Christian Garve's Vertraute Briefe an eine Freundin - 4

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in einen entfernten Ort mit sich führet. Was blieb mir also bey dem
Wunsch und beynahe bey dem Bedürfniß, das ich hatte, nach Sachsen
zurückzukommen, was blieb mir anders übrig, als eine Art von Beruf
zu wünschen, die mir mehr und stärkere Ursachen verschaffte, mein
Vaterland wieder zu verlassen, als meine bloße Neigung seyn konnte.
Dieses war die erste Ursache, warum ich eine Hofmeisterstelle wünschte,
zu der mich sonst nicht Noth noch eine sehr große Lust, Hofmeister zu
seyn, antrieb. Diesen Gesichtspunkt einmal festgesetzt, erschien mir
die Sache auch von andern Seiten vortheilhaft, so wie gemeiniglich,
wenn unsere Neigung festgesetzt ist, unser Verstand die Mühe über
sich nimmt, sie durch Gründe zu rechtfertigen, die doch nichts dazu
beygetragen hatten, sie hervorzubringen. Ich fand als Hofmeister
eines jungen Herrn von Stande meine Lust, die Welt, und wenn es seyn
könnte, die große Welt etwas kennen zu lernen, befriedigt; ich sah
in der Ferne die Aussicht zu Reisen. Endlich glaubte ich, daß, wenn
sich durch diesen Weg die Schwierigkeiten des akademischen Lebens,
besonders in Leipzig, etwas erleichtert hätten, wenn es dadurch für
mich wahrscheinlicher geworden wäre glücklich zu seyn, als es für
jeden andern ist, der mit eben so viel Zuversicht, wie ich, seine
Vorlesungen anschlägt: daß, sage ich, ich alsdann meine Verwandten und
Freunde durch stärkere Gründe würde bewegen können, einen beständigen
Aufenthalt in Leipzig genehm zu halten. Dieses sind die Ursachen, warum
ich es für nothwendig gehalten habe, unter einem von beyden Vorschlägen
wählen zu müssen.
Wenn sich keine solche Gelegenheiten angeboten, oder wenn ich sie
ausgeschlagen hätte; wissen Sie, was für ein Entwurf an dessen Stelle
getreten wäre? Ich würde diesen Winter in B**** geblieben seyn. (Und
würde ich wohl diese Bitte meiner Mutter haben abschlagen können, wenn
ich ihr weiter nichts, als bloß die Begierde lieber anderswo als bey
ihr zu seyn, zum Bewegungsgrunde hätte vorzulegen gewußt?) Man würde
während der Zeit Versuche auf mich gethan haben, meinen Aufenthalt in
meinem Vaterlande beständig zu machen. Wenn ich gegen alle Vorschläge
hartnäckig genug ausgehalten hätte, so würde ich endlich künftige
Ostern nach Halle gegangen seyn, und zu lesen angefangen haben. Ich
weiß, daß dieß doch vielleicht das Ende der Sache seyn wird. Aber
genug, ich bin zufrieden, wenn es nur jetzt nicht geschieht, und wenn
ich noch zuvor das Ziel von Geschicklichkeit und Wissenschaft an einem
dazu weit bequemern Orte erreiche, ohne welches ich mich selbst für
einen unwürdigen Lehrer der Akademie halten würde. --
Was nun die Wahl unter beyden betrifft, so war die Zeit zur Ueberlegung
kurz; meine Neigung durch die Vortheile der Nation des Ministers, und
durch die Vortheile des Orts bey der andern getheilt; meine Mutter
höchst unschlüssig, furchtsam, mich den Schwierigkeiten und Gefahren
bloß zu stellen, die sie im Dienste der Großen für mich zu finden
glaubte, und doch auch ungewiß, ob die Vortheile diese Gefahren nicht
überwiegen; ich selbst nicht vermögend genug, sie von allen Umständen,
die die J..sche Condition heruntersetzen, zu unterrichten, und nicht
dreist genug, mir alle die Talente zuzuschreiben, die des Grafen seine
zu erfordern schien. Was konnte ich thun, um mich und sie zugleich
zu beruhigen, als die Entscheidung einem Manne auftragen, der beyde
Stellen besser kennen muß, wie ich. --
Noch ist von ihm keine Antwort da. Wenn er für die J..sche entscheidet,
so bestehe ich durchaus auf der Bedingung, Collegia lesen zu dürfen.
