Christian Garve's Vertraute Briefe an eine Freundin - 8

Total number of words is 4430
Total number of unique words is 1376
41.4 of words are in the 2000 most common words
55.0 of words are in the 5000 most common words
60.8 of words are in the 8000 most common words
Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
dieser reellen Objekte, die zu groß und zu weit sind, als daß wir sie
mit unsrer Empfindung umfassen könnten, ein gewisses Phantom setze,
welches wir selbst ausschmücken, und unter dessen Bilde wir diese
unsichtbare Gottheit, das Vaterland, anbeten. So erhitzte sich der
Römer bey dem Anblicke seines Senats, des Kapitols oder irgend eines
andern öffentlichen Monuments, das himmelweit von dem wahren Vaterlande
entfernt war, und welches er doch dafür annahm, um seine Empfindung in
eine engere Sphäre zusammen zu drängen, und sie dadurch zu beleben.
Lassen Sie uns dieses auf die Liebe anwenden. Sie ist, wenn wir sie
zergliedern, das Resultat aus den vereinigten Wirkungen des Vergnügens
an Vortrefflichkeit, der Freundschaft und der sinnlichen Lust. Es
ist augenscheinlich, daß, wenn die Leidenschaft nur aus einer dieser
Quellen entsteht, sie mit derselben zugleich versiegt; und da alle
Arten von sinnlichem Vergnügen vermöge der Natur der Seele abnehmen, so
muß ein Feuer erkalten, welches blos durch sie angezündet war. -- Aber
es giebt eine andere Art von bessern Seelen, die nicht blos wie Silenen
lieben, und die die Venus, die aus dem Schaume des Meeres entstand, von
der himmlischen, die vom Olympus entspringt, und an dem Throne Jupiters
selbst ihren Sitz hat, unterscheiden; ihr Geist liebt in der That,
nicht blos ihr Körper; und demungeachtet werden diese rechtschaffnen
Liebhaber doch kalte Ehemänner. Die Gewohnheit übt über ihre Seelen
ihre gewöhnliche Gewalt aus, und weil ihre Leidenschaft blos durch
die Eindrücke auf sie hervor gebracht wurde, so verlischt sie, so wie
die Zeit ein Stück nach dem andern von diesen Eindrücken verwischt,
und sie zu der gewöhnlichen Stärke aller übrigen Begriffe in unsrer
Seele zurück bringt. Nur eine dritte Gattung von Seelen, die an die
Stelle ihres Freundes oder ihres Geliebten ein gewisses erhöhtes Ideal
setzen; die aus den Vollkommenheiten, die sie wirklich in ihm gewahr
werden, die sie aber noch verschönern, ein Ganzes zusammen setzen,
welches wirklich vollkommner ist, als der Gegenstand selbst; die in
sich selbst beständig eine neue Quelle von Empfindung finden, und in
der Beschauung des Bildes, was sie sich selbst geschaffen haben, und zu
dem ihnen das Original so zu sagen nur die ersten Striche gegeben hat,
sich mit neuem Feuer beleben: diese sind es allein, die der Liebe ihre
Schwingen ausreissen, und das Feuer, das sonst durch den Zufluß neuer
Materie unterhalten werden muß, durch ihr eignes ernähren.
Ich bin jetzt auf dem Wege, zu zeigen, wie eben diese Kraft der
Imagination, ohne die niemals eine große oder dauerhafte Liebe gewesen
ist, große Männer und vortreffliche Thaten hervor bringt. -- Aber
dieses ist selbst für einen neuen Brief noch zu viel Materie, und man
ruft mich schon ein Mal über das andre u. s. w.


Sieben und zwanzigster Brief.

Ich habe heute einen so heftigen Schnupfen und Kopfschmerzen, daß
nichts in der Welt, als die Begierde, Ihnen auch die kleinste, und
wenn es nur eine minutenlange Unruhe wäre, zu ersparen, mich hätte
bewegen können, die Feder anzusetzen. Demungeachtet habe ich zwey so
liebe werthe Briefe von Ihnen vor mir, die ich beantworten sollte;
und die mir auch Stoff genug geben würden, wenn ich nicht heute zu
allem, als zu einem gänzlichen Müßiggange, unaufgelegt wäre. Wenn Sie
meine Briefe nicht verstehen, so ist es immer gewiß meine Schuld. Ich
bringe oft meine Gedanken zur Welt, ehe sie völlig ausgebildet sind;
und es ist natürlich, daß meine Freunde, wenn ich sie ihnen in diesem
Zustande übergebe, nicht recht wissen, was sie mit diesen ungeformten
Massen machen sollen. Thun Sie an diesen verunglückten Geschöpfen
die Barmherzigkeit, die Sokrates an ähnlichen Geburten seiner Freunde
that; wenn Sie sie nicht gleich bey der Entstehung haben retten können,
so geben Sie ihnen wenigstens, so wie sie da sind, die erträglichste
Figur, die sie machen können. Bilden Sie sie aus, erziehen Sie
sie; und wenn sie es werth sind, so vermählen Sie sie mit den weit
liebenswürdigern Kindern eines so sanften und zarten Herzens, und eines
so richtigen Verstandes, als der Ihrige ist.
