine andere Art auseinander
kamen?!«
»Unter guten und klugen Freunden ist das freilich die gewöhnliche Weise,«
erwiderte ich nach einigem Nachdenken.


Vierzehntes Kapitel.

Das Hindernis war aus dem Wege geräumt, die Bahn wieder frei. Ich lehnte
mit dem letzten schwerwichtigen Worte meines alten Freundes wieder in
meiner Wagenecke, und hatte Zeit, darüber nachzusinnen.
Das letzte Wort war es eigentlich nicht gewesen, denn wir hatten nach ihm
noch manch ein anderes durch eine gute Stunde geplaudert. Das allerletzte
Wort an diesem Tage, zwischen mir und dem Meister Autor Kunemund, war
gewesen:
»Besuchen Sie doch ja das Trudchen in der Stadt; sie wird sich sehr freuen,
und Sie werden ganz gewiß auch Ihr Gefallen an ihr finden. Nehmen Sie es
mir nicht übel, lieber Herr; aber da ich Sie als einen ganz studierten,
klugen und geschickten Menschen kennen gelernt habe, so weiß ich auch ganz
sicher, daß Sie das, was eben der Welt Lauf in diesen jetzigen jungen Tagen
ist, besser verstehen als ich. Dummes, ungewaschenes Zeug möchte ich Ihnen
nicht aufreden; also -- leben Sie recht wohl: wir treffen einander
gewißlich noch einmal wieder; -- und, lieber Herr, vergessen Sie es ja
nicht, grüßen Sie mein Trudchen recht schön und eindringlich von mir!«
Und die Bahn war frei. Wir schnoben an der Unglücksstelle vorüber und sahen
auf der Station den Schuppen, in welchem die zwei blutigen Leichen auf dem
blutigen Stroh lagen. Wir rasselten weiter durch den holden Abend, und
jetzt schon war für alle, die sich auf dem Zuge befanden, das traurige
Ereignis zu einer überwundenen Verdrießlichkeit geworden, zu einem Thema,
über das sich schon jetzt angenehm reden und behaglich lügen ließ. Ich ließ
_das_ also schwatzen und renommieren und saß, in _meinem_ Verdruß immer
noch festgehalten, melancholisch in meiner Ecke, sah die grüne Landschaft
hingleiten und bewegte mein eigenes Privaterlebnis, nachdenklich es hin und
herwendend, im Geist. Daß ich etwas Klügeres hätte tun können, war gewiß;
möglich war's mir aber eben doch nicht.
»Was auch mit dieser hübschen Gertrud Tofote vorgegangen sein mag,« sagte
ich mir, »und wie auch der Alte vor uns unberufenen Alltagsmenschen sich
anstellen mag, seinen Beruf hält er fest! Er tut nur so, der getreue
Knecht Eckart, als ob die Welt nicht mehr auf ihn zu rechnen habe. Sieh,
nach seiner Schnitzbank habe ich ihn gar nicht einmal gefragt; -- zum
Teufel auch, wer weiß, in welchen dunkeln Winkel er sie für den Augenblick
geschoben hat? Und das alte Erbmesser gibt er nicht her, da kenne ich ihn;
aber auf das Fräulein und ihren Zaubergarten bin ich doch neugierig. Eine
Visitenkarte werde ich jedenfalls dort abgeben.«
So kam ich denn im Verlaufe des Sommerabends und nach dem Verlauf der Jahre
der Abwesenheit wieder an in der Heimat, fand meinen Weg ins Hotel und ins
Bett und las am andern Morgen beim Frühstück in der Zeitung ausführlich,
und mit allen Einzelheiten beschrieben, was ich selber mit erlebt hatte,
ohne doch dabei zugegen gewesen zu sein. Und es ward mir, als ob plötzlich
jemand sich mir über die Schulter beuge und mit unsichtbarem Finger auf das
interessanteste Wort in dem langen Berichte deute.
»Es ist nicht möglich!« rief ich.
