Deutsche Humoristen, 1. Band (von 8) - 01

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Anmerkungen zur Transkription
Der vorliegende Text wurde anhand der 1911 erschienenen Buchausgabe
so weit wie möglich originalgetreu wiedergegeben. Zeichensetzung
und offensichtliche typographische Fehler wurden stillschweigend
korrigiert. Ungewöhnliche sowie inkonsistente Schreibweisen wurden
beibehalten, insbesondere wenn diese in der damaligen Zeit üblich
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Hausbücherei
3


Hausbücherei
der Deutschen Dichter-Gedächtnis-Stiftung
3. Band
[Illustration]
Hamburg-Großborstel
Verlag der Deutschen Dichter-Gedächtnis-Stiftung
1911
46.-55. Tausend


Deutsche Humoristen
1. Band
Peter Rosegger ※ ※ Fritz Reuter
Wilhelm Raabe ※ Albert Roderich
[Illustration]
Hamburg-Großborstel
Verlag der Deutschen Dichter-Gedächtnis-Stiftung
1911
46.-55. Tausend


Inhaltsverzeichnis zum 2. Bande der „Deutschen Humoristen“
(Hausbücherei Band 4).
Vorwort.
+Brentano+, Clemens: Die mehreren Wehmüller oder ungarische
Nationalgesichter.
+Hoffmann+, E. Th. A.: Die Königsbraut. Ein nach der Natur entworfenes
Märchen.
+Zschokke+, Heinrich: Die Nacht in Brczwezmcisl.

Inhaltsverzeichnis zum 3. Bande der „Deutschen Humoristen“
(Hausbücherei Band 5).
+Hoffmann+, Hans: Eistrug.
+Ernst+, Otto: Die Gemeinschaft der Brüder vom geruhigen Leben.
+Eyth+, Max: Der blinde Passagier.
+Böhlau+, Helene (Madame al Raschid Bey): Die Ratsmädel gehen einem
Spuk zu Leibe.


Inhalt.
Vorwort 7-8
+Vischer, Friedr. Theodor+: Humor. Gedicht 9-10
+Rosegger, Peter+: Als ich das erste Mal auf dem
Dampfwagen saß 11-24
+Rosegger, Peter+: Wie wir die Gürtelsprenge haben gehalten 25-40
+Raabe, Wilhelm+: Der Marsch nach Hause 41-146
+Reuter, Fritz+: Woans ick tau ’ne Fru kamm 147-204
+Roderich, Albert+: Nemesis 205-221


Vorwort.

Der Humor ist den Menschen ein so willkommener Gast, daß er eigentlich
keiner Einführung bedarf; sein schalkhaft-ehrliches Gesicht empfiehlt
ihn überall. Aber da es der Deutsche nun einmal nicht lassen kann, bei
allem, was er beginnt, von „Grundsatz“ und „System“ zu reden, so sei
hier bemerkt, daß diese kleine Sammlung humoristischer Geschichten
nach keinem System und nach keinem Grundsatze zusammengestellt ist,
außer nach dem, den Lesern etwas +Gutes+ vorzusetzen. Es soll also
keiner kommen und uns sagen, es gebe noch mehr humoristische Dichtungen
als diese, oder bessere, oder lustigere, oder gediegenere. Wir sagen
dazu nicht ja und nicht nein. Wir sagen nur: abwarten! Denn trotz der
pedantischen Aufnahme, die der Humor in deutschen Landen fast immer
gefunden hat, ist der Vorrat an humoristischer Literatur bei uns Gott
sei Dank so groß, daß fünf Geschichtchen nur einen winzigen Bruchteil
von ihr bedeuten. Und so hoffen wir noch manches Mal mit ähnlicher
Gabe vor unsere Leser treten zu können und den Born, aus dem wir solche
Gaben heraufholen, ewig unerschöpft zu finden.
+Hamburg+, +Deutsche Dichter-+
Pfingsten 1903. Gedächtnis-Stiftung.


Humor.
Von +Friedrich Theodor Vischer+.