Ich habe diese Materie noch nicht erschöpft. Ich habe mir die Liebe
blos in ihrer Entstehung vorgestellt. Sie sollen nun auch meine
Gedanken über ihre Wirkungen wissen. Ich sehe schon zum Voraus, daß ich
in Gefahr komme, meine Schwäche sehen zu lassen, indem ich vielleicht
mit meinen Beschreibungen bey Ihnen, die es empfinden, nicht schließen,
was Liebe ist, ungefähr in eben den Rang kommen werde, in welchem bey
uns Sehenden der blinde Philosoph steht, der sehr gründlich, wie er
dachte, die rothe Farbe durch den Schall einer Trompete erklärte. --
Ich sehe, ich fange an, meinen Kopfschmerz zu vergessen, indem ich mit
Ihnen rede. Wäre der Abgang der Post nicht so nahe, so glaube ich, ich
schriebe vier Seiten voll, ehe ich daran dächte, daß ich nur so viel
Zeilen schreiben wollte. Erzählen Sie mir doch etwas von Ihrer jetzigen
Lektüre u. s. w.
N. S. Romeo und Julie ist nun gedruckt. -- Aber Sie müssen das Stück
entweder schon gesehen haben, oder es noch sehen, ehe Sie es lesen.


Acht und zwanzigster Brief.

Den 9. December.
Ich bin jetzo etwas mehr beschäftigt, als sonst; und wenn ich also
jetzt etwas kürzere Briefe schreibe, so ist es doch gewiß wenigstens
mit dem Wunsche, Ihnen längere schreiben zu können.
Der Freundschaft, so wie der Tugend ist die nächtliche Stille heilig.
Ich ergötzte mich schon sonst an der Vorstellung, daß sich alsdann
vielleicht oft unsre Gedanken und Betrachtungen begegnen, und unsre
Wünsche vereinigt zum Himmel steigen; und jetzt sehe ich, daß ich
Ursache dazu hatte. Ja, liebe Freundin, die Tugend, diese himmlische
Göttin, breitet ihren Glanz auf alles aus, was sie umgiebt; sie
erleuchtet die Freundschaft, und sie erwärmt sie auch; sie verwandelt
die Liebe, die ein blos körperliches Bedürfniß ist, in die edelste
und erhabenste Leidenschaft, deren eine menschliche Seele fähig ist,
und verlängert sie, die sonst mit dem Genusse zugleich unterging, bis
an die letzten Gränzen unsrer Existenz. Durch sie wird die mütterliche
Zärtlichkeit das Glück des menschlichen Geschlechts, und der Grund,
worauf die Wohlfahrt und die Tugend seiner Glieder erbaut wird; sie
endlich macht alle unsre Vergnügungen heilig, und unsre Ergötzungen zu
so viel guten Werken.
Sie haben ohne Zweifel jetzo Romeo und Julie gelesen oder gesehen.
