Christian Garve's Vertraute Briefe an eine Freundin - 7

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Ministers und seine noch unverheyrathetete Tochter waren die einzigen
Damen an der Tafel. Die Damen sprachen bloß französisch. Ueberhaupt
waren die Gespräche gleichgültig. Der Minister bestimmte selbst ihren
Gegenstand, und da sie größtentheils Begebenheiten betrafen, die ich
nicht wußte, so war es ganz natürlich, daß ich dabey stumm war.
Die Tafel dauerte bis 5 Uhr; und so wie der Minister aufstand, so ging
er auch ohne einen Augenblick zu warten, in sein Cabinet zurück, wo
ihn schon wieder eine ganze Menge Leute und Geschäfte erwarteten. Wir
unterhielten uns noch eine kleine Weile in dem Tafelzimmer. Herr von
Klöber sagte endlich, da er sahe, daß die Hoffnung, diesen Nachmittag
bey Sr. Excellenz vorzukommen, vergeblich wäre, daß wir uns beurlauben
wollten, und daß er dem Bedienten aufgetragen hätte, ihn zu rufen,
sobald der Minister nach ihm fragen würde. Von diesem Augenblicke an
nun weiß ich wieder nichts, und die ganze Sache ist noch nicht einen
Schritt weiter. Ich wünschte sie nur entschieden, nur auf irgend eine
Art entschieden zu sehn; denn die Ungewißheit ist unter allen das
schlimmste u. s. w.


Drey und zwanzigster Brief.

Den 28. Oktober.
Allemal, wenn ich mich niedersetze, an Sie zu schreiben, ist mein
Kopf von Gegenständen, die alle geschrieben seyn wollen, so voll, daß
ich über der Wahl endlich den größten Theil davon vergesse, oder mein
Brief und die Zeit schon zu Ende ist, wenn ich noch kaum über den
ersten Punkt heraus bin. Indem ich alsdann den Brief schließe, und
es empfinde, wie wenig ich Ihnen gesagt habe, und wie viel ich Ihnen
noch zu sagen hätte; so ärgere ich mich über den elenden Ersatz, den
ein kurzer kaum angefangener Brief für den Umgang mit einer solchen
Freundin, wie Sie sind, thun soll. Ich thue mit dem Kinde in Weisens
Liede den Wunsch:
O wenn ich doch ein Vogel wär,
So schnell und federleicht,
Der über Berg und Thäler hin
Im Augenblicke streicht!
Dann flög’ ich über Land und See,
Durchreiste jeden Ort,
Wär bald -- wo denn? Gewiß nirgends, oder doch nirgends öfter, als
bey Ihnen. Was für einen kleinen freundschaftlichen Schrecken würde
ich Ihnen nicht abjagen, wenn ich, ehe Sie sich es versähen, den
gegenüberstehenden Stuhl an Ihrem Fenster einnähme, indem Sie an
dem andern sitzen. Ich sehe schon zum Voraus, ich würde kein Wort
vorbringen können, ich würde stammeln, und wenn ich meine Stimme wieder
hätte, so würden es nur gebrochene Laute seyn, die ich vorbrächte. --
Weg, angenehme Schwärmerey, die geschwind genug meine Einbildungskraft
ganz anfüllen, und dann aus meinem Briefe alle wichtigere Gegenstände
verdrängen könnte! -- Nun habe ich mir in meinem Kopfe gewisse Punkte
geordnet, unter welche dieser Brief gebracht werden soll. Aber ich sage
sie Ihnen nicht zuvor, bis ich erst sehe, wie viel ich davon zu Stande
bringe. Sage ich jetzo nur wenig, so können Sie immer glauben, ich
habe nicht mehr schreiben wollen, da Sie sonst hätten denken müssen,
ich hätte nicht mehr schreiben können. Also zur Sache:
Zuerst fragen Sie mich in Ihrem vorletzten Briefe, ob ich Ihre Briefe
aufhebe? Die Frage würde fast eine kleine Beleidigung seyn, wenn
ich nicht, die Wahrheit zu sagen, ähnliche Beleidigungen auf meiner
Rechnung hätte. Meine Mutter ist die Depositaria davon, so wie von
Ihren Porträts. -- Also wollen Sie diese wirklich wieder haben? Ich bin
in der That so unverschämt gewesen, sie schon für ein halbes Geschenk
anzusehen. Unterdessen, wenn Sie über das Porträt Ihres Gemahls Herr
sind, so sind Sie es doch nicht über das Ihrige. Ich werde Ihnen das
erste zurück schicken, wenn Sie es so befehlen, aber ich werde dadurch
mein Recht auf das andere nur verstärkt glauben. Meine Mutter, die Sie
wahrhaftig liebt, würde an dem Schmerz Theil nehmen, den es mich kosten
würde, dieses kleine Stück von Ihnen selbst aus den Händen zu geben.