Ohne das wird nichts daraus; das versichere ich Sie heilig. Und nun,
l. F., verlassen Sie mich nicht mit Ihrer Liebe, Ihrem Rathe und mit
Ihrem Beystande. In unserer Freundschaft finde ich einen Trost, der mir
jede Schwierigkeiten leichter überwinden, und jeden Kummer ertragen
hilft u. s. w.


Dreyzehnter Brief.

S***witz den 12. Aug.
Wenn Sie noch mehr solche schöne Briefe, und solche angenehme
Erzählungen nach S**** schreiben, so werden alle meine Freunde anfangen
auf mich neidisch zu werden. Wenn Sie nur sehen sollten, mit was für
Begierde hier Jedermann Ihre Briefe erwartet, mit wie viel Ungeduld
wir uns nach dem Bothen umsehen, der sie uns bringen soll, und wie
wenig einer dem andern Zeit lassen will, sie durchzulesen. Sie können
glauben, daß ich mir nicht wenig darauf zu Gute thue, daß an mich die
Briefe zuerst kommen, und daß ich nicht nur dieses Vergnügen zuerst
genieße, sondern es auch alsdann in meiner Macht habe, Gefälligkeiten
damit auszutheilen.
In der That, ich würde meine hiesigen Freunde nicht so hoch schätzen,
wenn sie das Glück, eine solche Freundin zu besitzen, nicht für
beneidenswerth hielten. Meine Mutter insbesondere, die jeder Beweis
von der Rechtschaffenheit ihres Sohnes mehr als alles erfreut --
(und welcher Beweis könnte stärker seyn, als der, daß er von solchen
Freunden ihrer Gewogenheit werth gefunden wird?) meine Mutter ist so
sehr von ihren Briefen eingenommen, daß ein Posttag ohne Briefe ihr
beynahe schon eben so viel Unruhe macht, als mir selbst. Darf ich es
Ihnen wohl erst sagen, daß uns der letzte diese Unruhe gemacht hat?
Denn in der That hatten wir Herz genug, drey Tage nach dem Empfang
Ihres letzten Briefes schon wieder einen neuen zu erwarten.
Ich habe immer geglaubt, man müsse den Menschen aus den Gegenständen
seines Vergnügens kennen lernen. Ich habe Leute gesehen, die in ihren
Geschäften vernünftig genug schienen, und die sich doch nach geendigter
Arbeit in der elendesten Gesellschaft und durch die abgeschmacktesten
Zeitvertreibe erholen konnten. Diese Leute könnte ich nimmermehr zu
meinen Freunden machen. Wenn ich aber Jemand, so wie meine Freundin,
sich an dem Anblick einer tugendhaften und glücklichen Familie erfreuen
sehe; wer durch den Anblick einer zärtlichen und sorgfältigen Mutter,
eines gütigen Herrn, liebreicher und gutgearteter Bedienten, kurz eines
solchen Hauses, wie Sie mir das Gärtnersche beschreiben, gerührt wird,
für dessen Güte bin ich Bürge, und ohne ihn zu kennen, öffnet sich
schon mein Herz gegen ihn zu sympathetischen Empfindungen.
Wie gern möchte ich der Rektor von Königsbrück in dem Augenblick
gewesen seyn, da Sie ihn in seinem Hause überraschten. Ich habe
mich schon oft darüber gefreuet, daß das Schicksal einige unserer
Begebenheiten eben so ähnlich gemacht hat, als es unsere Empfindungen
sind. Ich weiß, Sie sagten mir einmal, daß Sie von allen Ihren Lehrern
wären außerordentlich geliebt worden. Der Besuch in Königsbrück hat
mich wieder an dieses Gespräch erinnert. Mein gütiges Schicksal hat
mir eben so nachsehende, oder eben so liebreiche Lehrer gegeben. Alle
sind meine Freunde gewesen, und haben mich mit einer vorzüglichen
Gewogenheit beschenkt. Sie wissen, daß ich jetzt sogar in dem Hause
meines Lehrers wohne, der aber noch weit mehr mein Freund ist. --
Von diesem glücklichen Montage, wo Sie vergnügt waren, weil Sie andere
vergnügt machten, habe ich Sie mit Freuden wieder zurück an die
Stelle begleitet, wo Sie sonst oft von einem andern mehr ungestümen
Freunde überfallen wurden, der bey Ihnen alle Mal seine Ruhe und seine
Heiterkeit wieder fand, wenn er beydes durch seine eigene Schwäche,
oder durch unglückliche Nachrichten von seinen Freunden, verloren
hatte.