Wenn ich es eher bedacht hätte, so hätte ich meine ganze Philosophie
ersparen können. Dieses Stück ist der vortrefflichste Kommentar über
die Liebe. Alle Ausdrücke scheinen von dem Hauche dieser Leidenschaft
beseelt; und das heftigste Feuer brennt durch und durch, und greift
selbst die unempfindlichsten Herzen an. -- Aber sagen Sie mir,
wenn Sie es gelesen haben, warum ist die Rührung im dritten Akte
angenehmer, als die heftige Erschütterung im fünften? Ist es nicht,
daß dort Pflicht mit Liebe, Tugend mit Leidenschaft streitet? Die
vortrefflichste Seele ist zwischen der kindlichen und ehelichen
Zärtlichkeit getheilt. Man sieht sie kämpfen, und wenn endlich die
Liebe alle übrigen Empfindungen verschlingt, so ist sie uns doch schon
auf einer so vortrefflichen Seite bekannt, daß wir ihr ihren Entschluß
zum Heldenmuth anrechnen. Im fünften Akte wirkt blos die Situation,
wenig der Charakter. Die Begebenheit auch bey jeden andern Personen
würde eben so traurig seyn. Die beyden Verliebten zeigen nun nichts
mehr als Liebe, mit keiner andern Empfindung, mit keiner Tugend mehr
vermischt. So wie Fluthen des Meeres, wenn sie sich über ein Land
ergießen, die Mannigfaltigkeiten der Natur auf ein Mal verdecken,
und statt tausend verschiedner, ergötzender Gegenstände nur ihre
eigne traurige, allenthalben gleiche und einförmige Fläche dem Auge
darbieten: so löscht in diesen Augenblicken die Liebe jeden andern
Begriff, jedes Gefühl in der Seele aus. Der Begriff von Tugend, den
wir in die Liebe dieser Personen geheftet hatten, und der uns diese
Liebe noch weit schöner macht, verschwindet vollends, da sie sich zu
Ausschweifungen bringen lassen, die der Tugend so durchaus entgegen
sind. Die ganze Scene ist theatralisch vortrefflich. Der Selbstmord mag
nun entweder durch die heftigen Triebfedern, die in dem außerordentlich
Schrecklichen der Begebenheit dazu enthalten sind, bey uns entschuldigt
werden; oder er mag, wie Moses glaubt, gar nothwendig seyn, um uns von
der Größe der Leidenschaft, auf der doch unsre ganze Rührung beruht,
zu überzeugen. Ob ich gleich das letztre nicht recht glaube. Vergebens
wäre der Selbstmord, um uns zu rühren, wenn wir nicht schon zuvor für
die Person eingenommen, und von der Leidenschaft, die sie einnimmt,
ergriffen wären. Aber im Leben wenigstens würde uns ein solches
Schauspiel mehr Schaudern als Vergnügen erwecken. Lieber wünschte ich,
Julien wie Heloisen in einem Kloster zu sehen. Oft würde ich dieses
alsdann besuchen, um durch die dunkeln und einsamen Wohnungen die
durchdringenden aber doch süßen Klagen der Schwermuth, der Liebe und
der Sehnsucht zu hören. Gottseligkeit sollte mit der Liebe kämpfen; und
Julie würde eine Heilige werden. --
Einen Theil der Wirkungen der Liebe sehen Sie also in dem Stücke meines
Freundes zugleich mit ihren Symptomen. Freylich nur die schrecklichsten
und die traurigsten. Aber mich dünkt, sie sind doch sehr geschickt,
uns auf die erfreulichen zu führen. Wie schmerzlich sollte es mir
seyn, wenn hier meine Grundsätze von Ihren Empfindungen abwichen. Aber
doch muß ich sie sagen; die Freymüthigkeit, die in dem Gefolge der
Freundschaft ist, und ein gewisser Eifer, den ich in mir selbst fühle,
Ihnen auch alle meine Vorurtheile, so lange ich sie noch für wahr
halte, ohne Verstellung mitzutheilen, fordert es von mir.
Sie sehen, ich habe schon meine Meinung gesagt. Es giebt, wie ich
glaube, überhaupt bey jeder unsrer Neigungen eine doppelte Seite. Die
eine will blos genießen, sie sucht den Gegenstand nur auf, hält ihn
fest und ergötzt sich an ihm. Die andre bereitet sich den Genuß erst
vor, indem sie den Gegenstand verschönert, vollkommener, besser, und
wenn er dessen fähig ist, glücklicher macht. Diese schiebt den Genuß
auf, um ihn zu erhöhen. Die Leidenschaft hat eigentlich in dem ersten
Theile unsrer Neigung ihren Sitz. Hier gehört weniger Thätigkeit, nur
Empfindung dazu; man empfängt blos, fühlt und genießt. Die Vernunft
stört hier mit ihren Reflexionen die Heftigkeit der Begierde nicht;
sie wird sogar, wenn die Empfindung heftig wird, eine Zeit lang völlig
unthätig, -- alle Spannkräfte der Seele erschlaffen, sie sinkt in eine
bezaubernde, aber deswegen vielleicht oft gefährliche Schwärmerey.