Indessen, wenn Sie darauf auch bestünden; so muß ich Ihnen nur sagen,
daß die Gelegenheiten, solche Sachen zu schicken, nicht so häufig sind;
und ich habe immer in meiner Macht, zu sagen, daß ich keine gehabt
habe. Sehen Sie eine andere kleine Beleidigung in Ihrem vorletzten
Briefe, die ich ungeahndet gelassen habe.
Aber nun auf Ihren jetzigen zu kommen, der so voll von Freundschaft
und gutem Herzen ist, und der mich würde zu Ihrem Freunde gemacht
haben, wenn ich es noch nicht wäre; so muß ich nur Ihre zu große
Demuth ein bischen schelten. Sage nur deiner Freundin, sagte meine
Mutter, indem sie Ihren Brief las: Eine Frau, die eine so edle Freude
an einer guten Handlung haben konnte, als die ist, die sie in ihrem
Briefe erzählt, kann vieler andern Vorzüge entbehren. Glauben Sie
nur, dieses Herz, welches Ihnen der Himmel gegeben hat, ist immer das
größte Geschenk, welches er einem Sterblichen machen kann. Ohne dieses
Herz ist der Verstand ein bloßes blendendes Licht ohne Wärme, und die
Schönheit eine unbedeutende Form. Aber dieses Herz kann der Schönheit
und selbst höherer Einsichten entbehren, und doch immer noch nicht
bloß liebenswürdig sondern verehrungswerth bleiben. Wenn aber diese
glückliche Verbindung zwischen Empfindung und Einsicht, zwischen dem
Kopf und dem Herzen vorhanden ist, die ich in meiner Freundin finde und
hochschätze, wenn der eine der Diener ist, die gutthätigen Absichten
des andern auszuführen: dann kann das Glück immer seine übrigen Güter
zurückhalten; die Natur hat ihm schon genug vorgearbeitet, um in jedem
Umstande, in jeder Verfassung, selbst unter den Beunruhigungen, die
eine Folge dieser Eigenschaften sind, die Person selbst glücklich, und
andre zu ihren Verehrern und Freunden zu machen. --
Um Sie nun in Ansehung meiner in Ruhe zu stellen, so muß ich Ihnen
sagen, daß, ob ich gleich noch keine Nachricht habe, ich doch die
Sache für entschieden halte, und auch recht zufrieden damit bin, daß
sie entschieden ist. -- Wenn man bey einer Reise in der Nacht lange
Zeit ohne seinen Weg zu sehen, fortgegangen ist, und nicht gewußt hat,
ob man nicht vielleicht in fremden und unwegsamen Wüsten herumirrt;
wenn dann auf einmal ein aufgehender heller Stern uns zeigt, daß wir,
ohne es zu wissen, noch immer auf dem rechten Wege sind, und von einer
unsichtbaren Hand geleitet, unvermerkt dem Ziele unsrer Bestimmung
näher kommen: dieser Freude ist diejenige gleich, die man fühlt,
wenn man mitten unter dem Zusammenlauf mannichfaliger und uns oft
unangenehmer Begebenheiten einen einzigen fortgehenden Plan erblickt,
der mitten unter diesen verschlungnen Irrgängen immer fortgesetzt
worden ist, und durch alle die Hindernisse, die uns beunruhigten, nicht
aufgehalten werden konnte.
Ich kann Ihnen nicht das ganze Räthsel erklären, wie ich zu dieser
Betrachtung komme. In der That aber glaube ich Ursache zu haben,
zufrieden zu seyn, wenn ich dem Minister mißfallen habe u. s. w.


Vier und zwanzigster Brief.

Den 11. November.