Man spricht von Humor jetzt oft und viel
Und denkt dabei nur an ein leeres Spiel.
Mancher kursiert als Humorist,
Der nichts weiter als Spaßmacher ist,
Nichts ahnt von dem innern Widerspruch,
Von dem Zickzack, dem tiefen Bruch,
Der durch das ganze Weltall dringt,
Daß man immer fürchtet: es zerspringt,
Während die also geborstne Welt
Doch immer noch steht und zusammenhält, --
Mancher, der diesen Riß zwar merkt,
Doch zu freiem Lachen den Geist nicht stärkt,
Sondern mit Weltschmerz kokettiert
Und den Blasierten affektiert, --
Ja mancher eisige, spitzige Spötter,
Der Witze nur macht auf Menschen und Götter,
Mancher verdorbne, mit Seelengicht
Behaftete, zotensinnende Wicht,
Mancher schäkernde, eitle Mann,
Der über sich selbst nicht lachen kann. --
Hat aber einer die Geistesmacht,
Die scharf durchschaut und doch heiter lacht,
Bleibt er fest und verzweifelt nie,
Hat er mehr als Witz, hat er Phantasie,
Versteht er über sich selbst zu schweben,
Sich selber dem Lachen preiszugeben:
Dem sei es gegönnt von ganzem Herzen,
Auch einmal einfach närrisch zu scherzen,
Ohne versteckte Gedankentiefen
Seine Freude zu haben am Naiven.

Mit freundlicher Erlaubnis des Verlegers und des Sohnes des
Verfassers abgedruckt aus Friedrich Theodor Vischer’s
※※※ Gedichtsammlung „Allotria“ ※※※
(Stuttgart: Verlag von Adolf Bonz & Co.).


Peter Rosegger:

Als ich das erste Mal auf dem Dampfwagen saß.


Mit freundlicher Erlaubnis des Verfassers und des Verlegers abgedruckt
aus dem 1. Bande von Peter Roseggers Buch „Waldheimat. Erinnerungen aus
der Jugendzeit.“ (Leipzig: Verlag von L. Staackmann, 18. Aufl. 1902).


Als ich das erste Mal auf dem Dampfwagen saß.

