Deutsche Humoristen, 1. Band (von 8) - 02

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Dann wurde ein Fenster aufgerissen, und die alte Haushälterin in
schneeweißem Nachtgewande rief alle Namen der Himmel um Antwort an, wer
denn Sturm läute in solcher Stunde. Da öffnete ich denn mein bedrängtes
Herz: „Der Hansjörgl will sterben -- das letzte Öl soll er auch
mitnehmen, und begraben läßt er ihn mit dem großen Kondukt!“
Ich wurde verstanden. Schwer mag’s dem greisen Mann gewesen sein,
nun aus den weichen Federn fort, in die frostige Herbstluft hinaus,
und nüchtern in das Gebirge. Aber er ging. Lautlos kleidete er sich
an, eilte zur Kirche, läutete selbst das Versehglöcklein, holte das
Heiligste und ging mit mir. Ich ging voran, trug in der einen Hand
die brennende Laterne, in der andern das Metallglöcklein, mit dem ich
schellte, auf daß die Menschen in den Häusern und Hütten, an denen wir
vorüberzogen, auf die priesterliche Handlung aufmerksam gemacht würden.
Wir gingen denselben Weg, den ich hergegangen war. Das Wasser rauschte;
ich schellte den Fischen, daß nun ihr Schöpfer vorüberziehe, und daß
sie anbetend ihre Köpfe emporrecken sollten aus den Wellen. Keine
einzige Forelle hat mein Glöcklein gehört.
Als es nach und nach licht geworden war, begann der Pfarrer hinter mir
plötzlich zu lachen. „Ja, was hast du denn gemacht, Kleiner, du hast ja
dein Höslein verkehrt an!“
Da gab’s mir einen Stich im Herzen; vor meinen Augen tanzten Sterne.
-- Was hat er gesagt, mein Höslein verkehrt? -- Es war wohl so! -- Das
Hintere war vorn, das Vordere war hinten, und kein einzig Knöpflein war
zu.
„Ist ja kein Unglück“, sagte der Pfarrer, „hast es halt ein wenig
schnell gemacht. Setz’ die Laterne da auf den Stein, und mach’ Ordnung,
ich wart’ auf dich.“
Ich ging hinauf in das Dickicht und zog aus und zog an, und eilte, daß
doch der Knecht dieweilen nicht sterbe, und endlich, als alles recht
saß, barg ich mein Gesicht in den Ellbogen.
Um mich aus der Verlegenheit zu befreien, begann der Greis ein
Gespräch und erkundigte sich um die näheren Zustände des Knechtes. Er
beschleunigte seine Schritte und sagte mir, daß es für einen Priester
sehr peinlich sei, auf seinem Versehgange zum Kranken nur mehr einen
Toten zu treffen und unverrichteter Sache wieder zurückkehren zu
müssen. „Einmal hab’ ich das erfahren, mein lieber Kleiner. Es war vor
mehreren Jahren. Ich wurde hinein in die Kiengräben zu einem Holzhauer
gerufen, den als Wilderer die Kugel eines Jägers getroffen hatte.
Sein einzig Sehnen war nach einem Priester; stundenlang rang er mit
dem Tode und in Verzweiflung rief er: Ich muß warten auf meinen Gott
und Richter. -- Aber der Weg bis in die Kiengräben ist weit, und ich
fand den Mann erstarrt, und auf seinen Zügen und in seinem gebrochenen
Auge lag noch die Todespein. -- Im Chorrock, und auf den Händen das
Sakrament, so mußte ich wieder umkehren; und auf demselben Gang hab’
ich keine einzige Vogelstimme gehört im Walde, und mir ist so schwer
und weh gewesen, als hätten mich alle unerlösten Seelen der Erde
verfolgt. Kleiner, was das heißt, ein Priester sein -- es ist nicht zu
sagen!“
Der Pfarrer schwieg, trocknete seine Stirn, und wir schritten weiter
und weiter.
Wir stiegen den Berghang hinan gegen unser Haus. Die Nebel hatten
sich aufgelöst, und die Sonne stand schon ziemlich hoch am tiefblauen
Himmel. Die Almglocken klangen auf den Höhen, und zeitweilig hörte man,
in hohen Lüften getragen, das helle Jauchzen eines freudigen Menschen.