Lassen Sie uns immer einige unsrer Erwartungen fehlschlagen, der
Himmel versorgt uns dafür wieder mit Vergnügen, auf die wir weder
Anspruch noch Hoffnung hatten. So war der Brief, den ich gestern von
ihrem lieben Gemahl, so die zwey Briefe, die ich zu gleicher Zeit
von Herrn Weisen erhielt. Meiner Mutter und mir waren Ihre Briefe,
wenn nicht eben so unerwartet, doch gewiß eben so erwünscht. Alle
so voll von Freundschaft, Liebe, Zärtlichkeit, daß mein Herz in
unaussprechlichen Empfindungen überfloß, und wenn der Geist Kraft
genug hätte, diese Einschränkung des Raums und seine enge Wohnung zu
durchbrechen, wenn er, ohne seinen schweren Gefährten, den Körper,
mitzunehmen, mit ätherischer Leichtigkeit mit seinen Wünschen in
gleicher Geschwindigkeit sich bewegen könnte, so wäre Ihr Wunsch und
der meinige gestern erfüllt, ich hätte Sie alle, alle gesehn; auch ihn,
meinen guten und zu geschäftigen Freund, dem ich für den Brief, den er
an mich schreiben will, gern alle die erlasse, die er nicht geschrieben
hat. Ich danke es Ihnen recht sehr, liebster Freund (ich rede jetzt mit
Ihrem guten Manne), daß Sie für die Erhaltung meiner Freunde -- der
größten Glückseligkeit die ich kenne, -- oder welches eben so viel ist,
für meine Gewißheit, daß ich sie noch besitze, so viel Mühe und Sorge
über sich nehmen. --
Weise ist in der That einer von meinen schätzbarsten Freunden, und,
Dank sey es seinem gütigen Herzen, auch von meinen zärtlichsten. Ich
habe zwey lange Briefe von ihm bekommen, die beyde vortrefflich sind,
wenn sie nur nicht gar zu schmeichelhaft für mich wären. Meine Mutter,
die an meiner ganzen Correspondenz Theil nimmt, sorgt immer, meine
Freunde werden mich verderben. Und in der That, ich glaube beynah, ihre
Furcht ist nicht ganz ungegründet. -- Aber nun verderben oder nicht,
so werde ich doch nimmermehr zugeben, daß selbst die übertriebenen
Lobsprüche von Freunden mit Schmeicheleyen einerley wären. Wenn uns
die ersten in einen kleinen Irrthum über unsre Verdienste führen, so
sind sie zuerst selbst darin. Ihr Herz hat zuerst ihrem Verstande den
unschuldigen, und beynahe sagte ich, zur Freundschaft nothwendigen
Betrug gespielt; und hundertmal mehr können sie sagen, als wahr
ist, aber niemals ein Wort mehr als sie denken. Da fängt erst die
Schmeicheley an, wo der Ausdruck größer ist als die Gesinnung, und
unser Verstand den Werth des andern richtiger bestimmt, als unsre
Worte. --
Der eine Brief von Weisen war schon längst vorher geschrieben, und war
mit einem kleinen Geschenk von Büchern, das er mir bestimmte, einem
hiesigen Buchhändler übergeben worden, der eben erst gestern ankommen
mußte; der andre kam mit der Post, und den habe ich vielleicht zum
Theil Ihnen zu danken.