Mein Pate, der Knierutscher Jochem -- er ruhe in Frieden! -- war
ein Mann, der alles glaubte, nur nicht das Natürliche. Das Wenige
von Menschenwerken, was er begreifen konnte, war ihm göttlichen
Ursprungs; das Viele, was er nicht begreifen konnte, war ihm Hexerei
und Teufelsspuk. -- Der Mensch, das bevorzugteste der Wesen, hat zum
Beispiel die Fähigkeit, das Rindsleder zu gerben und sich Stiefel
daraus zu verfertigen, damit ihn nicht an den Zehen friere; diese Gnade
hat er von Gott. Wenn der Mensch aber hergeht und den Blitzableiter
oder gar den Telegraphen erfindet, so ist das gar nichts anderes als
eine Anfechtung des Teufels. -- So hielt der Jochem den lieben Gott für
einen gutherzigen, einfältigen Alten (ganz wie er, der Jochem, selber
war), den Teufel aber für ein listiges, abgefeimtes Kreuzköpfel, dem
nicht beizukommen ist und das die Menschen und auch den lieben Gott von
hinten und vorn beschwindelt.
Abgesehen von dieser hohen Meinung vom Lucifer, Beelzebub (was weiß
ich, wie sie alle heißen), war mein Pate ein gescheiter Mann. Ich
verdankte ihm manches neue Linnenhöslein und manchen verdorbenen Magen.
Sein Trost gegen die Anfechtungen des bösen Feindes und sein Vertrauen
war die Wallfahrtskirche Mariaschutz am Semmering. Es war eine Tagreise
dahin, und der Jochem machte alljährlich einmal den Weg. Als ich schon
hübsch zu Fuße war (ich und das Zicklein waren die einzigen Wesen, die
mein Vater nicht einzuholen vermochte, wenn er uns mit der Peitsche
nachlief), wollte der Pate Jochem auch mich einmal mitnehmen nach
Mariaschutz.
„Meinetweg’“, sagte mein Vater, „da kann der Bub’ gleich die neue
Eisenbahn sehen, die sie über den Semmering jetzt gebaut haben. Das
Loch über den Berg soll schon fertig sein.“
„Behüt’ uns der Herr“, rief der Pate, „daß wir das Teufelszeug
anschau’n! ’s ist alles Blendwerk, ’s ist alles nicht wahr“.
„Kann auch sein“, sagte mein Vater und ging davon.
Ich und der Pate machten uns auf den Weg; wir gingen über das
Stuhleckgebirge, um ja dem Tale nicht in die Nähe zu kommen, in welchem
nach der Leut’ Reden der Teufelswagen auf und ab ging. Als wir aber auf
dem hohen Berge standen und hinabschauten in den Spitalerboden, sahen
wir einer scharfen Linie entlang einen braunen Wurm kriechen, der Tabak
rauchte.
„Jessas Maron!“ schrie mein Pate, „das ist schon so was! spring Bub’!“
-- Und wir liefen die entgegengesetzte Seite des Berges hinunter.
Gegen Abend kamen wir in die Niederung, doch -- entweder der Pate war
hier nicht wegkundig, oder es hatte ihn die Neugierde, die ihm zuweilen
arg zusetzte, überlistet, oder wir waren auf eine „Irrwurzen“ gestiegen
-- anstatt in Mariaschutz zu sein, standen wir vor einem ungeheuren
Schutthaufen, und hinter demselben war ein kohlfinsteres Loch in den
Berg hinein. Das Loch war schier so groß, daß darin ein Haus hätte
stehen können, und gar mit Fleiß und Schick ausgemauert; und da ging
eine Straße mit zwei eisernen Leisten daher und schnurgerade in den
Berg hinein.
Mein Pate stand lange schweigend da und schüttelte den Kopf; endlich
murmelte er: „Jetzt stehen wir da. Das wird die neumodische Landstraßen
sein. Aber derlogen ist’s, daß sie da hineinfahren!“
Kalt wie Grabesluft wehte es aus dem Loche. Weiter hin gegen Spital in