-- Ei wohl, unser Knecht hatte auch schön gesungen und hell gejauchzt,
und an diesem lieblichen Morgen soll er gar auf dem Totenbette sein!
Das Haus stand still und traurig auf der Anhöhe. Wohl glänzte die
Sonne in den Fenstern, aber diese sahen uns entgegen, wie verglaste,
verweinte Augen.
Ich zitterte vor Angst; ich hielt die Laterne hoch und das Glöcklein
ließ ich klingen. Niemand kam uns entgegen, niemand kniete vor dem
Hause, um sich den Segen des nahenden Heilandes zu erbitten. Die Türen
waren offen, wir gingen in das Haus und durch die Vorlauben in die
Stube. Es war niemand da, nur die Uhr an der Wand tickte und tickte.
Der Kranke ist noch auf dem Heuboden, dachte ich, und sie sind alle bei
ihm. Der Pfarrer stellte das Sakrament auf den Tisch und sank erschöpft
auf die Bank daneben. Ich eilte auf den Heuboden und rief laut, daß wir
da seien. Der Heuboden war still und dunkel, nur das frischduftende
Heu war da. Und das Bett des Knechtes war leer! -- Da erfaßte mich ein
Grauen, und ich lief zurück in die Stube: „Kein Mensch ist da, kein
Mensch im ganzen Hause; sie haben ihn gar schon fortgetragen!“
Da erhob sich der Priester, sein Antlitz rötete sich und er sah mich
an mit strengem Blicke. Ich brach in ein Weinen aus. Wir ließen die
Heiligtümer auf dem Tische stehen und gingen vor das Haus, und ich
rief, was ich rufen konnte, nach den Leuten.
Endlich hörte ich von dem Schachen herüber halbverhallte Schläge. Ich
lief gegen den Wald und schrie, und mein Schreien wurde aus Angst und
Furcht schier zum Kreischen.
„Sakra, was ist denn das für ein abscheulicher Lärm da unten? Was hat’s
denn?“ hörte ich plötzlich eine Stimme von dem Wipfel einer hohen
Fichte her.
Ich schau’ hinauf, hör’ ihn, seh’ ihn -- es ist der Hansjörgl.
Und er hackt die Äste herab, einen um den andern, und singt und
jauchzt. Da lauf’ ich wohl wieder zurück zum Hause, zum Pfarrer,
auf daß ich niederfalle vor ihm auf die Kniee und ihn tausendmal um
Verzeihung bitte, daß der Knecht wieder kernblitzgesund ist und von den
Bäumen die Äste herabhackt zur Streu für die Rinder.
Aber wie ich zurückkomme, steht schon der Bauer vor dem Pfarrer und
bringt Entschuldigungen vor. Der Knecht habe gestern ein klein wenig
mehr von Speisen zu sich genommen, weil die Gürtelspreng’ gewesen sei,
und d’rauf habe er in der Nacht so einen heftigen Kolikanfall bekommen,
daß schon alle gemeint, es sei sein letztes End’. Deswegen habe er
gleich um den Priester geschickt, aber die Krankheit habe bald darauf
nachgelassen, und der Hansjörgl habe in der Früh wieder rechtschaffen
viel Kässuppe gegessen. Man habe hernach wohl einen zweiten Boten
geschickt, daß der Herr Pfarrer nur daheim bleiben möge, aber dieser
Bote sei wahrscheinlich einen andern Weg gegangen, und so sei es
geschehen, wie es geschehen war.
In der Stube aber brannte das geweihte Wachslicht und stand das
geistliche Brot. Sollte nun der Pfarrer wirklich mit dem Hochwürdigsten
unverrichteter Sache zurückkehren müssen, was er so gefürchtet?
Oder will er auf der Alm die Messe lesen und selbst das Himmelsbrot
verzehren? Oder will jemand sterbenskrank werden, auf daß er die
bereitete Wegzehrung genießen dürfte?
Ich sann auf Wege, sann auf Stege. Und endlich hatte ich was ersonnen.
Ich war noch nüchtern. Aus Liebe zum alten Herrn, der mich in der Seele
erbarmte, bekannte ich ihm auf der Ofenbank meine Sünden, und so konnte
ich nun der Kommunion teilhaftig werden.