Darf ich Ihnen nun wohl noch erst sagen, daß gestern einer von meinen
angenehmsten Tagen gewesen ist, oder vielmehr Stunden, -- denn eine
von den größten Sonderheiten, ich weiß nicht ob der menschlichen
Natur oder der meinigen (leider vermischen sich diese beyde nur gar
zu oft in den Augen des Beobachters; aber genug, ich empfinde sie,
diese Sonderheit, und wie ich sie empfinde, so will ich sie Ihnen
ausdrücken; vielleicht entdecken wir wieder einen neuen Punkt, wo unsre
beyden Seelen an einander gränzen); und die seltsamste Wirkung des
Vergnügens ist gewiß Schwermuth; und demungeachtet ist es bey mir die
gewöhnlichste, wofern das Vergnügen nur mehr empfindlich als rauschend
ist. Wenn meine Seele nach der Befriedigung gewisser Begierden
geschmachtet hat, und sich diese ihr endlich mit einemmale anbietet;
so weigert sich die Seele gleichsam einen Augenblick, dieselbe
anzunehmen; sie entzieht sich dem Genusse eines Vergnügens, das sie
für zu schmeichelhaft hält, als daß sie sich gleich überzeugen könnte,
daß es für sie wirklich bestimmt ist, und das Herz verschließt sich
vor den Eindrücken, die es doch so sehnlich erwartete. Nach und nach,
wenn die erste Bestürzung vorüber ist, wenn sich die angenehmen Bilder
in der Einbildungskraft anhäufen, wenn die wiederholten, aber sanften
Schläge des Vergnügens diese muthwillige Unempfindlichkeit überwunden
haben, öffnet sich das Herz wieder; die Empfindungen strömen von allen
Seiten zu und erfüllen es; die Bewegungen werden lebhafter, das Gesicht
heitrer; unsre ganze Seele bekommt eine Art einer neuen Existenz, und
diese Empfindung von der Verdoppelung ihrer Kräfte verbindet sich noch
mit den Eindrücken des Vergnügens, um diesen glückseligen Zustand eine
Zeitlang zu erhalten.
Wer in diesen Augenblicken die Gabe zu gefallen, wenn sie auch ihm
sonst fehlt, nicht durch die Zauberkraft des Vergnügens erhält, der mag
es nur aufgeben, jemals zu gefallen. In der That ist ein von Vergnügen
durchdrungnes Herz schon an sich der angenehmste Gegenstand für den
Zuschauer; und außerdem hat der Mensch niemals mehr, als in diesen
Zeiten, seine eignen Talente zu seinem Gebote; seine Ideen werden
lebhafter, seine Einfälle gelingen, sein Witz verliert den Zwang und
die Steife; und alles, was er sagt, bekommt durch die harmonischen
Züge, mit denen sein Gesicht es bekräftigt, und durch eine gewisse
lebhafte und doch anständige Bewegung, mit dem es begleitet wird, mehr
Kraft und mehr Anmuth.
O wenn diese glücklichen Augenblicke fortdauern könnten! Ich habe von
der Macht des Vergnügens so große Ideen, daß ich glaube, es könnte
Trägheit in Feuer, und Dummheit in Witz verwandeln, wenn wir erst die
Kunst erfunden hätten, es dauernd zu machen. -- Aber so verzehrt sich
die Freude, wie eine Flamme, durch ihre eigne Stärke. -- Die Spannung
der Kräfte, ohne welche sie nicht entstehen würde, bereitet schon die
Erschlaffung vor, mit der zugleich die Schwermuth zurück kehrt; der
Genuß erfordert eine gewisse Anstrengung, die wir nicht gewahr werden,
weil sie angenehm ist, und die uns erst die darauf folgende Erschöpfung
entdeckt; und durch eine unausbleibliche Rückkehr, die ein Gesetz der
ganzen Natur ist, sinkt die Seele eben so tief unter ihre gewöhnliche
Höhe, als sie sich über dieselbe erhoben hatte.
Ich sehe, ich verliere mich in einer Art von Philosophie, die für
mich alle Mal gefährlich ist. Ich grüble vielleicht gar zu gern über
meine eignen Empfindungen, und oft verliert sich mir der Gegenstand
aus dem Gesichte, indem ich seine Wirkungen aufsuchen will. -- Was
ich eigentlich zu sagen vorhatte, ist dieß. Eine so große Anzahl von
Beweisen der Zärtlichkeit und Freundschaft der würdigsten Personen
hatten meiner Seele eine gewisse Selbstzufriedenheit gegeben, die nicht
Eitelkeit, -- aber doch höchst süß ist. Aber eben diese verlor sich mir
unter der Hand, als ich sie eben erst bemerkte. Auf sie folgte eine
gewisse Furcht, daß einmal eine Zeit kommen könnte, wo diese Freunde
von mir richtiger oder strenger urtheilten; eine Art von Kummer, wie
ich so vortheilhaften Meinungen und so günstigen Erwartungen, die sie
von mir hätten, ein Gnüge leisten könnte. -- Ich schien mir unter
einer Art von Verbindlichkeit zu erliegen, die mir ihre Gütigkeit
auferlegt hatte, und indem ich mein eignes nichtsbedeutendes Selbst
mit dem vergrößerten und geschmeichelten Bilde verglich, welches sie
als ähnlich mit mir annehmen; so wurde mir angst, daß ein solcher
Irrthum einmal vielleicht aufgehoben werden, und irgendwo ein solcher
unglücklicher Brunnen seyn möchte, wie ihn Ariost beschreibt, der,
wenn man ihn kostet, alle Verblendungen der Liebe heilt, und dem
bloßen kalten Verstande alle seine Freyheit zurück giebt, zu prüfen.