der Abendsonne stand an der eisernen Straße ein gemauertes Häuschen;
davor ragte eine hohe Stange, auf dieser baumelten zwei blutrote
Kugeln. Plötzlich rauschte es an der Stange und eine der Kugeln ging
wie von Geisterhand gezogen in die Höhe. Wir erschraken baß. Daß es
hier mit rechten Dingen nicht zuginge, war leicht zu merken. Doch
standen wir wie festgewurzelt.
„Pate Jochem,“ sagte ich leise, „hört ihr nicht so ein Brummen in der
Erden?“
„Ja freilich, Bub’“, entgegnete er, „es donnert was! es ist ein
Erdbidn“ (Erdbeben). Da tat er schon ein kläglich Stöhnen. Auf der
eisernen Straße heran kam ein kohlschwarzes Wesen. Es schien anfangs
stillzustehen, wurde aber immer größer und nahte mit mächtigem
Schnauben und Pfustern und stieß aus dem Rachen gewaltigen Dampf aus.
Und hintenher --
„Kreuz Gottes!“ rief mein Pate, „da hängen ja ganze Häuser d’ran!“
Und wahrhaftig, wenn wir sonst gedacht hatten, an das Lokomotiv wären
ein paar Steirerwäglein gespannt, auf denen die Reisenden sitzen
konnten, so sahen wir nun einen ganzen Marktflecken mit vielen Fenstern
heranrollen, und zu den Fenstern schauten lebendige Menschenköpfe
heraus, und schrecklich schnell ging’s, und ein solches Brausen war,
daß einem der Verstand still stand. Das bringt kein Herrgott mehr zum
stehen! fiel’s mir noch ein. Da hub der Pate die beiden Hände empor
und rief mit verzweifelter Stimme: „Jessas, Jessas, jetzt fahren sie
richtig in’s Loch!“
Und schon war das Ungeheuer mit seinen hundert Rädern in der Tiefe;
die Rückseite des letzten Wagens schrumpfte zusammen, nur ein Lichtlein
davon sah man noch eine Weile, dann war alles verschwunden, bloß der
Boden dröhnte, und aus dem Loche stieg still und träge der Rauch.
Mein Pate wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß vom Angesicht und
starrte in den Tunnel.
Dann sah er mich an und fragte: „Hast du’s auch gesehen, Bub’?“
„Ich hab’s auch gesehen“.
„Nachher kann’s keine Blenderei gewesen sein“, murmelte der Jochem.
Wir gingen auf der Fahrstraße den Berg hinan; wir sahen aus mehreren
Schachten Rauch hervorsteigen. Tief unter unsern Füßen im Berge ging
der Dampfwagen.
„Die sind hin wie des Juden Seel’!“ sagte mein Pate und meinte die
Eisenbahn-Reisenden. „Die übermütigen Leut’ sind selber ins Grab
gesprungen!“
Beim Gasthause auf dem Semmering war es völlig still; die großen
Stallungen waren leer, die Tische in den Gastzimmern, die Pferdetröge
an der Straße waren unbesetzt. Der Wirt, sonst der stolze Beherrscher
dieser Straße, lud uns höflich zu einer Jause ein.
„Mir ist aller Appetit vergangen“, antwortete mein Pate, „gescheite
Leut’ essen nicht viel, und ich bin heut’ um ein Stückel gescheiter
worden“. Bei dem Monumente Karls VI., das wie ein kunstreiches Diadem
den Bergpaß schmückt, standen wir still und sahen ins Österreicherland
hinaus, das mit seinen Felsen und Schluchten und seiner unabsehbaren
Ebene vor uns ausgebreitet lag. Und als wir dann abwärts stiegen,
da sahen wir drüben in den wilden Schroffwänden unsern Eisenbahnzug
gehen -- klein wie eine Raupe -- und über hohe Brücken, fürchterliche
Abgründe setzen, an schwindelnden Hängen gleiten, bei einem Loch
hinein, beim andern hinaus -- ganz verwunderlich.
„’s ist auf der Welt ungleich, was heutzutag’ die Leut’ treiben“,