Und als die Handlung vorüber war, legte der Pfarrer den Chorrock ab
und atmete auf. Die Bäuerin, die nun auch von der Weide gekommen, gab
mir meine Morgensuppe und wollte dem Herrn Pfarrer mit Butter und
einer Eierspeise aufwarten; er konnte aber nichts genießen, weil er an
demselben Tage noch die Messe zu lesen hatte. So mußte der gute Mann
fasten, weil unser Knecht Tags zuvor so ungebührlich gegessen hatte,
und so mußte ich eine Beichte ablegen, weil unser Knecht Tags zuvor
gegen die Mäßigkeit gesündigt hatte, und so endete in demselben Jahre
das Fest der Gürtelsprenge.
Dafür hatte ich heute Feiertag und durfte den Pfarrer wieder nach
Kathrein begleiten. Als wir über den Hang hinabstiegen, hörten wir
Hansjörgl, den Knecht, von den Waldwipfeln herüber jauchzen. Der
Pfarrer stand still und sagte zu mir: „Was meinst, Kleiner, hört sich
das nicht besser, wie Totenglocken?“
[Illustration]


Wilhelm Raabe:
Der Marsch nach Hause.


Mit freundlicher Erlaubnis des Verfassers und des Verlegers abgedruckt
aus dem 2. Bande von Wilhelm Raabes „Gesammelten Erzählungen“ (Berlin:
Verlag von Otto Janke, 1901).


Der Marsch nach Hause.

1.
Am siebenten August des Jahres Sechzehnhundertvierundsiebenzig als
am Geburtstagsfeste des Schutzheiligen des Ortes und der Gegend, des
heiligen Gebhard, herrschte ein reges Leben in der alten Stadt Bregenz
am Bodensee und rings um dieselbe. Seit langen Jahren hatte das Volk
diesen Tag nicht mit solchem Eifer und so fröhlichen Herzens gefeiert
wie heute.
Schon am frühen Morgen hatte kaiserliches Geschütz von der Klause über
der Unnot und bürgerliches Böllergeknall von den Mauern der Stadt und
den umliegenden Höhen dem Heiligen die gebührende Ehre gegeben, und
Glocken und Glöcklein aus Kirchen und Klöstern waren schier den ganzen
Tag über nicht still geworden. Und es war ein schöner, ein heiterer
Tag, der ebenfalls dem Heiligen alle Ehre gab. Leise spielten die
Wellen des großen Sees an die Ufer, und die fernsten Berggiebel und
Hörner des graubündner Landes südlich über dem Rheintal, die Roja,
die Schwestern von Frastanz, die Scesa plana, der Kalanda und die
Grauhörner blitzten mit ihren Schneefeldern im heitern Licht herüber,
während die näherzu aufgetürmten Riesen von St. Gallen und Appenzell,
der Gonzen, der Alwier, der Kamor, der Hohen Kasten und der alte Säntis
mit allen Zacken und Rissen, ein mächtiger Bergkamm, in wundervoller
Klarheit sich vom blauen Himmel abhoben. Wer die Hand über die Augen
hielt, um dieselben gegen das Glänzen und Leuchten des Wassers zu
schirmen, der mochte selbst im fernen Hegäu die dunklen Kegel des
Hohentwiel und Hohenkrähen deutlich erkennen.
An der Kapelle am See, wo die Gebeine der im Jahre 1407 gegen die
Appenzeller Hirten Gefallenen ruhen, und wo der Graf Wilhelm von
Monfort mit allen Rittern des St. Jürgenschildes nach dem gewonnenen
Siege kniete, und der Ruf Ehrguta! Ehrguta! zum ersten Mal hell
hinausgerufen wurde, um durch Jahrhunderte in den Gassen der alten
Römerstadt Bregenz nicht zu verhallen, waren die Schiffe und Kähne der
Gäste aus dem Allgäu und dem Thurgäu mit Seilen und Ketten angelegt.
Viel Volk war aus dem Walde gekommen, und die Benediktiner von Mehrerau
und die Pfaffheit in der Stadt mochten den Tag wohl loben; denn wie bei
allen solchen, vom Wetter und dem Lebensmut der Menschen begünstigten,
feierlichen Gelegenheiten fiel mancherlei für sie ab, was sie gar wohl
gebrauchen konnten und mit Dank und gutem Gegenwillen gern hinnahmen.