Dieser Wunsch, meinen Freunden zu zeigen, daß ich ihrer nicht unwürdig
sey, mit der Unmöglichkeit, die ich vor mir zu sehen glaubte, ihn zu
befriedigen, brachte eine Art von Aengstlichkeit in mich, die endlich,
ohne ihren Gegenstand zu wissen, nach etwas suchte, was mir fehlte, und
was sie doch nicht finden konnte.
Sehen Sie nun, würde eine andre Freundin, gegen die Schwachheiten
ihres Freundes weniger nachsichtig als Sie, eine solche Anatomie
seiner eignen Thorheiten ertragen; besonders wenn ich darüber das
vergesse, was Sie eigentlich von mir wissen wollten, und was ich auch
zu schreiben im Sinne hatte? -- Herr von Grischanowsky ist beynahe
alle Tage bey uns, wenigstens eine oder zwey Stunden. Meine Mutter ist
ihm seines wirklich guten Herzens wegen recht gut worden. In der That
habe ich in ihm noch weit edlere Gesinnungen entdeckt, als ich selbst
in Leipzig in ihm kannte. -- Aber sein Hofmeister -- ob er gelehrt
ist, das mag er selbst am besten wissen, -- aber daß er höchst grob,
unempfindlich gegen alle Höflichkeit, bäurisch stolz, und ohne alle
Annehmlichkeit im Umgange ist, das wissen wir leider alle, die wir ihn
in unsrer Gesellschaft gehabt haben. Jetzo bitte ich nur immer den
jungen Herrn ohne ihn u. s. w.


Fünf und zwanzigster Brief.

Den 18. November.
O wenn Sie wüßten, was mich Ihr Brief für einen traurigen Tag gekostet
hat, Sie würden ihn nicht geschrieben haben, oder Sie schrieben
heute einen zweyten, um ihn zu widerrufen! Aber gewiß, gewiß, Sie
werden keinen schreiben. -- Ich lese ihn wieder, Ihren Brief, und er
beunruhigt mich noch mehr. Ich sollte weniger zärtlich gegen Sie seyn,
-- ich sollte mich dem Brunnen des Ariosts nähern, +von dem einige
Freunde vielleicht schon getrunken haben+. Wer sind diese Freunde?
-- Setzen Sie einmal (um einen Satz, den ich nur in Absicht auf mich
wahr hielt, auf die Freundschaft überhaupt auszudehnen), setzen Sie,
daß eine Art von Uebertreibung dazu gehöre, um den Grad von Liebe
hervor zu bringen, ohne den die Freundschaft kalt und die Ehe in
kurzem beschwerlich ist; setzen Sie, daß unsre Einbildungskraft die
Vollkommenheiten unsers Lieblings vergrößern müsse, wenn sie das Herz
mit der gehörigen Stärke treffen sollen; setzen Sie dieß alles: so
behaupte ich doch, daß selbst diese Verblendung Größe des Geistes
voraus setze, und daß es Stärke des Geistes sey, sie zu erhalten.
Achten Sie also ja nicht meine Theorie für so gefährlich, daß sie den
Kaltsinn für eine natürliche Folge der Ueberlegung erklären sollte.
Wenn er eine beständige Eigenschaft unsers Herzens ist, so ist es
Kleinheit, und folgt er auf einen feurigen Anfang, so ist es Schwäche
der Seele. -- Sie hatten neulich eine Philosophie der Liebe von mir
verlangt. Hier sind einige kleine Züge davon, auf die mich diese
Betrachtungen natürlicher Weise leiten.