Die Beschäftigungen der Ehegattin, der Hausfrau, der Mutter haben mir
immer die edelsten geschienen, die ein menschliches Geschöpf einnehmen
könnten. Sie sind mir aber jetzt noch viel mehr werth, da ich weiß, daß
es die Beschäftigungen meiner Freundin sind. Ich stelle sie mir hundert
Mal des Tages in jedem dieser Geschäfte vor, und entwerfe mir von ihrem
ganzen Leben den schönsten und vortrefflichsten Plan. Von einer Stufe
der weiblichen Vollkommenheit zur andern führe ich Ihre Wilhelmine
bis zu dem Augenblicke, wo Sie sie einem glücklichen und tugendhaften
Manne zuführen, für den Ihre Sorgfalt sie zubereitet hatte. Indeß, daß
Sie in dieser Ihrer Erstgebohrnen schon alle Freuden und Belohnungen
einer Mutter fühlen, theilen sich noch andere Kleinere in die Sorge und
die Arbeiten einer Mutter. So erblicke ich Sie endlich am Ende Ihrer
Laufbahn, unter der Gestalt einer ehrwürdigen Shirley, das Haupt und
die Krone einer ganzen sich immer mehr ausbreitenden Familie, die durch
Dankbarkeit, durch Hochachtung, durch Liebe, durch alles, was die Natur
zärtliches hat, an Sie gebunden ist. Wenn denn von einem Winkel der
Erde, wo Ihr Freund die Erfüllung seiner Wünsche nur aus der Ferne,
aber doch mit der lebhaftesten Bewegung seines schon matt gewordenen
Herzens hört, wenn er sich aus diesem Winkel einmal hervorbegiebt, um
noch seinen letzten Tagen die Glückseligkeit zu geben, seine Freundin
glücklich zu sehen, und sich unter den Haufen ihrer Kinder mischt --
und ihre Hand mit den Thränen der Freude und Zärtlichkeit benetzt; --
welchen Monarchen würde ich alsdann beneiden?
Sie werden sagen, ich machte Schimären. Aber lassen Sie mich sie immer
machen; sie sind oft viel angenehmer als die Wirklichkeiten. Und
glücklich müssen Sie doch seyn mit den Gesinnungen und dem Herzen,
welches Sie haben; Sie mögen es nun werden, auf was für eine Art Sie
wollen. Und ich muß an Ihrer Glückseligkeit Theil nehmen, als Ihr
Freund -- oder als Ihr Schutzgeist. Denn auch bis dahin führt mich
oft meine Einbildungskraft, wenn sie in der gehörigen Mischung von
Melancholie und Vergnügen ist. Ich prophezeihe mir ein kurzes Leben,
und ich bin sehr damit zufrieden. Ich wäre es noch mehr, wenn ich nur
noch zuvor etwas Gutes gethan, und eine Spur von meinem Daseyn zurück
gelassen hätte. In allen Fällen werde ich doch nicht glauben, umsonst
gelebt zu haben, wenn ich auch nur einen Menschen zurück lasse, den ich
besser oder glücklicher gemacht habe. --
Ich habe von Gellerten noch keine Antwort. Unterdessen habe ich ihm den
Aufsatz geschickt. Wie gern hätte ich zuvor unsern gemeinschaftlichen
Freund zu Rathe gezogen. Ich verwahre die Kopie für ihn, um sein
Urtheil noch hintennach zu erfahren. --
Und nun empfehle ich Sie und Ihren geliebten -- auch von mir geliebten
guten ** der Vorsicht und der Beschützung des Himmels, und trage es
diesem freundschaftlichen gütigen Mond auf, der eben jetzt über meinen
Gesichtskreis kommt, Sie mit seinen Strahlen zu begrüßen -- und Sie an
Ihren Freund zu erinnern, wenn Sie ihn unter bessern Freunden vergessen
sollten u. s. w.


Vierzehnter Brief.

Breßlau den 26. Aug.