Wenn nun schon am Seeufer, wie gesagt, ein munteres Leben herrschte,
so nahm dieses mehr und mehr zu auf allen Wegen, die zu dem grauen
Mauerviereck der Römerstadt emporführten, wurde aber am buntesten auf
den waldigen Pfaden, auf welchen man rechts von der Stadt die Höhe des
Pfannenbergs erreicht; denn dort hinauf oder hinab mußte ja das Volk,
welches den heiligen Gebhard zu seinem Geburtstage grüßen wollte,
oder ihn bereits gegrüßt hatte. Wir gehen mit den Emporsteigenden,
um nachher mit einem einzelnen Gaste des guten Bischofs wieder
herabsteigen zu können.
Der Heilige würde sich sicherlich nicht wenig gewundert haben, wenn er
heute die Stätte gesehen hätte, wo einstmals seine Wiege stand. Die
Natur hatte wohl Zeit gehabt, ihre verschönernde Hand an das schlimme
Denkmal der schwedischen Furie vom Jahre Sechzehnhundertsechsundvierzig
zu legen; allein alles hatte sie doch längst nicht auszugleichen
vermocht. Da blickten die gewaltigen, zerrissenen, von der Flamme
geschwärzten Mauern und Türme von Hohen-Bregenz immer noch grimmig
auf den jungen, freudigen Waldwuchs, der sich zwischen und an sie
gedrängt hatte, herab. Und wie manches gefiederte Samenkörnlein
Wurzeln geschlagen haben mochte in den Schießscharten und leeren
Fensteröffnungen, die grause Göttin Bellona lachte doch nur höhnischer
durch die schwankenden Kräuter und den kletternden Efeu. Das Gras und
die Herbstastern, die Königskerzen und die Sternblumen hatten noch
nicht den Sieg gewonnen über den Brandschutt des wilden Feldmarschalls
Karl Gustav Wrangel. Hätte das Volk eine ebensolche Miene gemacht,
wie die Geburtsstätte seines Heiligen auf der schönen, vorspringenden
Kuppe des Pfannenberges, so wäre das Fest gewißlich nicht so heiter
anzuschauen gewesen.
Aber die arme, gequälte Menschheit vergißt Gottlob leicht und schnell.
Die frohe Menge, die innerhalb der niedergeworfenen Burgmauern lagerte,
den Wald ringsum füllte und auf allen Pfaden zog, ärgerte sich heute
gar wenig an dem, was vor mehr als siebenundzwanzig Jahren geschehen
war, und das historische Faktum diente höchstens noch einigen älteren
Leuten zu einer nicht unannehmlichen Unterhaltung.
Freilich war die schwedische Hand auf den armen Mann und kleinen
Bürger am Schluß des Jahres sechsundvierzig verhältnißmäßig ziemlich
leicht gefallen, denn der General Wrangel hatte an dem Adel und der
Geistlichkeit so gute Beute gemacht, daß er das Geringere gern und
willig an Ort und Stelle beließ. Die Geistlichkeit und der Adel hatten
nämlich alle ihre Schätze und Habseligkeiten weit aus dem Lande umher
in die feste Römerstadt geflüchtet, und als der falsche Kommandant
der Klause am See seine Tore verräterischer Weise öffnete, da fand
der Schwede alles recht ordentlich, hübsch und lieblich beieinander,
und mochte sich wohl die Hände reiben. Wer heute Schweden bereist und
nach Skogkloster kommt, der wird daselbst wohl noch allerlei gute
Dinge finden, welche der Wrangel damals aus Brigantium mit sich nahm,
und welche die Erben aus dem Allgäu und dem Vorarlberg nun doch wohl
vergeblich zurückfordern möchten.