murmelte mein Pate.
„Sie tun mit der Weltkugel kegelscheiben!“ sagte ein eben
vorübergehender Handwerksbursche.
Als wir nach Mariaschutz kamen, war es schon dunkel.
Wir gingen in die Kirche, wo das rote Lämpchen brannte, und beteten.
Dann genossen wir beim Wirt ein kleines Nachtmahl und gingen an den
Kammern der Stallmägde vorüber auf den Heuboden, um zu schlafen.
Wir lagen schon eine Weile. Ich konnte unter der Last der Eindrücke
und unter der Stimmung des Fremdseins kein Auge schließen, vermutete
jedoch, daß der Pate bereits süß schlummere; da tat dieser plötzlich
den Mund auf und sagte:
„Schlafst schon, Bub’?“
„Nein“, antwortete ich.
„Du“, sagte er, „mich reitet der Teufel!“
Ich erschrak. So was an einem Wallfahrtsort, das war unerhört.
„Ich muß vor dem Schlafengehen keinen Weihbrunn’ genommen haben“,
flüsterte er, „’s gibt mir keine Ruh’, ’s ist arg, Bub’“.
„Was denn, Pate?“ fragte ich mit warmer Teilnahme.
„Na, morgen, wenn ich kommuniziere, leicht wird’s besser“, beruhigte er
sich selbst.
„Tut euch was weh’, Pate?“
„’s ist eine Dummheit. Was meinst, Bübel, weil wir schon so nah’ dabei
sind, probieren wir’s?“
Da ich ihn nicht verstand, so gab ich keine Antwort.
„Was kann uns geschehen?“ fuhr der Pate fort, „wenn’s die andern tun,
warum nicht wir auch? Ich lass’ mir’s kosten“.
Er schwätzt im Traum, dachte ich bei mir selber und horchte mit Fleiß.
„Da werden sie einmal schauen“, fuhr er fort, „wenn wir heimkommen und
sagen, daß wir auf dem Dampfwagen gefahren sind!“
Ich war gleich dabei.
„Aber eine Sündhaftigkeit ist’s!“ murmelte er, „na leicht wird’s morgen
besser, und jetzt tun wir in Gottes Namen schlafen“.
Am andern Tage gingen wir beichten und kommunizieren und rutschten
auf den Knieen um den Altar herum. Aber als wir heimwärts lenkten, da
meinte der Pate nur, er wolle sich dieweilen gar nichts vornehmen, er
wolle nur den Semmering-Bahnhof sehen, und wir lenkten unsern Weg dahin.
Beim Semmering-Bahnhof sahen wir das Loch auf der andern Seite.
War auch kohlfinster. -- Ein Zug von Wien war angezeigt. Mein Pate
unterhandelte mit dem Bahnbeamten, er wolle zwei Sechser geben, und
gleich hinter dem Berg, wo das Loch aufhört, wollten wir wieder
absteigen.
„Gleich hinter dem Berg, wo das Loch aufhört, hält der Zug nicht“,
sagte der Bahnbeamte lachend.
„Aber wenn wir absteigen wollen!“ meinte der Jochem.
„Ihr müßt bis Spital fahren. Ist für zwei Personen zweiunddreißig
Kreuzer Münz.“
Mein Pate meinte, er lasse sich was kosten, aber so viel wie die hohen
Herren könne er armer Schlucker nicht geben; zudem sei an uns beiden
ja kein Gewicht da. -- Es half nichts; der Beamte ließ nicht handeln.
Der Pate zahlte; ich mußte zwei „gute“ Kreuzer beisteuern. Mittlerweile
kroch aus dem nächsten, unteren Tunnel der Zug hervor, schnaufte heran,
und ich glaubte schon, das gewaltige Ding wolle nicht anhalten. Es
zischte und spie und ächzte -- da stand es still.
Wie ein Huhn, dem man das Hirn aus dem Kopfe geschnitten, so stand der
Pate da, und so stand ich da. Wir wären nicht zum Einsteigen gekommen;
da schupste der Schaffner den Paten in einen Waggon und mich nach. In
demselben Augenblicke wurde der Zug abgeläutet, und ich hörte noch, wie
der ins Coupé stolpernde Jochem murmelte: „Das ist meine Totenglocke“.