Wenn der Brief in eben dem Augenblicke zu Ihnen kommen könnte, in
welchem ich ihn schreibe, wenn ich tausend Empfindungen mit einem Worte
ausdrücken, und die ganze Fülle meiner Seele ohne Zeichen, durch eine
Art von Inspiration der Ihrigen mittheilen könnte, dann, glaube ich,
würde die Ungeduld gestillt werden, mit welcher ich jetzt diesen Brief
anfange. Die Zeit, bis er zu Ihnen gelangt, scheint mir unermeßlich;
und ich wollte gern, daß Sie es diesen Augenblick wüßten, daß nur
der Zufall, nicht Ihr Freund an Ihrer Unruhe schuld gewesen ist; daß
er eben dieselbe Unruhe um der nämlichen Ursache willen ausgestanden
hat; und daß, so gern er jeden sorgenvollen Augenblick aus Ihrem Leben
austilgen wollte, ihm doch diese Ihre Bekümmerniß, mehr als jedes
andere Zeichen Ihrer Freundschaft schätzbar und theuer ist.
Ja in der That, l. F., das Schicksal hat sich recht bemühet, unsere
Seelen die letzte Woche mit einerley Gedanken und mit eben denselben
Bekümmernissen einzunehmen. Ihr Brief, (der, den ich in S**** schon vor
acht Tagen erhalten sollte) blieb aus, und ich fand ihn nicht eher, als
des Sonntags bey meiner Zurückkunft in B****. Ich weiß nicht, warum
Ihre Briefe gerade da am ehesten ausbleiben müssen, wenn ich sie am
meisten wünsche. Denken Sie nur, ich trug schon die ganze Woche vorher,
aus Ursachen, die ich mir so wenig erklären, als ihre Wirkung aufheben
kann, einen gewissen stillen mehr nagenden, als heftig beunruhigenden
Verdacht mit mir herum, Sie wären mir nicht mehr so gut, als vordem.
Sie wissen, Gründe richten sehr wenig gegen Empfindungen aus. Ich
erwartete also Ihren nächsten Brief, um meine Furcht und mein Mißtrauen
zu beschämen. Wir konnten den Tag, an welchem Ihre Briefe ankommen,
keinen Boten in die Stadt schicken, und diese Briefe (so dachte ich
damals) blieben also auf der Post bis den folgenden Tage liegen. Ein
sehr unangenehmer Verzug, der aber die Begierde und die Erwartung noch
mehr schärfte. Endlich hatten sich die Stunden bis zur Ankunft des
Boten langsam und traurig genug fortgeschlichen -- und nun kam er ohne
Briefe.
Stellen Sie sich selbst vor, was eine Fehlschlagung in einer solchen
Verfassung für Wirkungen auf ein Gemüth haben mußte, das dem Ihrigen
ähnlich ist. Sie schienen mir blos deswegen nicht geschrieben zu
haben, um mir zu sagen, daß ich Recht gehabt hätte mich zu fürchten.
Ich bildete mir ein, als hätten Sie in meiner Seele eine Unruhe lesen
können, und hätten deswegen geschwiegen, um ihren Grund zu bestätigen.
Ich hörte schon auf, mein eigner Freund zu seyn; denn gewiß, ich
würde mich selbst für ein nichtswürdiges Geschöpf ansehen, wenn Ihre
Freundschaft mir in meinen Augen keinen Werth mehr gäbe.
Die Seele kann in einem so unangenehmen Zustande nicht lange beharren.
Er ist, so wie Sie sagen, und so wie meine Erfahrung mich lehrt, ein
Stand der Unthätigkeit, der Philosophie unsers Freundes ungeachtet.
Sie wankt also eine Zeit lang zwischen Reflexion und Gefühl, zwischen
deutlichen Gründen und dunkeln Einbildungen hin und her; sucht eine
Menge Beweise, um das nicht zu glauben, was sie scheut, und stürzt sich
doch wieder, trotz aller Beweise, in ihre traurige Ueberzeugung zurück.
