Christian Garve's Vertraute Briefe an eine Freundin - 1

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Anmerkungen zur Transkription
Der vorliegende Text wurde anhand der 1801 erschienenen Buchausgabe
so weit wie möglich originalgetreu wiedergegeben. Zeichensetzung
und offensichtliche typographische Fehler wurden stillschweigend
korrigiert. Ungewöhnliche sowie inkonsistente Schreibweisen wurden
beibehalten, insbesondere wenn diese in der damaligen Zeit üblich
waren oder im Text mehrfach auftreten. Fremdsprachige Zitate
werden dem Original entsprechend unverändert wiedergegeben. Das
Inhaltsverzeichnis wurde vom Bearbeiter erstellt.
Das Buch wurde in Frakturschrift gedruckt, wobei üblicherweise
zwischen den Großbuchstaben ‚I‘ und ‚J‘ nicht unterschieden
wird. Daher wurde in einer Passage (‚Frau von I.‘) willkürlich
der erstere Buchstabe gewählt. Für die von der Normalschrift
abweichenden Schriftschnitte wurden die folgenden Sonderzeichen
verwendet:
gesperrt: +Pluszeichen+
Antiqua: ~Tilden~
Einzelbuchstaben in Antiquaschrift wurden bei der Auszeichnung
nicht berücksichtigt.
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Christian Garve’s
Vertraute Briefe
an
eine Freundin.
Leipzig,
bey P. Phil. Wolf und Compagnie.
1801.


Inhalt.
Seite
Vorrede des Herausgebers. iii
Erster Brief. 3
Zweyter Brief. 10
Dritter Brief. 13
Vierter Brief. 18
Fünfter Brief. 28
Sechster Brief. 41
Siebenter Brief. 51
Achter Brief. 58
Neunter Brief. 60
Zehnter Brief. 68
Eilfter Brief. 77
Zwölfter Brief. 81
Dreyzehnter Brief. 88
Vierzehnter Brief. 95
Funfzehnter Brief. 105
Sechzehnter Brief. 111
Siebenzehnter Brief. 123
Achtzehnter Brief. 130
Neunzehnter Brief. 141
Zwanzigster Brief. 145
Ein und zwanzigster Brief. 155
Zwei und zwanzigster Brief. 165
Drey und zwanzigster Brief. 172
Vier und zwanzigster Brief. 178
Fünf und zwanzigster Brief. 187
Sechs und zwanzigster Brief. 194
Sieben und zwanzigster Brief. 202
Acht und zwanzigster Brief. 205
Neun und zwanzigster Brief. 215
Dreyssigster Brief. 221
Ein und dreyssigster Brief. 227
Zwey und dreyssigster Brief. 231
Drey und dreyssigster Brief. 237
Vier und dreyssigster Brief. 244
Fünf und dreyssigster Brief. 246
Sechs und dreyssigster Brief. 250
Sieben und dreyssigster Brief. 254
Acht und dreyssigster Brief. 263


Vorrede des Herausgebers.