-- So war die Liebe der Julie in Romeo größtentheils. Wenn sie von
dem andern Theile abgesondert ist, so geschieht das, dessen ich
oben gedachte. Der Grund der Seele, der sonst mit einer Reihe von
mannigfaltigen schönen und lieblichen Bildern bemahlt war, wird nun mit
einer einzigen einförmigen Farbe überzogen; die Einbildungskraft kennt
nunmehr keine andern Bilder, als die zu diesem Gegenstande gehören;
und der Verstand selbst entzieht sich einer jeden andern Reflexion,
als der, welche die Hitze ernähren oder vermehren kann. Hiervon, wenn
sich ein trauriges Geschick mit einer solchen Leidenschaft verbindet,
erwarte ich alle schrecklichen Folgen, die vom Anfange der Welt her so
oft die Begleiter der Liebe gewesen sind. Ein solches Feuer verzehrt
den Menschen, den es nur erwärmen sollte. -- Zum guten Glück sind
auch dazu nur große Seelen fähig. Aber ist es nicht traurig, daß eben
diese am leichtesten durch eine Leidenschaft überwältigt werden, die
jede andre Kraft, jede Fähigkeit ihrer Seele vernichtet; alle ihre
angebornen und erworbenen Vollkommenheiten verschlingt, oder doch für
nichts als für sie arbeiten läßt; der Tugend selbst nur die Gestalt der
Liebe läßt, und dieselbe zu Boden tritt, sobald sie sich ihr entgegen
setzt.
Gesetzt aber, daß das glücklichste Ende eine Liebe, die blos von
dieser Art ist, bekrönte. Geben Sie der Julie einen Romeo, der alle
Entzückungen der Liebe mit ihr theilt; versöhnen Sie ihre beyden
Familien mit einander, lassen Sie sie mit dem Beyfalle des Himmels und
ihrer Eltern Eheleute werden. Nehmen Sie der Zeit und dem beständigen
Umgange die Gewalt, die sie sonst über die meisten Herzen haben, die
Heftigkeit der Neigung zu mäßigen, und Feuer in Wärme zu verwandeln,
lassen Sie sie in unaufhörlichen Ergießungen ihrer ersten Liebe ihr
Leben zubringen. -- Glücklich können sie vielleicht dabey seyn, -- aber
nützliche brauchbare Leute gewiß nicht; sie sind alsdann für die Welt
verloren. Und wenn sie das erhabenste Genie und den größten Heldenmuth
hätten, so würden sie mit allen beyden nichts weiter ausrichten, als
die Flamme, die bey andern Menschen aus Mangel der Nahrung auslöscht,
unterhalten; sie würden immer empfinden und genießen, -- aber niemals
thun.
Doch nun wollen wir diese unvollständige Neigung ergänzen, wollen den
andern weniger eigennützigen Theil hinzusetzen. Wir sehen alsdann in
unserm Gemahle oder Freunde nicht mehr blos ein Gut, das wir genießen
sollen; sondern auch ein Eigenthum, das wir verbessern, erweitern und
vortrefflicher machen wollen. Er ist alsdann nicht mehr ein bloßer
Gegenstand unsers Gefühls, sondern auch unsrer Bemühungen. Dieser Theil
der Neigung muß nothwendig ruhiger und gelassener seyn, und bey nicht
sorgfältigen Beobachtern zuweilen den Schein der Kälte annehmen;
zuerst, weil nach der Natur der Seele jede Neigung, die unmittelbar
mit dem Genusse verknüpft ist, stärker seyn muß, als die, welche erst
durch eine Kette von vielen Gliedern mit dem Genusse zusammen hängt;
zum andern, weil wir alsdann von dem Gegenstande selbst mit unsern
Gedanken und unsern Betrachtungen eine Zeit lang abgehen, und sie auf
unsre Bemühungen, auf die Mittel, die wir zu unserm Zwecke wählen
wollen, und auf die Art und Weise, wie wir sie am geschicktesten
anwenden, richten müssen. Diese Neigung ist thätig, bringt alle Kräfte
der Seele in Bewegung, spannt alle ihre Triebfedern, erweckt alle ihre
Begriffe, und erhöht unsre natürliche Stärke bey jeder Handlung, durch
den neuen Endzweck, den wir bey derselben außer dem Unmittelbaren der
Handlung hinzusetzen. So kann der geschäftigste Mann, aus Liebe zu
seiner Gattin, alle die Arbeiten thun, die ihr seinen Umgang entziehen.
Weit von seiner Geliebten, kann der Jüngling sich unter einen Haufen
gezückter Schwerdter stürzen, oder den brausenden Wellen trotzen, indem
das Bild seiner Geliebten wie eine unsichtbare Göttin um ihn schwebt,
seinen Arm stärker, und seinen Muth unerschrockner macht. -- Dann
lassen Sie auf Mühseligkeit und Arbeiten, selbst auf die Entbehrung,
der man sich aus Liebe unterzogen, eine Stunde des Genusses folgen. --
Dann lächelt der Himmel selbst über ihre Freuden! u. s. w.


Neun und zwanzigster Brief.