»Doch wohl!« sagte das Ding hinter mir. »Wir machen das häufig so.«
Der entgleiste Zug hatte mehr Opfer gefordert, als wir, die wir ihm
nachfuhren, zuerst erfahren hatten. Eine lange Reihe entsetzlicher
Verwundungen war vorgefallen; Verstümmelungen waren geschehen, in Hinsicht
auf welche die beiden ruhigen Toten leicht davon gekommen waren. Und in der
traurigen Liste der Beschädigten wurde ein Mann aufgeführt, der im Verlauf
meines Gesprächs mit dem Meister Autor Kunemund mehrfach genannt worden
war:
Steuermann Karl Schaake -- beide Füße doppelt gebrochen!
Ich legte das Blatt leise auf den Tisch, und ging eine Viertelstunde lang
im Zimmer auf und ab. Grade so lange Zeit dauerte es, ehe ich mit mir im
reinen darüber war, ob ich mich wirklich noch weiter (meine eigenen
Angelegenheiten im Auge behalten) auf diese unbehaglichen, ungemütlichen
Angelegenheiten fremder Leute einzulassen habe, und was zu tun und zu
lassen sei, im Falle die Antwort bejahend ausfalle.
Nach einer Viertelstunde war ich im reinen, das heißt, ich hatte Hut und
Stock ergriffen und befand mich auf dem Wege zur Eisenbahndirektion.
»Der Alte liest sicherlich keine Zeitung,« sagte ich mir. »Der Seefahrer
wird ihm ebenso sicher keine Nachricht über sein Befinden schriftlich
geben, sondern sie ihm lieber persönlich, auf seine zwei Krücken gestützt,
bringen. Es ist meine Pflicht, mich genauer nach den Umständen zu
erkundigen; -- dummes Zeug -- Pflicht! es ist etwas anderes, und der Herr
Forstsekretär von Müller, der uns damals den Vergnügungsstreifzug in den
Elm so vergnüglich vorzuspiegeln wußte und uns richtig in seinen
Musterforst hineinlockte, ist schuld daran, -- meines Vaters Sohn, wie der
Meister Autor sagen würde, wahrhaftig nicht!« --
Die »betreffende Behörde« war ungemein höflich und zu jeglicher Auskunft
gern bereit. Die Bahnverwaltung traf nicht die mindeste Schuld an dem
beklagenswerten Ereignis. Übrigens befand sich bereits alles wieder in der
trefflichsten, wünschenswertesten Ordnung und für sämtliche Beteiligte und
leider auch Benachteiligte war in komfortabelster Weise Sorge getragen. Die
Toten waren natürlich an Ort und Stelle geblieben, ebenso die meisten der
schwerer Verwundeten. Nur zwei oder drei der letztern hatten es vorgezogen,
mit den leichter Beschädigten nach der Stadt transportiert zu werden, und
sie waren natürlich nach ihrem Willen mit einem Extrazuge hin befördert
worden. Zu beklagen hatte die maßgebende Stelle sich eigentlich nur über
ein Individuum; aber über dieses auch sehr! Ein unglücklicherweise auch
körperlich verletzter Seemann war sehr ungebärdig gewesen und hatte sich
sogar, wie man nicht anders sagen konnte, unverschämt betragen, obgleich
man ihm wie allen übrigen mit der höchsten Menschenliebe, Opferfreudigkeit
usw. entgegengekommen war. Er war der einzige gewesen, sagte man mir, der
sich trotz seinem beklagenswerten Zustande der gröblichsten Schimpferei
nicht habe enthalten können. Auch er befand sich am hiesigen Orte. Man habe
-- teilte man mir mit -- ihn so vorsichtig als möglich, unter chirurgischer
Begleitung an die von ihm angegebene Adresse abgeliefert, und da liege er,
erwarte seine Heilung und werde wahrscheinlicherweise von dort aus auch
seine Entschädigungsklage gegen die Bahnverwaltung einleiten.