Die Freundin Garve’s hat bey der Herausgabe dieser Briefe keine
andere Absicht, als mit allen Freunden und Verehrern des guten Mannes
ein kleines, ihr sehr theures Erbtheil von ihm zu theilen. Daß
dieser Gedanke ihrem eignen Herzen und ihrer Gesinnung gegen ihren
verstorbenen Freund wohlthun, ist sie gern geständig. -- So wenig auch
Garve’s +gelehrter Nachlaß+ dadurch um ein Bedeutendes vermehrt werden
mag, so kann doch auch der Gelehrte sich wohl dieser Briefe freuen;
er sieht in ihnen den Geist blühen, von dem er die Früchte kennt und
schätzt. Was man von Schriftstellern nicht heraus geben muß, sind
taube Blüthen und unreife Früchte; von einem philosophischen Geiste
ist die Blüthe so angenehm, als die Frucht stärkend; und wenn ein Mann
etwas geworden ist -- dann wird der Welt die Frage interessant: wie
wurde er es? -- Diese Briefe enthalten vielleicht manche interessante
Data zur Beantwortung der Fragen: Wie war Garve, der Jüngling? -- Wie
früh war sein Geist gereift, gefaßt, in sich gegründet? -- Wie wurde
Garve, der Mann? -- Wie entwickelte sich der Plan seines Lebens? -- Wie
wurde Garve, der Schriftsteller? -- -- Diese Briefe sind unmittelbar
vor seiner Bearbeitung des Cicero geschrieben, und man kann sie
in mehr als einer Hinsicht als einen Eingang in sein öffentliches
schriftstellerisches Leben ansehen.
So viel für diejenigen, die in diesen Briefen Garven, den Gelehrten,
suchen. Diese und alle gute Menschen, denen dieselben in die Hände
kommen, mögen sich freuen -- dieß ist der lebhafteste, ja ich kann
wohl sagen, der einzige Wunsch der Herausgeberin, ihren Freund hier
in den ersten, reinsten, natürlichsten Verhältnissen des Lebens zu
sehen, Garven, den +Sohn+, -- den +Freund+ -- und den +Menschen+. --
Hier kann ihn der Gute lieben, der den Gelehrten nicht kennt; und gern
wird vielleicht der Gelehrte sein philosophisches Werk einen Augenblick
hinlegen, um mit dem menschlichen Verfasser desselben einige Zeit im
Zirkel seiner Familie, seines Jugendlehrers, und seiner Freunde,
zuzubringen.
Dieß sind die Gedanken der Freundin Garve’s bey der Herausgabe dieser
Briefe, nach welchen sie wegen derselben von dem Publikum beurtheilt zu
werden wünschen muß.


Vertraute Briefe
an
eine Freundin.


Erster Brief.