Meine Geschäfte sind kaum von der Erheblichkeit, daß man ihnen diesen
Namen geben kann. Demungeachtet füllen sie meine ganze Zeit aus,
besonders, da ich manchmal viele Tage durch Zerstreuungen verhindert
werde, daran zu denken. Außer dem, was ich zu meinem eigenen
Unterrichte vornehme, haben Gellert und Weise von mir einige Arbeiten
gefordert, die ich beschleunigen muß. Ich werde dazu die Zeit zu nutzen
suchen, da Herr von K****, der mich sonst jeden Tag einige Stunden
kostet, verreist ist. Fürchten Sie aber nichts für unsern Briefwechsel.
Die Freundschaft kennt ihre Rechte, und sie weiß sie gegen alle andre
Ansprüche und Forderungen zu vertheidigen. Ueberdieß ist ihre Sprache
kurz. Man versteht sie durch Sympathie. Sie erklärt nicht sowohl ihre
Empfindungen, sie macht nur den andern auf seine eignen aufmerksam;
und nur indem sie des Freundes Herz in Bewegung setzt, zeigt sie ihr
eignes. --
Aber warum lassen Sie Ihre Tage durch Träume beunruhigen? -- Oder warum
geben Sie einem Traume, der so vieler guter, glücklicher Auslegungen
fähig ist, gerade die, welche Sie kränken muß. Ich sehe in demselben
nichts, als Ihre eigne Zärtlichkeit, die selbst in den nächtlichen
Gemählden, die Ihnen Ihre Einbildungskraft vorstellt, der Freude des
Wiedersehens eine Gewalt über das Herz giebt, unter welchem dasselbe
erliegt. -- Ich bin als Freund verpflichtet auf Mittel zu denken, die
Ihnen diese öftern Unruhen, wenn es nicht möglich ist, ihnen zuvor zu
kommen, wenigstens mäßigen. Ist es nicht wahr, daß eine solche Unruhe
(ich rede nicht bloß von der letzten) unthätig und zur Verrichtung
eines jeden Geschäftes, selbst zu dem Genusse des Vergnügens unwillig
und unfähig macht? Und ist dieß wohl der Zustand, in dem wir oft seyn
sollen, in dem wir am meisten Gutes zu thun hoffen können? Vermehren
Sie den Grad, oder verlängern Sie diesen Zustand. Sie werden sehen, daß
er nach und nach den Gebrauch jeder unsrer Fähigkeiten aufheben und
uns zu einer Art von Schlaf bringen wird, der voll von fürchterlichen
Träumen ist, und uns eben so viel Zeit raubt, als der natürliche, ohne
uns dieselbe Erquickung zu geben? --
Demungeachtet fühlt die Seele eine gewisse Süßigkeit darin, um deren
willen sie sich dieser Unruhe überläßt, und sich selbst den Mitteln
entzieht, die sie aufheben könnten. Ich kenne diesen Zustand, aber
ich finde ihn allemal für mich schädlich, ob ich gleich nicht allemal
so glücklich bin, mich davon zu befreien. Wenn es aber gelingt,
so ist es niemals anders, als durch eine anhaltende und die Seele
sehr einnehmende Beschäftigung. Man muß gleich im Anfange, wenn man
die erste Anlage zu einer solchen Gemüths-Verfassung bemerkt, die
Aufmerksamkeit mit Gewalt von dem Gegenstande abziehen und auf etwas
richten, was im Stande ist, sie anzuheften und von der Rückkehr
abzuhalten. Ein andres Frauenzimmer würde vielleicht den Mangel solcher
Gegenstände vorwenden können; aber Sie nicht, liebe Freundin, die außer
den Geschäften einer Hausmutter auch noch alle die für sich haben,
die die Wissenschaften und die Lektüre verschaffen. Wählen Sie sich
also alsdann eines von den Büchern, die Sie am meisten lieben; oder
noch besser, arbeiten Sie selbst etwas. Sie werden sich zuerst zwingen
müssen. Die Seele wird mit Widerwillen sich von dem neuen Gegenstande
wegwenden. Aber nach und nach, wenn besonders der erste Anfang geglückt
ist, wird sich der Gegenstand der Seele bemächtigen; es wird eine neue
Leidenschaft rege; der Wunsch und die Hoffnung, die Sache, die man vor
hat, schön zu machen. Endlich arbeitet man aus Geschmack fort, da man
blos aus Ueberlegung angefangen hatte.