Ich nahm alle diese Erklärungen des höflichen Beamten ebenso freundlich
hin, wie sie mir gegeben wurden, und bat nur auch noch um nähere Angabe
jener Adresse des eben, das heißt zuletzt erwähnten unangenehmen Gesellen
und unhöflichen Matrosen. Ich erhielt dieselbige in etwas kühlerer und
formellerer Weise als die früheren Referenzen und ging mit ihr, nachdem
ein Unterbeamter sie selber erst wieder mit einiger Mühe in Erfahrung
gebracht hatte. Am Nachmittag machte ich mich von neuem auf den Weg und
fand richtig meinen guten Bekannten aus der Erbschaft Mynheers van Kunemund
wieder; nur leider in den betrübtesten Zuständen.
Die alte Stadt besitzt innerhalb der Umflutungsgräben ihrer jetzt zu recht
anmutigen Spaziergängen eingerichteten Wälle und Bastionen mancherlei
kuriose Winkel, dunkle Sackgassen, finstere Höfe und Torbogen; und das
Mittelalter schielt einen hier grimmig, dort drollig, doch immer überquer
aus mancher Ecke, von manchem Gesims, Balkenkopf, Giebel und Erker an.
Holzstecher- und Steinmetzarbeit der Vorväter hat den neuern Jahrhunderten,
d. h. den geschmackvollen Leuten drin, gar nicht gefallen, aber sich um so
tapferer gegen Axt, Spitzhaue, Hammer, Maurerkelle und Tüncherpinsel
gewehrt. Wer da als Liebhaber oder Kenner auf die Suche geht, kann noch
allerlei finden. Was besonders jene, eben erwähnten, in die Häusermassen
eingekeilten Höfe anbetrifft, so ist das in Wahrheit ein schier noch
unaufgeschlossenes Reich der Wunder für den Kenner und Liebhaber.
In überraschender Weise sollte ich das an dem heutigen Tage von neuem
erfahren. Ich glaubte, die Splanchnologie der Stadt bis in die feinsten
Verästelungen studiert zu haben, und ich fand, wie so häufig, daß ich mich
wieder einmal gründlich geirrt hatte. Innerhalb einer der hundert
eingeweideartig ineinandergeschlungenen und gewundenen Gassen der Stadt
fand ich mich vor einem schwarzen, verwitterten und weiter verwitternden
Torbogen, der bis dahin für mich durchaus noch nicht dagewesen war, und den
ich also um so verwunderter betrachtete. Das war noch Renaissance, aber die
Wölbung durchschreitend, fand ich mich nicht im neunzehnten, nicht im
sechzehnten, sondern im vollsten, unverfälschten fünfzehnten Säkulo und
stand von neuem still in begreiflichem Erstaunen.
Alterschwarzer Holz- und Ziegelbau im unregelmäßigen Viereck um mich her!
Und welch ein Holzbau!
Da liefen sie, die Wände entlang, übereinander, nebeneinander hin, die
Wunderwerke mittelalterlicher Zimmermannsarbeit in Ernst und Humor und
warteten geduldig auf den Photographierapparat, und der grüne Baum neben
dem sehr modernen durch die allermodernste Dampfkraftwasserkunst gespeisten
Brunnen wartete mit ihnen. Ob das mannigfache Volk, welches diesen Hof
bewohnte, eine Ahnung davon hatte, wie überraschend malerisch und
kulturhistorisch interessant es behauset war, kann ich nicht sagen: die
Kinder, die um den Brunnen und den Baum herum krochen und hüpften und den
Schutt der Jahrhunderte zu ihrem ewigen Spiel verwendeten, wußten es
jedenfalls nicht. Aber es war ein kluges, gewitzigtes Geschlecht, welches
auf alle nötigen Fragen, die man an es zu stellen hatte, die nötige
Auskunft geben konnte, wenn es wollte. Leider wollte es aber diesmal nicht.
Es zeigte grinsend die Zähne, lachte und ließ mich ohne Antwort stehen; ich
hatte mich nach einem erwachsenen Menschen der Generation umzusehen und
fand ihn glücklicherweise auch.