Jetzt sahen wir’s aber: im Waggon waren Bänke, schier wie in einer
Kirche; und als wir zum Fenster hinausschauten -- „Jessas und Maron!“
schrie mein Pate, „da draußen fliegt ja eine Mauer vorbei!“ -- Jetzt
wurde es finster, und wir sahen, daß an der Wand unseres knarrenden
Stübchens eine Öllampe brannte. Draußen in der Nacht rauschte und toste
es, als wären wir von gewaltigen Wasserfällen umgeben, und ein ums
andere Mal hallten schauerliche Pfiffe. Wir reisten unter der Erde.
Der Pate hielt die Hände auf dem Schoß gefaltet und hauchte: „In
Gottes Namen. Jetzt geb’ ich mich in alles drein. Warum bin ich der
dreidoppelte Narr gewesen.“
Zehn Vaterunser lang mochten wir so begraben gewesen sein, da lichtete
es sich wieder, draußen flog die Mauer, flogen die Telegraphenstangen
und die Bäume, und wir fuhren im grünen Tale.
Mein Pate stieß mich an der Seite: „Du, Bub’! Das ist gar aus der Weis’
gewesen, aber jetzt -- jetzt hebt’s mir an zu gefallen. Richtig wahr,
der Dampfwagen ist was Schönes! Jegerl und jerum, da ist ja schon
das Spitalerdorf! Und wir sind erst eine Viertelstunde gefahren! Du,
da haben wir unser Geld noch nicht abgesessen. Ich denk’, Bub’, wir
bleiben noch sitzen.“
Mir war’s recht. Ich betrachtete das Zeug von innen und ich blickte in
die fliegende Gegend hinaus, konnte aber nicht klug werden. Und mein
Pate rief: „Na, Bub’, die Leut’ sind gescheit! Und daheim werden sie
Augen machen! Hätt’ ich das Geld dazu, ich ließe mich, wie ich jetzt
sitz’, auf unsern Berg hinauffahren!“
„Mürzzuschlag!“ rief der Schaffner. Der Wagen stand; wir schwindelten
zur Tür hinaus!
Der Türsteher nahm uns die Papierschnitzel ab, die wir beim Einsteigen
bekommen hatten, und vertrat uns den Ausgang. „He, Vetter!“ rief er,
„diese Karten galten nur bis Spital. Da heißt’s nachzahlen, und zwar
das Doppelte für zwei Personen; macht einen Gulden sechs Kreuzer!“
Ich starrte meinen Paten an, mein Pate mich. „Bub’“, sagte dieser
endlich mit sehr umflorter Stimme, „hast du ein Geld bei dir?“
„Ich hab’ kein Geld bei mir“, schluchzte ich.
„Ich hab’ auch keins mehr“, murmelte der Jochem.
Wir wurden in eine Kanzlei geschoben, dort mußten wir unsere Taschen
umkehren. Ein blaues Sacktuch, das für uns beide war und das die Herren
nicht anrührten, ein hart Rindlein Brot, eine rußige Tabakspfeife,
ein Taschenfeitel, etwas Schwamm und Feuerstein, der Beichtzettel von
Mariaschutz und der lederne Geldbeutel endlich, in dem sich nichts
befand als ein geweihtes Messing-Amuletchen, das der Pate stets mit
sich trug im festen Glauben, daß sein Geld nicht ganz ausgehe, so lange
er das geweihte Ding im Sacke habe. Es hatte sich auch bewährt bis
auf diesen Tag -- und jetzt war’s auf einmal aus mit seiner Kraft. --
Wir durften unsere Habseligkeiten zwar wieder einstecken, wurden aber
stundenlang auf dem Bahnhofe zurückbehalten und mußten mehrere Verhöre
bestehen.
Endlich, als schon der Tag zur Neige ging, zur Zeit, da nach so
rascher Fahrt wir leicht schon hätten zu Hause sein können, wurden wir
entlassen, um nun den Weg über Berg und Tal in stockfinsterer Nacht
zurückzulegen.
Als wir durch den Ausgang des Bahnhofes schlichen, murmelte mein Pate:
„Beim Dampfwagen da -- ’s ist doch der Teufel dabei!“
[Illustration]