Man kann immer sicher vermuthen, daß in den Meinungen etwas Wahres
sey, die allgemein von den Menschen angenommen werden; und die in den
rohesten Zeiten zuerst. Die Wirkung der Natur, und die Gesinnungen,
die unmittelbar durch den Einfluß der Dinge um uns herum hervor
gebracht werden, erkennt man am besten in den Epoquen, wo wenig andre
Principien der menschlichen Gedanken vorhanden sind. Nun in diesen
Zeiten war Tapferkeit und Liebe die größte Tugend der Männer, und
Keuschheit, oder mit einem andern Worte, Beständigkeit und Treue das
einzige Verdienst der Frauen. Die Rittergeschichten, so ausschweifend
sie sind, vergnügen mich demungeachtet um dieser richtigen und mit der
Natur harmonirenden Grundsätze willen, die allenthalben durchblicken,
und ohne die selbst diese Ausschweifungen nicht Statt gehabt hätten. --
Wenn die Philosophie sich nun damit bemengt, den Grund dieser Gesinnung
zu erklären, so kann es seyn, sie geräth auf falsche Ursachen; der
Zusammenhang dieser Leidenschaft mit den wesentlichen Vollkommenheiten
des Menschen kann vielleicht durch eine ganz andre Kette gehen, als die
ich einsehe; -- aber sie thut demungeachtet ihr eigentliches Werk, sie
ist in ihrem Berufe. Denn wozu soll Philosophie, wenn sie nicht die
Meinungen und Neigungen, die die Seele einnehmen, ohne daß sie weiß,
woher sie sie hat, als Phänomene behandelt, deren Ursprung gefunden
werden soll? Meine Erklärung ist diese.
Jede unsrer Ideen ist nach einem gewissen Eindrucke gebildet, den die
Empfindung zuerst in unsrer Seele hervor gebracht hat. Diese Eindrücke
zergliedern, zusammen setzen, anders ordnen, als sie zuerst in die
Seele gekommen sind, das ist alles, was die Seele damit thun kann.
Ideen, deren Theile nicht ursprünglich sinnliche Eindrücke wären, sind
unmöglich. Der Umfang, die Lebhaftigkeit, kurz alle Vollkommenheiten
unsrer Ideen (und diese machen doch wohl den eigentlichen Vorzug des
denkenden Wesens aus) hängen von der Beschaffenheit dieser ersten
Impressionen ab. Sind die Gepräge, die die Gegenstände in unsrer Seele
abdrücken, richtig und vollständig, so werden ihre Kombinationen
ebenfalls richtig seyn, und der Kopf wird helle; sind sie tief und
stark, so werden ihre Kombinationen lebhaft und eindringend, und der
Geist wird schön. Die Kraft zu empfinden ist also die vornehmste
Fähigkeit der Seele, nach deren Größe sich die übrigen richten. Sie
verschafft die Materialien, aus welchen die übrigen bauen; sie bemahlt
zuerst die leere Fläche der Seele mit den Bildern, aus denen die
übrigen auf eben die Art neue machen, wie Apelles seine Venus aus den
schönsten Theilen der Mädchen von Gnidus zusammen setzte. Die Größe
der Seele besteht in der Fähigkeit, viele und große Eindrücke auf
einmal zu bekommen, und sie ohne Verwirrung zu erhalten. Die Stärke der
Seele, in der Fähigkeit, einmal empfangene Eindrücke nicht durch den
beständigen Zufluß von neuem verlöschen zu lassen, sondern sie gegen
das unaufhörliche Reiben neuer Ideen unverletzt zu erhalten. --
Sie sehen schon, wie nahe wir zu Ihrer Lieblings-Leidenschaft gekommen
sind. Eben dieselbe Lebhaftigkeit, dasselbe Feuer der Impression, durch
welche große Geister gebildet und große Unternehmungen vorbereitet
werden, bringt diese reizende Tochter, die Liebe, hervor, wenn
die Vollkommenheiten eines andern denkenden Wesens der Gegenstand
sind. Eben diese Dauer, dieses Anhalten der Impression, welche dem
Mathematiker die langwierigsten Untersuchungen zu Ende bringen
hilft, und die weitaussehendsten Entwürfe durch alle Hindernisse und
Schwierigkeiten verfolgt, bringt die Treue in der Freundschaft, und
die Beständigkeit in der Liebe hervor. Wenn sich nun noch mit der
Empfindung, welche Vollkommenheit und Schönheit erregen (und das ist
alles, was bey der Freundschaft nothwendig ist), noch diese süße
Wallung, dieses Gefühl von Lust verbindet, die das Eigenthum der Liebe
ist; wenn der Körper, sonst ein Störer unsrer geistigen Vergnügungen,
sie hier unterstützt, und seinem edlern Theile zu neuen Quellen von
Empfindungen verhilft: dann steigt vom Himmel diese ehrwürdige Göttin
herab, und knüpft zwey menschliche Wesen mit unauflöslichen Banden
an einander; dann weist sie jedem von ihnen als den vornehmsten
Gegenstand und die größte Uebung seiner Empfindungskraft, seinen
Geliebten an. Von ihm soll die Seele diese ewig dauernden Einflüsse
bekommen, die ein Beweis und eine Ausübung ihrer eignen Kraft sind.