In der Mitte der Ruinen, auf der Stelle, wo seit dem Jahre 1723 die
Kirche des einstigen Burgherrn von Hohen-Bregenz und spätern Heiligen
steht, war heute am 7. August 1674 der Boden von Schutt und Trümmern
gereinigt, und für den festlichen Tag ein mit Blumen geschmückter,
mit Lichtern bedeckter Altar errichtet, an welchem die Benediktiner
von Mehrerau der Feierlichkeit vorstanden. Hier befand sich der
Mittelpunkt des Gewimmels, doch im weitern Umkreise war dasselbe auch
nicht viel geringer. Da waren in den verwüsteten Räumen der Burg, im
grünen Grase, unter den Bäumen Tische und Bänke aufgestellt und Fässer
zusammengerollt und aufgelegt, da gab es mancherlei gute Sachen für den
Mund und die Augen, und die Geburtstagsgäste saßen an den Tischen und
lagerten im Grase und drängten sich um die Fässer und feilschten an den
Tischen der Verkäufer von Rosenkränzen und Kreuzen und Heiligenbildern,
und an einem der Tische saß einer der Helden dieser Historia einsam
und allein vor der Flasche und dem Glase, und nickte mit dem Kopfe,
und blinzelte in das Gewühl seliglich, im Rücken gedeckt von einem
rauchgeschwärzten Mauerwinkel, überschattet von einem Ahornstrauch,
unbekümmert um das Glöckleinklingeln der Geistlichen, die Töne der
Musik im Walde, das Jauchzen und helle Lachen der Buben und Mädeln --
einer der beiden Helden dieser Historia, der brave Korporal +Sven
Knudson Knäckabröd+ aus Jönköping am Wetternsee, welcher zuerst mit
dem großen Feldmarschall Karl Gustav Wrangel hierher gekommen war.

2.
Der Korporal hatte das Kinn auf beide Fäuste gestützt, er blinzelte
lächerlich-nachdenklich mit den schwimmenden Augen, und von Zeit zu
Zeit schüttelte er den grauen Kopf und fuhr mit der Rückseite der Hand
über die braunrote, ehrliche, wenn auch nicht ehrwürdige Nase; es kam
ihm selber ganz verwunderlich vor, daß er hier saß, und zwar zum
zweiten Mal, und zwar unter gänzlich veränderten Um- und Zuständen.
Er hatte des guten Tirolers manchen ehrlichen Schoppen genossen, und
es war eben kein Wunder, wenn er das bunte, bewegte Treiben vor und
um sich in einem phantastischen Zauberlicht sah; aber sein seltsam
Geschick hatte ihn wahrlich berufen, an dieser Stelle auch ohne den
roten Tiroler mancherlei Gesichte zu erschauen. Er schüttelte den Kopf,
wehmütig und doch lustig, wie er daran gedachte, auf welche Art er
damals in der Burg des heiligen Bischofs Gebhard anlangte. Wahrlich
nicht um sich wie heute breit und bequem im Schatten eines grünen
Ahorns vor dem Becher niederzulassen! Damals war die Welt verschneit,
und die Eiszapfen hingen an den Fichtennadeln und Tannenzweigen,
an den kahlen Ästen der Eichen und Buchen und an den Bärten der
zehntausend Kameraden, welche durch den Allgäu zum bregenzer Sturm
heranmarschiert waren. Damals handhabte er, der Korporal Sven Knudson
Knäckabröd, seine Arkebuse wie die anderen, stand wie die anderen in
Rauch, Dampf und Feuer und stieg bergan den Pfannenberg, über Leichen
und Verwundete. Damals half er den Geschützmeistern die Kartaunen in
die rechte Position bringen und war unter den ersten an der Zugbrücke,
als das Tor von Hohen-Bregenz zersplitterte, die Mauer schwankte und
vornüber brach und den Graben für den verlorenen Haufen weg-, sprung-
und sturmgerecht machte. Er befand sich natürlich auch unter dem
verlorenen Haufen und schlug mit umgekehrter Muskete wacker drein, als
das kaiserliche Kriegsvolk immer noch den Eingang streitig machte; er
erwarb sich großes Lob bei seinem Hauptmann, und als der Feldmarschall
nachher auf den Berg kam, die gemachte Arbeit in der Nähe zu sehen, da
war der Korporal Sven voran unter denen, welche am lautesten Viktoria
schreien durften.
„Ooooh!“ stöhnte der Korporal am Nachmittag des vierten Augusts 1674,
in allen Reizen der Erinnerung schwelgend, und legte sich schwer
auf die linke Seite und schlug mit der rechten Faust gewaltig auf
den Tisch. Um seine Gefühle deutlich zu machen, hatte er nichts
weiter hinzuzusetzen; aber +wir+ haben noch einiges über seine
Vorgeschichte zu berichten, um +unseren+ Gefühlen gegen ihn
gerecht zu werden.