Peter Rosegger:

Wie wir die Gürtelsprenge haben gehalten.


Mit freundlicher Erlaubnis des Verfassers und des Verlegers abgedruckt
aus dem 1. Bande von Peter Roseggers Buch „Waldheimat. Erinnerungen aus
der Jugendzeit“ (Leipzig: Verlag von L. Staackmann, 18. Aufl. 1902).


Wie wir die Gürtelsprenge haben gehalten.

Wenn man in jener Gegend den Bauern nach der Anzahl der Bewohner seines
Hauses fragt, so mag wohl folgende Antwort geschehen: „Bewohner? Ja,
die muß ich mir selber erst zusammendenken. Da bin ich; -- tut nur
fleißig nachzählen -- ich und mein Weib und unsere fünf Kinder und der
Knecht und acht Rindvieher und die Magd.“
Und er meint es nicht anders. Schützt sie doch allzusammen +ein+
Dach, lebt doch eines für alle, wie alle für eines leben, und sie
ernähren sich gegenseitig und erheitern sich das Leben, und die Kinder
und die Kälber laufen lustig durcheinander herum. -- Für die Rinder hat
der liebe Gott die Almen und die Heustadeln erschaffen. Und wenn die
Stadeln sich gefüllt haben und die Zeit der Heue vorüber ist, so wird
im Hause des Hirtenbauers ein Fest begangen. Der Bauer gibt den Seinen
ein Mahl. Und da wird nicht geschont, ist doch der Heustadel voll.
Und besonders Hansjörgl, der Knecht, dem in letzterer Zeit der
Bauchriemen ohnehin schon zu lang geworden ist, läßt sich das Fest
angelegen sein, und so eine Bäuerin wie die unsere, sagt er,
gibt’s nimmermehr -- und der Riemen wird kürzer und kürzer, und
die Enden seines Ringes wollen nicht mehr reichen, und mit Gewalt
zusammengeschnallt, springen sie wieder mit Gewalt auseinander.
Das Fest der Gürtelsprenge.
Mir ist aus jener Zeit, in der ich solche Feste noch mitmachte, ein
Geschichtchen in Erinnerung.
Ich war noch im Hefelrainhof beim Vieh. Die Heue war vorüber, und unser
Knecht hatte zwei Tage lang fast nichts gegessen, um sich auf den
nahenden Genuß gebührend vorzubereiten. Es waren Stunden aufgeregter
Erwartung, bis am dritten Tage zum späten Mittag der Bauer das weiße
Tuch, mit dem roten Streifen in der Mitte, über den Tisch zog. Dann
legte er die glänzend gefegten Messer und Gabeln und Löffel auf ihre
Plätze. Dann begann er in gehobener Stimmung -- er hatte heute auch
reine Wäsche an -- Weißbrot aufzuschneiden. Ich stand neben dem
Tisch und sah, wie der Haufen der Brotspalten immer mehr anwuchs und
anwuchs. Hansjörgl, der Knecht, beobachtete diesen Vorgang nicht
ohne Mißtrauen; -- wozu das viele Brot hier? Soll das etwa bestimmt
sein, die Haupträumlichkeiten zu füllen, auf daß feinere Bissen nicht
sollen untergebracht werden können? -- Endlich kam der dampfende
Milchtopf, und der Tisch ächzte, und die Massen der Brotspalten wurden
hineinversenkt, so wie sich bei Erdrevolutionen Berge versenken in die
Tiefen des Meeres. Wir beteten, dann setzten wir uns alle zu Tische.
Der Knecht begann zu essen, still und langsam, mit einer ehernen Ruhe.
Als die Milch und das darauffolgende Speckkraut abgetan war und die
Lasten der Roggenknödeln erschienen, fühlte ich die früher so mächtigen
Sympathieen für die Gegenstände nach und nach schwinden -- ich war
gesättigt. Ich sah nur sinnend zu, wie die bedeutsamen Reihen der
Gerichte vorüberzogen, die Butterschnitten und die Rahmstrudeln und
die Fleischnudeln, und das Schottenkoch und die Milchkrapfen und das
Schmalzmus. Sie aßen und redeten dabei von Dingen, die sich früher
bei dem Feste der Gürtelsprenge zugetragen hatten und in der Zukunft
noch zutragen können. Der Knecht redete nicht, er saß und aß still
und langsam, mit einer ehernen Ruhe. Es kamen noch fernere Gerichte
und fernere Gespräche, und der Knecht aß still und langsam fort. Als
sie bei den Butterkrapfen waren, hörte man ein leichtes Schnalzen
-- es war sein Gürtel auseinander gesprungen. Der Knecht ließ ihn
auseinandergesprungen sein, blieb in seiner Ruhe und aß.
Endlich aber blieb die geleerte Schüssel auf dem Tische stehen, und es
kam nichts mehr. Der Knecht blickte befremdet auf; -- wo spannt sich’s
denn? ja, geht’s denn nicht allweg so fort? -- Er war schwermütig,