Ich freue mich auf Ihre Anmerkungen über die eheliche Liebe, und wenn
sie auch von meinen Grundsätzen abgiengen. Sie wissen nun schon,
wenn wir Philosophen einmal ein System im Kopfe haben, so muß sich
alles darnach richten, und entweder seine Form annehmen, oder es wird
verworfen. Nun nach diesem Systeme finde ich allerdings zwischen der
Liebe vor der Ehe, und in derselben, einen Unterschied. Nicht in
dem Feuer, noch in der Delikatesse derselben; aber in der Art, sie
auszudrücken. Ich nehme wieder meine Eintheilung zu Hülfe. Das was
in der Liebe blos Begierde ist, und zu seinem Endzwecke den Genuß
hat, herrscht nothwendig vor der Ehe. Das was in derselben Bestrebung
und Eifer ist, und zum Gegenstande mehr des Andern Glück, als unser
Vergnügen hat, sollte in der Ehe herrschen. Dem zu Folge muß nothwendig
die Leidenschaft des Liebhabers aufwallend und ungestüm seyn, denn sie
streckt sich erst nach einem Gute aus, welches sie erreichen will; die
Liebe des Ehemannes ruhig und thätig, denn sie arbeitet nun an der
Erhöhung und Verschönerung eines Gutes, das schon ihr Eigenthum ist.
Ohne diese Einschränkung ist die eheliche Liebe in Gefahr, tändelnd
zu werden, welches sie von ihrem wahren Zwecke beynahe eben so weit
abbringt, als die Kälte.
Ich sage Ihnen alle meine Gedanken, liebe Freundin, als einer Person,
die zu meiner größten Vertraulichkeit und zu einer Kenntniß meiner
innersten Gesinnungen ein Recht hat. Läutern Sie meine Grundsätze, und
arbeiten Sie selbst an der Verbesserung Ihres Freundes u. s. w.


Dreyßigster Brief.

Ihr Urtheil über den Romeo, und Ihr Wunsch wegen seines Schlusses
ist mit meiner Mutter ihrem vollkommen einerley. In der That ist der
letzte Auftritt mehr schrecklich als rührend, Julie mehr unsinnig
als schwärmerisch, und ihre Liebe mehr Raserey als Leidenschaft.
Ich bin begierig, auch von den beyden übrigen Stücken, die in eben
diesem Theile stehen, Ihr Urtheil zu wissen. Marmontels Erzählungen
lassen sich vielleicht um desto schwerer in Dramata verwandeln, je
ausgearbeiteter schon der Dialog ist. Man kann schwerlich verhindern,
daß der Leser nicht die neuen angesetzten Stücke von den alten
unterscheide; und man geht gar zu leicht aus einem Charakter heraus,
der nicht von Anfang an unser eigen ist. So geht es, dünkt mich, mit
der Corally ihrem, der in dem Stücke, die Freundschaft auf der Probe,
am meisten hervor sticht, und den er zuweilen verfehlt hat. -- Aber
ich höre, die Mademoisell Schulz verläßt das Theater. Versäumen Sie
doch ja nicht, Romeo zu sehen, ehe sie fortgeht. Sie macht diese Rolle
unnachahmlich schön; ich setze nur das Einzige an ihr aus, daß sie in
den Stellen, wo ohnedieß schon der zu weit getriebene Affekt beynahe
bis ins Widrige geht, noch einige Grade hinzu setzt.
Aber genug von dieser Materie, die ohnedieß schon erschöpft ist.
Ich hätte mehr Lust, meinen Streit mit Ihnen, als meine Kritik zu
verlängern. Sie wissen noch nicht, wie hartnäckig ich bin, wenn ich
mir einmal in den Kopf gesetzt habe, etwas zu behaupten. Ihr Brief hat
mir gefallen; und mit weniger Eigensinn, als ich habe, hätten mich
Ihre Gründe verblendet oder überzeugt. In der Verfassung, in welcher
ich bin, kann ich noch nicht sagen, welches von beyden. Denn wenn ich
sagte, daß ich ohne Eigensinn hätte müssen überzeugt werden, so wäre
dieß eben so viel, als gestünde ich zu, ich hätte Unrecht.
Sie wollen also zwischen dem Liebhaber und dem Ehemanne durchaus keinen
Unterschied zulassen; und ich bildete mir ein, ich hatte es recht
förmlich bewiesen, daß einer seyn müßte. So kann einem die Eigenliebe
verblenden! Vielleicht richte ich durch eine Allegorie aus, was meine
Metaphysik nicht vermochte. -- Wenn zuerst nach einer langen Dürre,
oder am Ende des Winters, Jupiter in einem fruchtbaren Regen in den
Schoos der mütterlichen Erde herab steigt: dann wird auf einmal die
ganze Gestalt der Natur geändert. Blumen und Gewächse von aller Art
bedecken die erst nackte Oberfläche; die Bäume schimmern von jungem
Grün, das nur noch wie zartes Moos auf die kahlen Aeste gestreut ist;
die todte Stille der Natur wird rege und lebendig; Luft und Erde
bekommen wieder Bewohner; der Wechsel ist eben so plötzlich, als schön.