Dieses Mal siegte ich aber doch endlich! denn das war ich gewiß genug,
daß Ihre Freundschaft nicht so, wie der meisten Menschen ihre, ohne
besondere Ursache nur erkalten kann, blos deswegen, weil die nähern
sie immer umgebenden Gegenstände unaufhörlich einen Theil ihrer Wärme
rauben, und sie durch diese allmählige Ausdämpfung zuletzt bis zu der
ordentlichen Temperatur der Gleichgültigkeit zurückbringen. Aber das
wußte ich nicht, daß Sie mich Ihrer Freundschaft immer auf gleiche Art
würdig finden würden. Ich habe immer geglaubt, daß die Freundschaft,
so wie die Liebe, eine gewisse Art von Verblendung erfordere; nicht
eine solche, die die Gestalten verkehrt, sondern die, welche den guten
Eigenschaften allein Licht giebt, und die schlechten in Schatten setzt.
Wie wäre es nun, wenn Sie diese Verblendung gewahr geworden wären, --
wenn Sie anfingen, mich eben so zu sehn, wie mich alle übrige Menschen
sehn? -- Aber kurz, Sie hatten mir noch keine Veranlassung gegeben,
diese Veränderung zu glauben. Ich konnte selbst den Ursprung dieses
Gedankens in meiner Seele nicht ausfindig machen. Er erfüllte die Seele
so, wie manches falsche Gerücht die Stadt, ohne daß man sagen kann, wer
das Ding zuerst erzählt hat. Und konnten endlich Ihre Briefe nicht aus
tausend andern Ursachen zurückgehalten werden?
Aber dabey schmeichelte ich mir doch nicht, daß Sie wirklich
geschrieben hätten, und es blos Unrichtigkeit der Post wäre, die mir
Ihren Brief vorenthielte. Ich verließ S**** des Sonntags, nicht mit so
viel Widerstreben, als ich sonst gethan haben würde, wenn ich nicht
Ihre Briefe in der Stadt zu erwarten gehabt hätte. Ich fand sie, und in
denselben die zärtlichste, gütigste Freundin, die Sie immer waren, dazu
gemacht, das Leben nicht bloß Eines Mannes glücklich zu machen.
In der That bedurfte ich dieses Trostes, um nicht allen meinen Muth
unter der Menge unangenehmer Zufälle zu verlieren, die auf uns in der
Stadt warteten. Meine Mutter kam halb krank nach Hause. Ihr Bruder,
der, wie Sie wissen, im Bade gewesen ist, war kurz zuvor durch den
Banquerout eines der ansehnlichsten hiesigen Häuser, dem er einen
beträchtlichen Theil seines Vermögens anvertraut hatte, zurückgerufen
worden. Ein andrer unsrer Freunde, der brave T****, sah durch eben
diese Begebenheit eine Summe von 10000 Rthlr. auf vielleicht weit
weniger als die Hälfte heruntergesetzt; eine andre Freundin, die Mad.
P*** (eine von den wenigen Frauen, die Ihrer Bekanntschaft werth
wären), war gefährlich krank, und der Arzt hatte ihr erst vor kurzem
die Hoffnung zum Leben wiedergegeben. Meines Onkels jüngste Tochter war
es auch. Die allgemeinen Klagen vermischten sich mit der besondern Noth
unsrer Familie. Endlich bekam ich Gellerts Brief, und die Nachricht
von des Grafen Tode. Mit diesem verschwand alle Aussicht auf künftigen
Winter. Die nächsten Monate sogar hüllten sich wieder in Dunkel
und Finsterniß ein; -- und nirgends, nirgends sahe ich irgend einen
Schimmer eines Lichtes, der mich zu meiner Freundin wieder zurückführte.
An die Stelle dieser verschwundenen Hoffnung trat eine Furcht, die ich
schon überwunden zu haben glaubte. Während meines Aufenthalts in B***
ist der Prorektor des hiesigen ersten Gymnasiums wegberufen worden.
Meine Freunde dachten ganz natürlicher Weise an mich. Ich verzeihe
Ihnen den Wunsch, mich hier zu behalten; er entspringt aus einem so
gütigen Herzen, daß ich ihn gern mit meinem Wunsche bestätigen wollte,
wenn es auf weiter nichts als Vergnügen dabei ankäme. Man redete also
viel davon, man erforschte meine Gesinnungen, man ersann sich allerhand
Möglichkeiten. Alles das war gut, so lange die Sache noch in einer
gewissen Ferne blieb. Ich gestand, so oft die Rede davon war, meine
vollkommene Abneigung; und ich gab, wie ich denke, Gründe davon, um ihr
nicht den Schein des Eigensinns und des Vorurtheils zu geben. Man hörte
endlich, da die Wahl ins Lange gezogen wurde, auf davon zu reden.