er dachte an das Los alles Zeitlichen, er erhob sich, er ging in das
Freie, er stand eine Weile still und sah hinaus in die Berge und Täler,
er stieg empor zum Heuboden, er legte sich in sein Bett.
Es nahte schon der Abend.
Über den Almen zogen Nebel, wie sie sich zur Herbstzeit gern über das
Gebirge niedersenken. Ich ging hinaus auf die Halde und rief so lange:
„Hoi ho, hoi ho!“ bis die Kuh mit der Glockenschelle auf mich zukam und
ihr die Heerde nachfolgte. Dann führte ich sie zum Hause und in den
Stall.
Als dieses geschehen, und als gemolken war, gingen wir zur Abendsuppe;
ich hatte wieder recht Appetit, und der Bauer sagte, so eine saure
Suppe könne er zu jeder Zeit essen, und sie sei ihm lieber wie die
besten Butterkrapfen. Aber der Knecht erschien nicht zur Suppe.
Endlich gingen wir alle zur Ruhe. Ich hatte mein Lager im Stalle, um
die Rinder zu bewachen, daß sich keines etwa von seiner Kette losmache
und die anderen beschädige. Mir war recht behaglich unter der Decke.
Die Glockenkuh schellte noch eine Weile, weil sie sich an den Lenden
leckte, und der Stier rasselte noch dann und wann an der Kette und
gaukelte mit den Hörnern. Nach und nach ließen sie sich alle nieder
auf die frische Fichtenstreu und begannen das Wiederkäuen. Einige Zeit
hörte ich noch das gleichmäßige Gescharre der Zähne, dann sanken mir
nach und nach die Augen zu. -- Noch war mir, als säße auch der Knecht
auf der Fichtenstreu, und rassele mit der Kette und gaukele wie der
Stier, und kaue, wie alle anderen, und kaue ohne Ende.
Plötzlich weckte mich ein Poltern außen an der Stalltür. „Halterbub’,
schreck’ dich nicht und steh’ auf!“ hörte ich rufen; es war des Bauern
Stimme, und das Poltern an der Tür wurde heftiger.
Ich kollerte von dem Bette auf die Streu hinaus, stieß in der
Verwirrung an die Glockenkuh, daß sie mit einem ohrenzerreißenden
Geschelle aufsprang, und ich taumelte der Türe zu.
„Schreck’ dich nicht, Bub’, und mach’ dir nichts draus“, rief der
Hefelrainhofer wieder, „schlupf’ geschwind in deine Hose hinein, du
mußt eilig hinablaufen nach Kathrein um den Herrn Pfarrer, ’s will uns
der Hansjörgl sterben!“
„Der Hansjörgl will sterben!“ sagte ich zitternd und nestelte die
Türkette auf, „ja warum denn und wegen was denn?“
„Der lieb’ Herrgott wird’s wissen! Da kugelt er oben in seinem Bett und
schiebt die Augen über und ächzt -- und -- nein, meiner Tag hab’ ich
so was nicht erlebt. Geh’, Bübl, geh’, wenn du den Pfarrer bei Zeiten
bringst, so kriegst einen Sechser. Und das letzt’ Öl soll er dennoch
wohl auch mitbringen -- und begraben laß ich den Hansjörgl mit dem
großen Kondukt. Ach, mein guter, rechtschaffener Knecht!“
Ich weiß nicht, wie ich’s gemacht hatte; ehe noch der Bauer aufgehört
zu sprechen, war ich angezogen, und in den nächsten Augenblicken schon
eilte ich den Berghang hinab. Zerrissene Wolken hingen am Himmel, matt
schien der Halbmond, in den Ästen der Tannen fächelte zeitweilig der
Wind. Meine Schuhe machten ein Getöse in den Steinen des Hanges, mir
voran und zur Seite kollerten diese hinab, und ich kollerte schier
auch selbst mit ihnen. Und ich ging durch Täler hinaus, oft hingen
Bäume derart über mir zusammen, daß ich keinen Boden, keine Wurzel,
keinen Stein mehr sah, daß ich im Schwarzen dahinwandelte, stolperte,
in Pfützen sprang, an Bäume prallte -- in Todesangst war. Neben mir
hin rauschte der Waldbach. Oft hörte ich Gekrächze über mir, Schritte
hinter mir, und ich meinte, der Knecht sei bereits gestorben und sein
irrender Geist folge mir. Ich hatte Angst um meine arme Seele, ich
betete im Herzen, ich versicherte den lieben Gott und alle Heiligen,
daß ich all’ mein Lebtag keine Sünde mehr begehen wolle, wenn ich
diesmal in Gnaden bewahrt bliebe. Und bis auf einige blaue Ballen an
Gesicht und Händen blieb ich in Gnaden bewahrt. Nach Stunden kam ich
nach Kathrein, und da ging die Morgenröte auf.
Ich eilte zum Pfarrhof und riß mit beiden Händen an dem Drahte der
Türglocke so heftig, daß ich von innen einen Jammerschrei hörte.
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