Den Fürberg hinauf und um den Fürberg herum, in den verschneiten
Wäldern und Klüften dauerten die Scharmützel zwischen den Schweden
und den Kaiserlichen auch nach der Einnahme von Stadt und Schloß
Bregenz tagelang fort, und heute noch richtet auf dem Pfänder der
Turist den Blick oder das Fernrohr auf eine der großartigsten
Landschaftsrundsichten Europas aus den halbversunkenen Verschanzungen
jener blutigen Wochen.
Ein beträchtlicher Haufen der Sieger drang plündernd, sengend und
brennend tiefer in den Wald, scheuchte das Volk dörferweise vor
sich her, oder jagte es vereinzelt in unwegsame Felsenschluchten
oder versteckte Täler, wie solches seit dem Jahre 1618 bei allen
kriegführenden Parteien auf des römischen Reiches heiligem Boden
Brauch, Sitte und Gewohnheit geworden war. Auch unter dieser
Heldenschar befand sich der Korporal Sven Knudson Knäckabröd, und
dieser Expedition hatte er es zu verdanken, daß er im August des Jahres
1674 sich noch immer in der Gegend befand und am Tage des heiligen
Gebhard auf dessen von ihm, Sven, selber zerstörten Burg friedlich
und gemütlich vor dem Becher saß. An diesen schwedischen Streifzug
in den ersten Tagen Anno Domini 1647 knüpft sich nämlich einer jener
gar nicht seltenen schönen Züge weiblichen Mutes, weiblicher Wut und
weiblicher Tapferkeit, von denen uns die von den Männern geschriebenen
Geschichtswerke in verlegener und etwas bänglicher Bewunderung Kunde
geben.
Zwischen Lingenau und Hüttisau schlugen am 4. Januar 1647 die
vorarlbergischen Ehefrauen und Schmelgen, das ist: die jungen Mädchen,
die eingedrungenen Schweden bis auf den letzten Mann tot, und nur
der letzte Mann entkam, das heißt, er -- der Korporal Sven Knudson
Knäckabröd -- wurde schwer verwundet von der Wirtin zur Taube in
Alberschwende, Frau Fortunata Madlenerin, gefangen genommen und unter
sonderlichen Umständen von ihr gegen das blutdürstige Andringen der
erbarmungsloseren Kampfgenossinnen mit Erfolg verteidigt.
Die Männer, welche sich von diesem Überfall am „roten Egg“
wahrscheinlich aus Bescheidenheit fern gehalten hatten, durften
natürlich auch nicht in die dem Kampfe folgenden Verhandlungen
dreinschwatzen; sie läuten jedoch heute noch je am 4. Januar
Nachmittags zwei Uhr die Glocken zur Ehre und zum Gedächtnis der
Heldentat ihrer besseren Hälften.
Um zwei Uhr nachmittags lagen im blutigen Schnee am roten Egg die
schwedischen Grobiane, zerschmettert von Kugeln, Baumstämmen und
Felsentrümmern, zerhackt von Beil-, Schwert- und Hellebardenhieben,
still, und die Weiber vom Walde tanzten wutentbrannt um die Leichen.
Die Frau Wirtin zur Taube aber, eine junge Wittib, die keine geringe
Rolle in der Schlacht gespielt hatte, brachte eben ihr Beutestück,
nämlich den Korporal Knäckabröd, in Sicherheit.
Das hatte seine Schwierigkeiten! Denn kurz nachdem sie entdeckt hatte,
es sei noch einiges Leben in dem gleichfalls arg mitgenommenen armen
Sven, war dieselbe Bemerkung von drei anderen Kriegsgesellinnen
gemacht worden, und diese drei befanden sich noch nicht in der
Stimmung, den alten, lieben Beruf der Frauen, die barmherzigen
Schwestern und Krankenwärterinnen zu spielen, schon jetzt wieder
aufzunehmen. Im Gegenteil! Mit den Waffen in den Händen hatten sie
sich auf den unseligen, zappelnden Tropf gestürzt und wie die Frau
Fortunata zugepackt, und es gab ein arges Gezerr an Arm und Bein, an
den Fetzen des Wamses oder am Bandelier, und die Taubenwirtin hatte
alle Mühe, die erbosten Hiebe und Stöße durch ihr Geschrei oder
mit dem guten Schwerte, welches ihr seliger Gatte im Winkel hatte
stehen lassen, abzuwehren. Es war ein großes Glück für den Korporal
Sven, daß ihr Ansehen mächtig war unter den Wälderinnen, daß sie den
Plan zum Überfall angegeben hatte, und daß ihr Haus und Zeichen in
Alberschwende einen herrlichen Ruhm und Ruf besaß, weit hinaus nach
allen vier Weltgegenden; denn dem allein verdankte er sein Leben nach
der Niederlegung seiner Genossen an dem Fallenbache am roten Egg!