Heftige Bestrebungen verzehren sich selbst, wenn sie nicht sogleich
thätig werden können. Ich erklärte mich ein Mal für alle Mal, daß ich
keinen Schritt der Sache entgegen thun würde. Eine ganz freywillige,
unveranlaßte Anbietung dieses Amtes würde alsdenn von mir nicht ohne
Ueberlegung verworfen werden.
Ich glaubte, daß ich gewiß sehen könnte, daß dies niemals geschehen
würde, da der hiesige Magistrat die Maxime hat, den ungestümsten
Bittern die Aemter am ersten zu geben, und da die Jahrbücher von
B*** noch kein Beyspiel von einem jungen Menschen haben, der, ohne
die niedern Stufen des Schuldienstes durchkrochen zu seyn, zu dieser
Würde erhoben worden wäre. Mitten unter diesen Sachen reiseten wir
aufs Land, mein Onkel ins Bad. Die Briefe Gellerts brachten uns alle
diese Gedanken aus dem Sinne, und Leipzig und Dreßden nahmen unsre
Aufmerksamkeit so sehr ein, daß wir nicht mehr wußten, ob es einen
Prorektor in B*** giebt. Ich kam wieder zurück mit der vollkommensten
Sicherheit, daß diese Stelle längst würde besetzt seyn, und daß
alles entschieden sey. Kein Mensch dachte wieder daran, bis Gellerts
Brief dem Laufe unsrer Vorhersehungen eine neue Richtung gab. Gestern
war ich mit meiner Mutter in einer großen und zu meinem Unglück sehr
vermischten Gesellschaft. Einer davon, ein Herr von P***, ein Mann, dem
große Reichthümer und viele Verbindungen eine Art von Ansehn geben,
dem es übrigens weder an Verstande, noch einem gewissen Grade von
Empfindung mangelt, zog mich gleich bei seinem Eintritte auf die Seite.
-- Hören Sie, sagte er, wollen Sie Prorektor seyn? -- Die Frage war
sehr kurz, und die Antwort schien entscheidend seyn zu müssen. -- Ich
wiederholte ihm kurz das, was ich allen meinen Freunden schon längst
gesagt hatte. -- Ich war von Herzen froh, als ich endlich erfuhr,
seine Frage bedeutete nichts mehr, als jede andre Frage von der Art;
als ein Freund meines Onkels und meiner Mutter hatte er ihre Wünsche
vorhergesehn, und wollte es bloß erfahren, ob es auch die meinigen
wären.
Unser Gespräch war noch nicht zu Ende, da es von einem Schwarme andrer
Leute unterbrochen wurde. Ich hatte bey einem sehr vollen Tische
den langweiligsten elendesten Abend von der Welt. Ich dachte fast
an nichts, als an den Kontrast dieser Gesellschaft, und der kleinen
an Ihrem Tische, in der ich so viele Stunden unter dem heitersten
Vergnügen verlor. -- Nur einen einzigen solchen Abend, l. F., und ich
wäre auf einen Monat zufrieden u. s. w.


Funfzehnter Brief.

B***, den 9. Septbr.
Unerachtet mich meine Reise gehindert hat, an der besondern Lustbarkeit
dieses Tages Theil zu nehmen, so bin ich nichts desto weniger bey
Ihnen gewesen, so wie ich es alle Tage bin. Und vielleicht war es ein
gewisser geheimer Einfluß, den Ihre Seelen auf die meinige hatten, der
mich diesen Tag (es war der letzte, den ich in M*** zubrachte), beynahe
vergnügter machte, als ich die ganze übrige Zeit gewesen war. --
Eine Grille, die mir Schwedenborg, und sein Kommentator, M. Kant, in
den Kopf gesetzt hat, kann ich mir noch nicht ausreden. -- So geht
es; Sätze, die uns lieb sind, nimmt man gar zu leicht für Wahrheiten
an, und das Sicherste, was ein Philosoph thun kann, um uns von seinen
Hypothesen zu überzeugen, ist, daß er den Wunsch in uns erregt, daß
sie wahr wären. -- Aber zur Sache selbst.