-- Aber wenn nun diese erste Rückkehr der Natur zum Leben geschehen
ist, dann kann der ganze liebliche Sonnenschein, und die schönsten,
erfrischendsten Regen, durch die er unterbrochen wird, nicht gleich
große und gleich merkliche Veränderungen hervor bringen. Im Stillen,
ungesehen, wächst nunmehr durch eben die Kraft, die ihn zuerst hervor
brachte, der Halm zur Aehre, das Gras zur Staude, und die Blüthe zur
Frucht heran. Noch immer empfängt die Erde dieselben wohlthätigen und
kräftigen Einflüsse des Himmels; aber sie kann jetzt nicht mehr durch
sie eine ganz neue Schöpfung hervor bringen, sie kann nicht mehr die
ganze Gestalt der Natur umändern. -- Aber in ihrer geheimen Werkstatt
empfängt und nutzt sie noch auf eben die Art den himmlischen Segen,
sie verschließt ihn jetzt in sich, um ihn den Pflanzen ganz allein
mitzutheilen, die sie hervor gebracht hat, und um Korn, Obst, Wein auf
den stillern Herbst zu bereiten.
Sollten alle folgenden Eindrücke dem ersten gleich seyn? -- Das ist
wider die Natur der Seele. Sie selbst, Sie selbst, die die Natur mit
der zärtlichsten von weiblichen Seelen beglückt, Sie würden sich blos
selbst hintergehen, wenn Sie das als eine gemachte Erfahrung ansähen.
-- Soll die Leidenschaft niemals zum Grundsatze, zur Gesinnung werden?
-- Alsdann ist sie unnütz und gefährlich. Das stürmende Meer kann nur
Schiffbruch und Untergang verursachen, wenn es ohne Aufhören wüthet.
Aber wenn der heftige Sturm zu einer noch lebhaften aber ruhigern
Bewegung gemäßigt wird, dann bringt er das Schiff mit vollen Segeln in
den Hafen. -- Soll die Seele immer nur von einem einzigem Gegenstande
erfüllt seyn, wie es die Seele des Liebhabers ist? -- Dann verschlingt
und vernichtet dieser Gegenstand alle Kräfte derselben, er verbraucht
alle ihre Fähigkeiten, und läßt für alle ihre übrigen Pflichten und
Geschäfte nichts, als matte, unwillige und kraftlose Bestrebungen.
Aber wie muß die Liebe seyn, auf deren Flügeln der Geist erhoben, und
seiner Bestimmung und seinem Schöpfer näher gebracht wird? Die Seele,
deren ganze Neigungen und Fähigkeiten sich in einem einzigen würdigen
Gegenstande koncentrirt hat, muß sich von ihm aus auf alles, was gut,
schön und vortrefflich ist, verbreiten. Er muß das Band seyn, welches
die Seele an alle ihre Pflichten verknüpft, und sie mit Freuden an
die Sachen anzieht, die sie sonst aus andern Bewegungsgründen nur mit
Widerwillen, oder doch ohne Vergnügen würde gethan haben. Das Feuer der
Liebe muß sich in eine gleiche und fortdauernde Wärme verwandeln, die
jeder andern gutthätigen Neigung zum keimen hilft, jede tugendhafte
Handlung empor treibt, und jeden Widerstand aus dem Wege stößt. --
Noch ein Mal: der Liebhaber und die Geliebte wollen nichts, als sich
sehen, sich umarmen und sich genießen. Der Ehemann und seine Gattin
wollen sich und die Welt glücklich machen, und diesen Zwecken zu Ehren
entbehren sie jene Vergnügungen ohne Murren u. s. w.


Ein und dreyßigster Brief.

-- -- Ich bin außerordentlich vergnügt darüber, daß Sie meinen
Brief vollkommen nach den Gesinnungen erklärt haben, in denen ich
ihn geschrieben hatte. Sie haben mir eine große Probe abgelegt. Ich
fürchtete nicht, daß Sie über meine Freymüthigkeit böse werden würden;
aber ich erwartete doch eine kleine Empfindlichkeit über einen so
beherzten Widerspruch. Bey jedem andern Frauenzimmer, als bey einer
solchen Philosophin, wie Sie sind, wäre meine Erwartung ganz gewiß
eingetroffen. -- Diese Materie ist jetzo erschöpft, oder ich will sie
doch wenigstens dafür ansehen. Wenn Sie nur wahrhaftig glücklich sind,
so will ich es Ihnen verzeihen, wenn Sie es auch zum Theil durch ein
Vorurtheil wären. -- Ich habe diese Woche eine ganze Gesellschaft
von Leuten gesehen, die es noch durch ein weit handgreiflicheres
Vorurtheil sind, oder wenigstens vorgeben es zu seyn.