Durch diese Gewohnheit gestärkt, und durch diese unaufhörliche
Uebung erhöht, soll seine Empfindung sich von da aus über das ganze
Gebiet von Vollkommenheit und Schönheit ausbreiten; sich nach jeder
Tugend, jeder Vortrefflichkeit ausstrecken, dieselbe umfassen, und
durch eine untergeordnete, aber eben so unveränderliche Liebe mit
sich verbinden. -- So wie die allgemeine Menschenliebe durch die
beständige, aber stufenweise Erweiterung der Familienliebe entsteht;
so wird in edlen Seelen die Tugend durch die Liebe geboren. Die in dem
Geliebten koncentrirte Empfindung entwickelt sich, und geht von einer
Vollkommenheit zur andern, die alle zusammen in dem Gegenstande der
Liebe durch ein dunkles Gefühl wahrgenommen wurden. Die Seele erlangt
die Macht, den äußern Dingen und dem Strome ihrer eignen Ideen zu
widerstehn; sie lernt, mitten unter den beständigen Revolutionen, die
der stets veränderte Eindruck der äußern Dinge in unsern Gesinnungen
hervor zu bringen sucht, die Ideen, die ihr wichtig sind, aufrecht zu
erhalten; und so lehrt die Liebe einen verständigen Geist denken, und
ist die Vorbereitung zur Tugend für das Herz u. s. w.


Sechs und zwanzigster Brief.

Den 21. November.
Noch ist die Sonne nicht über dem Haupte meiner schlafenden Freundin
aufgegangen. Aber ich, von der Freundschaft und der Begierde bey ihnen
Ihnen zu seyn aufgeweckt, empfinde ein weit süßer und höher Vergnügen,
als Sie selbst in den Armen des Schlafs. Unter dem Schirme dieser
stillen und ehrwürdigen Dunkelheit, die noch Ihr Schlafzimmer bedeckt,
kann ich ungestört den angenehmen Schwärmereyen nachhängen, die von
dem Gelärme und den Zerstreuungen des Tages verdrängt werden. Mich
dünkt, ich sehe Sie mit der Miene der Unschuld, und mit einem gewissen
sanften Lächeln, das durch fröhliche Träume hervor gebracht wird, an
der Seite Ihres lieben Gatten. Wenn Ihre tugendhafte Seele, für die
Ruhe und Glückseligkeit erschaffen, zuweilen durch die verdrießlichen
Zufälle des Tages aus sich selbst heraus gerissen, und mit einer
unruhigen Heftigkeit von Gegenstand zu Gegenstand umher getrieben wird,
so kehrt sie doch des Nachts wieder zu sich selbst und zu der Wohnung
der Zufriedenheit und der Ruhe zurück. Der Geist, der des Tages über
oft von seinem Gefährten, dem Körper, Befehle annehmen mußte, wird
nunmehro ganz wieder sein eigen, und bringt unter den Bildern, die
ihm vorher aufgedrungen wurden, jetzo nur die reinsten und schönsten
wieder hervor. O möchten Sie doch beym Erwachen diese muntre und
fröhliche Heiterkeit, diese Erhöhung Ihrer Kräfte, diese wiedererlangte
Leichtigkeit fühlen, die eines solchen Schlafs unausbleibliche
Frucht ist. O möchten doch meine Wünsche über Ihren heutigen Tag den
glücklichen Einfluß haben, daß dieses Licht, welches Sie jetzt zum
ersten Mal erblickt, keine andern, als die Scenen der Liebe, der
Tugend und der Freundschaft erleuchtete. Möchte der Himmel Ihnen heute
manchen Unglücklichen in den Weg führen, dem Sie beystehen, manchen
Rechtschaffenen, dessen Glück Sie befördern können! Möchte Ihre Seele,
wie die Fläche des Meeres an einem stillen Morgen, von keinem Sturme
bewegt, das Bild des Himmels in sich auffangen, und dem betrachtenden
Zuschauer, Ihrem Gemahl oder Ihrem Freunde, in gemildertem aber
unverfälschtem Glanze wieder zurück werfen. Nun gehe ich zu meiner
alten Materie fort.