Dienstags Nachmittags um 3 Uhr,
den 11. May, 1767.
Endlich bin ich wieder bey Ihnen, und vergesse in diesem Augenblicke
alle die Schwermuth, den Verdruß, und die Langeweile, die ich seit
unserer Trennung ausgestanden habe. Wir haben es uns hundert Mal
gesagt, daß die empfindlichen Herzen mehr zum Leiden als zur Freude
gemacht sind. Und wenn ich der Sympathie, die alle unsere Neigungen
einander so gleich gemacht hat, trauen darf, wenn meine Empfindungen
den Ihrigen ähnlich waren, so sind Sie diese drey Tage über nicht
glücklich gewesen. Zuerst eine mehr süße als unangenehme Schwermuth,
aber bald darauf eine finstere und traurige Melancholie, die alle
Ideen der Seele in ihre Farbe kleidete, und selbst der Hoffnung nicht
zuließ, sie zu trösten.
Ich finde, daß ich gemeiniglich in dem Augenblicke, wenn mir ein
Unglück widerfährt -- und unsere Trennung halte ich für eins -- mehr
bestürzt als traurig bin. Die Geschwindigkeit, mit welcher es mich
überrascht, benimmt mir die Fähigkeit darüber nachzudenken. Ich werde
einiger Maßen fühllos, ich erstarre. Aber wenn mein Gemüth wieder ruhig
genug ist, die Größe und die Folgen des Uebels zu überlegen; wenn es
sich die Scenen des Vergnügens wieder vorstellt, deren es jetzt beraubt
ist; wenn es von da sich zu den künftigen Aussichten wendet; dann wird
erst sein ganzes Gefühl rege, und alle seine Kräfte vereinigen sich
bloß dazu, es in der Traurigkeit zu unterhalten.
Ich bin Ihnen noch so nahe, und es scheint mir eine unermeßliche
Entfernung zu seyn. Und doch werde ich Ihnen in einem halben Jahre
nicht näher kommen, -- vielleicht niemals. Aber lassen Sie mich diese
unglückliche Furcht unterdrücken. Ich sehe Sie wieder.... Mein Herz
ist mir dafür Bürge, das der Himmel nicht umsonst mit dem Ihrigen so
sympathetisch gemacht hat. Selbst unter einem entfernten Himmelsstriche
würde ich Sie geliebt haben, ohne Sie zu kennen, -- eine Person,
die Ihnen ähnlich wäre, eine zweyte Wilhelmine. Und nun, da uns die
Vorsicht zusammen gebracht hat, da wir uns haben kennen lernen müssen,
da wir diesen geheimen Zug der Aehnlichkeit in uns entwickelt, unsere
Seelen gegen einander gehalten, und sie so ähnlich gefunden haben, als
zwey freundschaftliche Seelen seyn müssen; da wir überzeugt worden
sind, daß dieses höchste Geschenk der Gottheit, die Freundschaft,
für unsere Herzen gemacht ist: nun sollten wir einander auf immer
verlassen? um wieder in der Welt nach einer uns verwandten Seele zu
suchen und zu seufzen, und sie vielleicht nicht zu finden.
Sie sehen, ich schreibe stolz. Ich nenne mich keck Ihren Freund;
und zwar in der hohen Bedeutung, in welcher dieses Wort nur selten
gebraucht wird. Aber wen sollte auch Ihre Gütigkeit nicht stolz machen.
Mein Herz ist noch von derjenigen gerührt, die Sie mir den letzten
Tag erwiesen haben. Wie oft habe ich mir nicht die Auftritte dieses
Tages von meiner Einbildungskraft wieder vorspielen lassen! Und immer
verweilte ich mich bey dem Augenblicke, wo ich in einer Bestürzung,
die mich von meinen Bewegungen nicht mehr Herr seyn ließ, meinen Huth
suchte, und Sie mir das unerwartete Vergnügen ankündigten, daß ich noch
einen halben Tag länger bey Ihnen seyn könnte. Niemals hat man eine
freundschaftlichere Gefälligkeit zu einer gelegenern Zeit gethan, zu
einer so gelegenen Zeit, daß ich Ihnen die Grausamkeit vergebe, daß Sie
mich die Angst des Abschieds haben zwey Mal empfinden lassen.
Ich sollte Ihnen nun meine Reise beschreiben. Ich wollte sie Ihnen
beschreiben. Ich habe jede Kleinigkeit bemerkt, von der ich hoffte,
daß sie entweder einer kleinen Satyre fähig wäre, oder, durch Ihre
freundschaftliche Theilnehmung an allem was mich betrifft, Ihnen
wichtig seyn könnte. Ich hatte in meinen Gedanken eine ganz kleine
Sammlung von solchen Zügen, und schon dachte ich mit Eitelkeit an
die Reisebeschreibung, die ich daraus zusammensetzen wollte. Aber
dieses war noch in der ersten Zeit, wo der Einfluß Ihrer noch nicht
längst verlornen Gegenwart meiner Seele noch Muth und eine gewisse
Munterkeit erlaubte. Aber seit diesem Zeitpunkte sind alle jene Ideen
weggewischt worden. Der Schmerz hat sie alle so einförmig gemacht, daß
ich sie nicht ohne Mühe, und gewiß ohne Anmuth aus ihrer Dunkelheit
hervorziehen würde. Also will ich Ihnen nur kurz sagen, daß ich meine
Reisegesellschaft nicht genauer kennen gelernt habe, als wir sie im
Wirthshause schon kannten, ausgenommen, daß der Macedonier ein großer
Schläfer war, den ich herzlich beneidete, durch die ärgsten Stöße
niemals in seiner Ruhe gestört zu werden; daß der Herr Magister sehr
wenig sprach, und daß dieses Wenige alle Mal etwas kraftloses und
langweiliges war; daß mein Nachbar ein Kaufdiener, und noch ein vierter
ein Dreßdner war.
Ich selbst habe den Postwagen in W*** verlassen. In der That war
es beynahe eine Unbesonnenheit, die ich beging. Die Sache war so.
Der Postwagen war auf das erschrecklichste befrachtet. Eine Menge
Geldfässer und anderer schwerer Waren! Vier elende und abgetriebene
Pferde würden ihn mit Mühe und Noth bey dem besten Wege gezogen haben.
Aber dieser war entsetzlich. Aus einem Loch ins andere! Ich stieg drey
bis vier Mal ab. Ich ging zu Fuß. Aber so oft ich wieder aufstieg,
verschlechterte sich alle Mal der Weg. Das Gewicht des Wagens machte,
daß er bey jedem Abhange sehr stark schwankte; wir waren zwey Mal in
der größten Gefahr gewesen, umzuwerfen. Endlich bemächtigte sich die
Furcht meiner. Ich dachte an den schrecklichen Fall bey B***werda.
Ich fuhr beständig in Angst. Wir erreichten endlich W***. Einer von
der Gesellschaft, eben der Dreßdner, der eben so furchtsam wie ich
war, nahm hier Extrapost für sich bis H****burg. Ich entschloß mich,
ihm Gesellschaft zu leisten. In der That war es unüberlegt: denn ich
hatte mit genauer Noth so viel Geld bey mir, als nöthig war; und meinen
Koffer hatte ich auf der ordinären zurück gelassen.
Wir kamen um 9 Uhr nach H***burg. Ich fand keinen Menschen aus
G****dorf. Man erwartete mich erst Montags. Ich wußte also von neuem
nicht, wie ich nach G****dorf hinüber kommen sollte. Ich erwartete
erstlich die ordinäre Post, um meinen Koffer zu haben. Ich ganz
allein, in der Poststube, wo ein durch die jetzigen Meßexpeditionen
abgematteter Postschreiber auf einem Stuhle schlief, bey einem kleinen
einsamen Lämpchen, hatte alle mögliche Zeit zur Schwermuth. In der That
brachte ich die Stunden höchst traurig zu. Endlich kam mein Koffer.
Ich nahm noch einmal Extrapost nach G****dorf. Hier kam ich um 11 Uhr
an. Meine Freunde, oder vielmehr mein Freund, der eben zu Bette gehen
wollte, empfing mich liebreich.
Hier lebe ich nun nicht mit der düstern Melancholie, die durch die
Einsamkeit genährt wird, aber in einem gewissen Tiefsinn, den man mir
auch anmerkt. Ich habe kaum diesen Augenblick finden können. Man ruft
mich schon etliche Mal, und ich muß nothwendig den Brief endigen,
ob ich gleich nicht den hundertsten Theil von dem gesagt habe, was
ich Ihnen sagen wollte. Was für eine elende, unvollkommene Art der
Unterredung ist doch ein Brief! Gott segne Sie. Von ganzem Herzen
der Ihrige.