Schwedenborg sagt, das Verhältniß, das die Geister gegen einander
haben, und welches ihren Ort ausmacht, ist von dem Orte, den ihre
Körper einnehmen, durchaus unterschieden. Die Geister machen zusammen
eine Welt für sich aus, und die Körper, die ihren Stand bestimmen,
in so fern sie durch Empfindungen denken, und ihre Begriffe aus dem
sinnlichen Gebiete herholen, schränken sie doch nicht im mindesten
ein, in so fern sie Geister sind. -- So ist es also möglich, daß zwey
Geister ganz dicht aneinander stoßen, deren Körper hundert Meilen weit
von einander entfernt sind. Zwischen beyden kann der vertrauteste
Umgang seyn, der aber niemals zum Bewußtseyn kommt, -- als bey
gewissen auserwählten Seelen, denen, wie Schwedenborg sehr deutlich
sich ausdrückt, das Innere geöffnet ist; -- oder bey außerordentlichen
Gelegenheiten, wo der hellere Glanz der Empfindungen, der sonst alle
andere Ideen auslöscht, so sehr verdunkelt wird mit sammt dem ganzen
Gefolge von Erinnerungen und Phantasien, daß jene geistigen Eindrücke
sich aus dem Grunde der Seele herausheben. Durch dieses Mittel will
Schwedenborg alle die wunderbaren Dinge gewußt haben, durch die er
in den Ruf des größten Narren und des größten Wahrsagers unsrer Zeit
gekommen ist. --
Aber kurz und gut, die Theorie gefällt mir, und ich dächte also, daß
sie wahr wäre. Meine Seele würde nichts so sehr wünschen, als um alle
die von ihr geliebten und mit ihr verwandten Seelen so nahe zu seyn,
daß sie die Einflüsse derselben empfangen, und auf sie wieder Eindrücke
machen könnte. Der Körper ist bisher zu der Erreichung dieses Wunsches
ein beschwerliches Hinderniß gewesen, jede Vereinigung forderte immer
eine vorhergegangene Trennung, und Freunde wiederzusehen und von
Freunden geschieden zu seyn, waren immer zwey unzertrennliche Sachen.
Aber nun, die Theorie Schwedenborgs einmal festgesetzt, wer hindert
mich, meine Seele an den Ort hinzubringen, wo es ihr am besten gefällt,
und um sie herum alle die Geister zu pflanzen, deren Gemeinschaft so
oft ihren Wunsch und ihre Sehnsucht erregt hat? Lassen Sie mich also 50
Meilen, und -- was sind diese? lassen Sie mich um halbe Erddiameter von
Ihnen entfernt seyn, -- und doch soll meine Seele von der Ihrigen nicht
um ein Haar breit weiter kommen. Denken Sie, wenn unsre sterblichen
Augen den himmlischen Anblick ertragen könnten, was es wäre, diese
Gesellschaft von Geistern bey einander zu sehn; erst die unsrigen, wie
sie unsichtbare Begriffe von einander annehmen und sich mittheilen,
Begriffe, die erst in künftigen Epoquen unsers Daseyns uns selbst
bekannt werden sollen; wie sie sich vielleicht einander aufklären,
reinigen, bessern, und ohne unser Wissen schon die Glückseligkeit
künftiger Zeitalter verbreiten; -- alsdann die Seelen unsrer liebsten
Freunde, Ihres Gemahls, meiner Mutter, unsers Reizes, -- und dann,
wenn irgendwo in der Welt eine Julie oder eine Schirley lebt, -- ein
reizendes Mädchen, deren Schönheit die Ankündigung von Verstand und
Unschuld ist, -- eine zärtliche Ehegattin, deren geschäftiger Fleiß,
-- so wie der Ihrige, -- den Abend eines mühsamen Tages ihrem Manne
und ihrem Freunde mit stiller und unschuldiger Fröhlichkeit krönt, --
eine ehrwürdige Mutter, der ein neues Geschlecht seine Tugend und seine
Glückseligkeit dankt, -- diese alle bey uns, unsre Vertrauten, schon
vorbereitet, uns künftig, wenn wir einander erkennen werden, zu lieben,
und das Vergnügen einer Gemeinschaft zu fühlen, die hier nur bloß unsre
Reflexion beschäftigte.
Sie sehen, ich bin in Gefahr, vielleicht ein eben so großer Schwärmer
zu werden, als Schwedenborg selbst. Und in der That ist ein Traum, der
uns vergnügt macht, hundert Mal besser, als eine Wahrheit, die uns
Kummer verursacht.