Wenn die Metaphysik der Liebe, die in den Französischen Dichtern und
Schriftstellern so häufig ist, ein elender Ersatz für die wirklichen
Ergießungen der Empfindung ist, die wir in der Julie von Shakspeare
oder Rousseau finden; so wäre sie doch immer ein sehr wichtiges Stück
von Psychologie, wenn man nur mehr die Art, wie diese Leidenschaft
entsteht, und die Zusammenstimmung der verschiedenen Fähigkeiten der
Seele, die da seyn muß, wenn sie zu einem gewissen Grade gelangen soll,
erklärte, als alle die kleinen Symptome, die sich bey ihrer Gegenwart
äußern, und die doch so oft nur von der Galanterie erzeugt, und von der
wahren Empfindung, wie von einem zu heftigen Feuer, verzehrt werden.
-- Man kann schon daraus, daß diese Leidenschaft so selten ist, und
daß von tausenden, die sich mit einander verbinden, oft nur zwey von
dieser himmlischen Göttin einander zugeführt werden, -- schon daraus
kann man vermuthen, daß diese Eigenschaft, welche die Seele des Feuers
der Empfindung fähig macht, eine eben so seltne Gabe sey, als die,
welche den Verstand zur Hervorbringung neuer Ideen in den Stand setzt.
Die Geschichte macht gewissen großen Männern, deren Andenken sie
uns aufbehalten hat, eine Schwachheit aus ihrer Liebe. Aber gewiß,
diese Geschichtschreiber waren keine Philosophen; sie verstanden es
nicht, daß eben dieselbe Quelle die beyden Ströme der Empfindung und
der Einsicht ausgießt; daß die Fähigkeit zu großen Leidenschaften
die großen Männer hervor bringt; und daß Heinrich, wenn er in Nacht
und Nebel, in einem Bauerkittel verkleidet, sich mitten durch die
Postirungen und Wachen der Feinde zu seiner geliebten Estrées
schleicht; wenn in dem heftigesten Anfalle körperlicher Schmerzen diese
Emfindung dennoch bey ihm siegt, und er am Rande des Grabes seiner
Estrées noch schreiben konnte: ~Mon premier penser est à Dieu, et le
second à Vous~; eben dieselben Fähigkeiten des Geistes brauchte, durch
die er der große Feldherr und der vortreffliche König wurde.
Ich habe die Liebe neulich blos als eine Folge von Eindrücken
angesehen, deren Stärke und Dauer zeigt, wie sehr die Seele fähig ist,
lebende und bleibende Bilder der äußern Gegenstände zu empfangen. Aber
die Seele verhält sich nicht blos leidend; es sind nicht Wirkungen,
die nur auf sie geschehen, und denen sie nur nicht widerstehen darf.
Ihre eigne Kraft muß diese Eindrücke beleben, sie fest halten, sie
in diejenige Form bringen, in welcher sie ihren Einfluß noch immer
auf dieselbe fortsetzen, wenn sie gleich selbst ihre erste Stärke
verloren haben. Akenside macht in seinen ~Pleasures of Imagination~
eine vortreffliche Anmerkung, die für den Moralisten, und ich denke
auch für den Liebhaber, höchst wichtig ist. Gewisse unsrer Pflichten
und unsrer schönsten Neigungen beruhen auf einer Art von Illusion, die
nur durch eine starke und mächtige Einbildungskraft aufrecht erhalten
werden kann. Von der Art ist die Vaterlandsliebe. Der Begriff von
Societät ist viel zu allgemein und abstrakt, und die Bande, mit welchen
wir an diesen Haufen unbekannter und uns gleichgültiger Menschen
geknüpft sind, wären für uns viel zu schwach, um uns Gefahr und Tod für
diese leicht zu machen: wenn nicht die Einbildungskraft an die Stelle
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