Zweyter Brief.

G***dorf, den 28. May,
1767.
Ich reise diesen Augenblick von hier nach H****burg. Dort erwarte ich
Hr. M.. und mit ihm -- das angenehmste, was ich in meinen gegenwärtigen
Umständen erhalten könnte, Ihre eigne Gegenwart ausgenommen.
Ich fange an, das Leben als eine lange und oft beschwerliche Reise
anzusehen, auf der wir von einem höhern Führer geleitet werden. Von
Zeit zu Zeit kommen einige angenehme Ruheplätze, wo wir uns nur erholen
sollen, und wo wir ganz und gar zu wohnen wünschen. Ihr Haus und ihre
Gesellschaft war einer von diesen. Ich fing schon an in demselben zu
vergessen, daß ich bloß zur Fortsetzung meiner Reise gestärkt werden
sollte. Es kommt der fürchterliche Befehl zum Aufbruche. Ich verlasse
in einer Art von Betäubung den angenehmen Aufenthalt. Endlich kommt
meine Empfindung wieder; aber nur um mich meinen Verlust fühlen zu
lassen. Lange, lange sehe ich mit einer zaudernden Sehnsucht nach dem
gewünschten Orte zurück, indeß ich mich immer mehr von ihm entferne.
Dort, dort, sage ich, ist meine Freundin, und ich reise nach der
entgegenstehenden Gegend. +Von einem unbefriedigten Verlangen zur
Schwermuth ist nur ein einziger Schritt.+ Endlich verlieren sich alle
diese schmerzhaften Ideen in dem Gedanken an meinen großen und gütigen
Anführer. Er ist zugleich der Führer meiner Freundin. In ihm, unserm
gemeinschaftlichen Vater, vereinigen sich wieder unsere Seelen, wenn
sie auch durch noch so weite Entfernungen von einander getrennt sind.
+So ist der Schmerz oft unser Lehrer; und eine menschliche Seele, die
niemals traurig gewesen wäre, müßte gewiß lasterhaft seyn.+
Die Pferde sind angespannt, alles ist fertig. Ich schreibe mitten unter
dem Geräusch. -- Ich bin unaufhörlich
der Ihrige.