Ich bin mit einer großen Gesellschaft von Frauenzimmern in einem
Nonnenkloster gewesen, und zwar bey denen, die barmherzige Schwestern
heißen, und sich mit der Wartung armer Kranken beschäftigen. Ein
wirklich verehrungswürdiger Orden, der großen und beschwerlichen
Dienste wegen, die seine Mitglieder der Gesellschaft leisten. Sie
sind dabey arm; und da die Anzahl reicher Katholiken bey uns in B***
immer mehr abnimmt, und die eignen Kapitalien des Klosters nicht nur
an sich klein, sondern auch jetzt ohne Nutzen für sie sind, weil sie
bey einem Hause ausgeliehen stehen, das im Begriff ist, banquerout
zu machen (ehemals einem Besitzer von 500000 Thalern), so müssen die
21 geistlichen Jungfrauen, aus denen das Kloster besteht, sich auf
das äußerste einschränken, weil sie nicht nur sich, sondern auch ihre
Kranken zu ernähren haben, und noch dazu Aerzte und Arzeneyen bezahlen
müssen. Meine Mutter und verschiedene unsrer Bekannten, die ihnen
deswegen von Zeit zu Zeit eine kleine Beysteuer schicken, werden in dem
Kloster als große Wohlthäter angesehen. So sehr ist die Dürftigkeit
auch für kleine Erleichterungen empfindlich.
Wir wurden also sehr wohl aufgenommen. Wir tranken in der Apotheke,
wohin auch Mannspersonen kommen dürfen, in Gesellschaft der artigsten
und vernünftigsten Schwestern, Kaffee. Die Frauenzimmer wurden hierauf
im ganzen Kloster, ich nur in der Kirche und im Krankenzimmer, herum
geführt. -- Sie können nicht glauben, wie sehr mich diese Leute für
sich interessirt haben. -- Es giebt Personen von den besten Familien,
von gutem Verstande und von einer wirklichen Schönheit darunter.
Besonders ist die würdige Mutter eine höchst vernünftige, gesetzte und
You have read 1 text from German literature.
Next - Christian Garve's Vertraute Briefe an eine Freundin - 9
  • Parts
  • Christian Garve's Vertraute Briefe an eine Freundin - 1
    Total number of words is 4122
    Total number of unique words is 1305
    45.5 of words are in the 2000 most common words
    58.8 of words are in the 5000 most common words
    64.2 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Christian Garve's Vertraute Briefe an eine Freundin - 2
    Total number of words is 4421
    Total number of unique words is 1390
    43.3 of words are in the 2000 most common words
    56.2 of words are in the 5000 most common words
    61.2 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Christian Garve's Vertraute Briefe an eine Freundin - 3
    Total number of words is 4480
    Total number of unique words is 1342
    45.6 of words are in the 2000 most common words
    59.4 of words are in the 5000 most common words
    64.2 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Christian Garve's Vertraute Briefe an eine Freundin - 4
    Total number of words is 4444
    Total number of unique words is 1352
    46.0 of words are in the 2000 most common words
    59.6 of words are in the 5000 most common words
    65.0 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Christian Garve's Vertraute Briefe an eine Freundin - 5
    Total number of words is 4556
    Total number of unique words is 1316
    47.0 of words are in the 2000 most common words
    60.8 of words are in the 5000 most common words
    65.8 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Christian Garve's Vertraute Briefe an eine Freundin - 6
    Total number of words is 4456
    Total number of unique words is 1366
    44.8 of words are in the 2000 most common words
    56.3 of words are in the 5000 most common words
    62.0 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Christian Garve's Vertraute Briefe an eine Freundin - 7
    Total number of words is 4390
    Total number of unique words is 1371
    43.7 of words are in the 2000 most common words
    59.1 of words are in the 5000 most common words
    64.1 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Christian Garve's Vertraute Briefe an eine Freundin - 8
    Total number of words is 4430
    Total number of unique words is 1376
    41.4 of words are in the 2000 most common words
    55.0 of words are in the 5000 most common words
    60.8 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Christian Garve's Vertraute Briefe an eine Freundin - 9
    Total number of words is 4437
    Total number of unique words is 1254
    45.4 of words are in the 2000 most common words
    59.4 of words are in the 5000 most common words
    64.2 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Christian Garve's Vertraute Briefe an eine Freundin - 10
    Total number of words is 1127
    Total number of unique words is 491
    61.2 of words are in the 2000 most common words
    74.6 of words are in the 5000 most common words
    77.5 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.