Ueber ihr Gedicht und noch mehr über dessen Mittheilung bin ich von
Herzen vergnügt gewesen. Die zwey letzten Strophen haben mir am meisten
gefallen, vielleicht weil Sie darin an mich denken. --
Ich hätte Ihnen noch so viel zu sagen, als auf diesem Blatte und
auf zehn andern nicht Raum hätte. Aber ich bin einmal schon des
Mißvergnügens gewohnt, meine Briefe da schließen zu müssen, wo sich
meine Unterredung mit Ihnen erst recht anfangen sollte. Die Ideen
drängen sich so in meinem Kopfe zusammen, sobald ich die Feder ansetze,
an Sie zu schreiben, daß sich endlich eine aus dem Haufen hervordrängt,
-- nicht die die vornehmste und wichtigste gewesen wäre, sondern die
sich am schnellsten der Seele und meiner Feder bemächtigen konnte. --
Aber das muß ich Ihnen doch noch sagen, daß ich von Gellerten, seit dem
letzten, der mir des Grafen Tod ankündigte, keine Briefe habe, und daß
ich ohne Vorschläge von ihm, -- wenig Mittel sehe, diesen Winter mit
Ihnen zuzubringen u. s. w.


Sechzehnter Brief.

Lassen Sie mich Sie immer heute zu einer ungewöhnlichen Zeit
überfallen. Ungelegen kann es Ihnen doch nicht seyn (so zuversichtlich
hat mich schon Ihre Freundschaft gemacht). Mein Herz ist zu voll; und
ich weiß schon, eher wird es nicht ruhig, bis es sich ganz in das
Ihrige ausgegossen hat. Wie sehr empfinde ich heute das Glück, eine
Freundin zu haben, die meinen Schmerz gern mit mir theilt, und lieber
mit mir trauert, als allein fröhlich ist. Aber erschrecken Sie nur
nicht über diesen Anfang. Es ist nur Mitleiden, nicht eignes Unglück,
das diese unruhige Bewegung in mir hervorbringt -- aber Mitleiden, das
auf seinen höchsten Grad gestiegen ist, und beynahe zu eignem Gefühl
wird. --
Ich war gestern von meiner Reise den Augenblick angekommen, als man mir
sagte, meine Mutter wäre in dem Krankenzimmer einer Freundin, und sie
würde den Abend dort zubringen. -- Ich habe Ihnen schon mehrmals das
P***sche Haus genannt, als eine von den Familien, die mit der unsrigen
am genauesten verbunden ist und von mir am meisten hochgeschätzt
wird. In der That besteht sie beynahe aus lauter hochachtungswürdigen
Personen. Das Haupt der Familie, der alte Herr P***, ehemals ein sehr
angesehener Kaufmann, war noch außerdem, -- was selten Kaufleute sind
-- ein empfindlicher und zärtlicher Ehemann, ein dienstfertiger Freund,
ein gütiger Vater, und ein durch Erfahrung und vielfache Kenntnisse
angenehmer Gesellschafter. Seine Frau, unsre Anverwandte, -- die Krone
ihres Hauses, und beynahe auch des unsrigen, ist von der Natur und
durch ihren Fleiß recht dazu ausgerüstet, Glückliche zu erfreuen,
und die Unglücklichen zu trösten. Ein starker und beynahe männlicher
Verstand, der nur durch eine beständige Uebung, nicht durch Unterricht
ausgebildet ist; eine Gegenwart des Geistes, die selbst durch ihre
zarte Empfindsamkeit niemals geschwächt wird; ein gewisses Feuer und
eine Thätigkeit andern Dienste zu leisten, die die Schwierigkeiten
überwindet, wovor die andern nur erschrecken; ein freundschaftliches
Herz, das seine Befriedigung im Gutes thun findet, und eine gewisse
Art von Mangel fühlt, so bald es sich zu Niemandes Besten beschäftigen
soll; und dieses alles war zu ihrer glücklichen Zeit mit einer
beständigen Heiterkeit der Seele, und mit so viel Lebhaftigkeit
verbunden, daß sie gemeiniglich die Seele der Gesellschaft wurde, in
der sie sich befand.
Herr P**** hatte von seiner erstern Ehe eine Tochter, die schon
ziemlich erwachsen war, als er sich mit unsrer Freundin vermählte, und
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