Als doppelte Siegerin führte ihn seine Retterin auf einem Karren
in ihr Haus zu Alberschwende unter der Lorena, ließ ihn da zuerst
hinter verriegelter Tür auf ein Strohlager neben ihrem Schanktisch,
dann in ein besseres Bett legen und besorgte den ersten Verband
seiner Wunden selber. Er aber erwachte erst nach längeren Wochen aus
seiner Betäubung und wußte dann durchaus nicht anzugeben, was mit ihm
vorgefallen sei, und wo er sich befinde.
Der Korporal Sven Knudson Knäckabröd wußte eigentlich noch heute,
d. h. im Jahre 1674, nicht, wo er sich eigentlich befinde, und das
war gar nicht so sonderbar. Seit er Anno Dreißig mit dem großen
Gustavus Adolfus, dem streitbaren Löwen aus Mitternacht, auf Usedom
in der pommerschen Bucht landete, war er sechzehn Jahre lang durch
solchen Wirrwarr hin- und hermarschiert, daß für einen Mann, der
nicht Gelegenheit gehabt hatte, die Geographie zu studieren, sich das
Bild der Welt wohl verwirren mochte. Hatte doch selbst der Oberst
Wrangel, unter dessen Kommando er damals seine Kriegszüge begann, und
der während der Zeit längst Feldmarschall geworden war, Mühe, sich in
dieser Beziehung die Landkarte klar zu halten.
„Donner und Nordlicht!“ sagte der Korporal am 7. August 1674, legte
sich schwer auf den rechten Ellenbogen und schlug mit der linken Faust
auf den Tisch. Ja wohl, ein Mann, dessen Leben dicht an der Grenze
des ewigen Eises, dem Nordpol nahe, begonnen hatte, der den Krieg mit
allen Nationen Europas, mit Deutschen, Franzosen und Hispaniern, mit
Italienern, Dänen, Polen und Moskowitern sah, der dann sechsundzwanzig
Jahre des tiefsten Friedens unter dem Hirtenvolk des Vorarlberges
vollendet hatte, mochte wohl bei einiger Überlegung seines Daseins:
Donner und Nordlicht! sagen.
Die Frau Fortunata hatte am Fallenbach wohl nicht gedacht, welch eine
schwere Last sie sich für die nächsten Zeiten durch ihr gutes Herz
auf den Hals lud. Sie bekam ihre große Not mit ihrem Schweden, dem
noch drei Jahre lang nach dem Sturm auf Bregenz das ganze Land rings
umher nach dem Leben stand. Es fand sich, daß sie ihn nur dadurch vor
allen den verschiedenen Nachstellungen retten konnte, daß sie ihn zur
Kindsmagd machte, dem wilden Arkebusierer ihr unmündig Töchterlein zur
Wartung in die Arme gab und ihn im Haus an ihr Schürzenband geknüpft
hielt, bis das erste Gras über die Blutzeit gewachsen war, bis die
Alten den „schwedischen Mann“ ohne Mordsinn ansehen konnten, und die
Jungen ihn als ein natürlich gegeben Ding nahmen.
Da saß der Korporal Sven Knäckabröd denn in den Bergen verzaubert
neben der Wiege der kleinen Aloysia: er, der mit dem glorreichen
und sieghaften König Gustavus Adolfus über das Meer gefahren war
und in hundert grimmigen Schlachten in die Linie rückte gegen den
Tilly, den Wallenstein, den Pappenheim und hundert andere gewaltige
Kriegshauptleute! Da saß er und spann nicht nur Trübsal, sondern auch
wirklichen Flachs und Werg, und wenn das Kind schrie, so rief die
Frau Fortunata: „He, Schwen, sing ihm!“ und der Korporal Sven Knudson
Knäckabröd sang.