In einem Winkel des Hofes stand ein Herr mit einem Notizbuch in der Hand,
an einer Visierstange hinäugelnd. An ihn wendete ich mich nunmehr mit einer
Frage nach dem Steuermann Schaake, und er nickte mir zu:
»Im Augenblick, mein Herr!«
Es würde sehr unrecht gewesen sein, ihn in seinen sicherlich für das
allgemeine Wohl und Beste unternommenen Berechnungen aufzuhalten und zu
hindern. Ich wartete geduldig, und er setzte sein Geschäft fort, seine
Aufmerksamkeit zwischen seinen Instrumenten, seiner Brieftasche und seinen
fernab mit der Meßkette beschäftigten Untergebenen teilend; und hoch war es
anzuerkennen, daß er trotz alledem doch noch einige Worte der Erläuterung
für mich übrig hatte.
»Es hat uns noch keine Nivellierung so viele Mühe verursacht als diese
hier,« sagte er, »aber dafür wird auch keine der neuprojektierten
Straßenanlagen die Stadtbevölkerung in ihrer Vollendung so sehr überraschen
und erfreuen wie diese. Den Kanal hinter den wackligen Mauern füllen wir
natürlich aus, da haben wir dann noch die Rudera einer alten Stiftung, die
müssen selbstverständlich weg. Die alten Damen verlegen wir vor das Tor in
eine gesunde, wahrhaft idyllische Gegend, und so kommen wir hier aus dem
Mittelpunkte der Stadt in gradester Linie zum Bahnhofe, -- ohne daß zu
dieser Stunde ein Mensch in diesem hier umliegenden Gerümpel irgendeine
Ahnung davon hat. Es ist wundervoll!«
»Das ist es!« rief ich mit höchstem Enthusiasmus. »O ihr gütigen Götter!«
»Und es ist nicht allein ein Wunder der kaufmännischen Spekulation, sondern
es wird auch ein Wunder der modernen Architekturwissenschaften,« rief mein
freundlicher Auskunftgeber, den meine Begeisterung nun noch über die eigene
emporriß. »Sie glauben es gar nicht, was alles wir uns hier vorgenommen
haben!«
»O doch!« stöhnte ich aus tiefster Brust. »Ich kann es mir in größter
Deutlichkeit vorstellen. Also wirklich, von dem, was wir jetzt hier um uns
sehen, bleibt nichts aufrecht?«
»Nichts!« sprach mit entflammtem Nachdruck mein entzückter, begeisterter
Baukünstler. »Haben sie doch jetzt angefangen, Nürnberg abzutragen, also
sehe ich nicht im mindesten ein, weshalb wir grade diesen wohlkonservierten
Ruinen gegenüber mit größerer Schonung vorgehen sollten.«
Hierauf ließ sich freilich nichts erwidern, und so wartete ich denn
schweigend, bis die letzten auf die Zukunftsstraße bezüglichen Zahlen und
sonstigen Erinnerungszeichen in das Notizbuch eingetragen worden waren.
Auch das kam zu einem Ende, wie alles auf Erden, und ich durfte meine
ersten Bitten um Auskunft über den Steuermann Schaake von neuem
aussprechen.


Fünfzehntes Kapitel.

Der Herr hatte natürlich auch die Zeitung mit dem Bericht des
Eisenbahnunglücksfalls gelesen, irgend jemand hatte ihm auch mitgeteilt,
daß einer der Beschädigten hier auf den Hof geschafft worden sei; allein zu
wem und wohin, das wußte er nicht. So grüßten wir einander, und ich folgte
dem einzigen Rate, den er mir zu geben hatte: ich trat in die nächste Tür
(ein halbes Dutzend dergleichen führen von dem Hofe in die Gebäude) und
ließ es auf das gute Glück ankommen, ob ich die richtige getroffen habe.
Eine enge, steinerne, im Laufe der Jahrhunderte von Hunderttausenden von
Füßen ausgetretene Treppe führte mich, sich im Halbkreise drehend, in den
Unterstock, im rechten Flügel der Hofgebäude, und zuerst in einen ziemlich
breiten gewölbten Gang, der durch ein großes Bogenfenster im Westen erhellt
wurde. Erhellt? eine Flut von Licht, von abendlichem Sonnenschein, strömte
in dieses große Fenster und vergoldete das dunkelgraue Gemäuer in
eigentümlich schöner Weise.
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