Potz Lappland und kein Ende -- dabei ließ sich dann recht hübsch
an allerhand anderes denken! Zum Beispiel an die graue, nebelige,
flammende Ebene von Breitenfeld oder von Lützen, an den Kommandoruf vor
der Front, an die rasselnden Reitergeschwader, die blauen und gelben
Fußregimenter, wie sie gegen die kaiserlichen Batterieen am Floßgraben
vorstürzten, zurückfluteten, wieder vorstürzten, unter den Hufen und
Füßen die Toten und die Verwundeten in Harnisch und in Büffelwams
zerstampften!
Wenn dann wieder der Kommandoruf der Wirtin zur Taube in solche
Träumereien klang, gab es wohl ein sonderlich Auffahren, und ohne die
kleine Aloysia hätte das Ding am letzten Ende doch noch einen traurigen
Ausgang mit dem armen, verloren gegangenen schwedischen Mann genommen.

3.
Du lieber Himmel, eine Zeitlang, so um das Jahr 1665 herum, trug er,
der Korporal, sich mit dem Gedanken, ob er sich nicht dadurch am
leichtesten ranzionieren und zugleich seinem dankbaren Gemüte am
angenehmsten Genüge leisten könne, wenn er die junge Wittib freie
und selber Taubenwirt zu Alberschwende werde. Eine Weile lang hatte
der gute Sven die größte Lust, auch einmal das Wagstück auszuführen
und zu rufen: „Ho, Frau Fortunata, sing!“, aber zuletzt wagte er es
doch nicht, abgesehen davon, daß er seinen lutherischen Glauben, oder
vielmehr den Glauben hochseliger königlicher Majestät Gustavi Adolfi --
denn er selbst machte sich nicht viel daraus -- doch nicht gern in die
Schanze schlagen wollte.
Es blieb also dabei: „He, Korperal, sing!“ und Sven Knudson Knäckabröd
sang; aber wie melodisch, das wollen wir lieber doch nicht weiter
aufrühren. Er war eine gute Kindsmagd, und als seine Dienstjahre in
dieser Hinsicht als beendet angesehen werden konnten, da tat ihm das
fast leid, und als braver Veteran behielt er für alle Zeiten eine tiefe
Zuneigung zu dem frühern Dienstverhältnis. Als die kleine Aloysia zehn
Jahre alt geworden war, hatte das Gebirgsvolk so ziemlich vergessen,
auf welche Art und Weise der schwedische Mann in seine Mitte geraten
war, und die Frau Fortunata konnte ihn allein laufen lassen.
Er lief aber immer noch nicht allein; auch die kleine Aloysia Madlener
hielt fürderhin in Treuen an ihm, und die beiden schickten sich gar
wohl in einander im Dorf, im Wald und auf den Matten bei jeglicher Lust
und Arbeit.
Wer jene holdselige Gegend kennt, der weiß, daß im Süden des Dorfes
Alberschwende der Pfad sich steil, anfangs durch Gehölz und dann über
schöne Wiesen, zu einem Bergsattel emporzieht, die Lorena geheißen. Wer
ihn heute geht, der findet unterwegs, ehe er zu dem herrlichen Gipfel
gelangt, drei Sennhütten; um die Mitte des siebzehnten Jahrhunderts
aber lag nur eine dort, und diese ein wenig höher, der Kuppe näher,
am Rande eines Tannenwaldes, und die Hütte, der Wald und die Wiesen
ringsumher gehörten dem Taubenwirtshaus drunten im Dorfe, und die Frau
Fortunata hatte das Besitztum einst als ein trefflich Nestei dem jetzo
seliglich abgeschiedenen Gatten mit in die Ehe gebracht.
In dieses Haus auf der Lorena versetzte die Taubenwirtin ihr Beutestück
aus dem Schwedenkriege um das Jahr 1656, gab ihm Vieh und Weide zu
bester Pflege und Wartung unter, wie sie ihm vordem ihr Töchterlein
anvertraut hatte, und verwendete den Korporal wiederum also geziemlich
und nützlich.
„Sie sagen, ihr treibt auch daheim sonderliche Zucht mit allerlei
absonderlichen Kreaturen in Milcherei und Käserei, Schwen. Nun seid ihr
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