Dritter Brief.

B***, den 3. Juni.
Fleuch, Brief, eile, so geschwind wie meine Gedanken, um es meiner
besten Freundin zu sagen, daß ich meine Reise überstanden, daß ich
meine Mutter wieder gesehen habe, und daß ich mich doch über beydes nur
halb so sehr freue, als wenn sie mit daran Theil nähme.
O meine gefühlvolle Freundin, was wäre das für eine Scene für Sie
gewesen, da ich meine Mutter wieder sah. Denken Sie nur. Sie wußte
nicht ein Wort davon, daß ich Sonntags kommen würde. Der Himmel hatte
sogar zu meinem Glück den Brief unrichtig gehen lassen, worin ich es
Ihr von G****dorf aus meldete. Sie war den Tag zuvor mit meinem alten
Lehrer (den Sie schon kennen und hochschätzen) dem Hrn. Ringeltauben,
vom Lande herein gekommen. Die Wiederkunft in die Stadt hatte
den Schmerz über den Verlust der liebenswürdigsten Tochter wieder
aufgeweckt. Meine Reise war ihr ein neuer Kummer. Eine Menge von andern
unangenehmen Umständen hatte ihr Gemüth für das Vergnügen verschlossen.
Sie stand am Fenster in einer bekümmerten und traurigen Stellung. Zu
eben der Zeit komme ich an. Ich steige bey einem fremden Hause ab. Ich
fliege mit einer gewissen Art von ängstlicher Eile über die Straßen.
Ich komme an das Haus meiner Mutter, ohne daß mich ein Mensch gewahr
wird, die Treppe hinauf, fort, fort, bis an das Zimmer meiner Mutter.
Ich eröffne die Thüre mit Zittern. In diesem Augenblicke sehe ich meine
Mutter mit ausgebreiteten Armen auf mich zufliegen. -- Mein Sohn, mein
allerliebster Sohn, du bist es! -- Ihre Thränen ersticken das übrige.
Ich war völlig sprachlos. Ich küßte alle, die in der Stube waren, ohne
ihnen ein Wort zu sagen. Ich ging, wie ein Mensch in der Irre, von
einem zum andern herum, ohne zu wissen, wer um mich war, und was in
mir selbst vorging. Endlich fingen die Thränen an zu fließen. Mein
Herz wurde leichter. Meiner Mutter ihres auch. Ein sanfter und stiller
Schmerz über die Abwesenheit einer Person, die ich bey einem solchen
Auftritte am liebsten würde gegenwärtig gesehen haben, vermischte
sich mit unserer Freude, und brachte eine gewisse stille, aber nicht
verdrießliche Schwermuth hervor, die unter allen Zuständen der Seele
vielleicht der angenehmste ist, und den sie am längsten aushalten kann.
O meine gütigste Freundin! Ich habe noch nicht alles gewußt, was ich
an meiner Cousine verloren habe. Die liebenswürdigste Gestalt, ein
richtiger und durchdringender Verstand, ein sicheres und feines Gefühl,
Adel und Hoheit in den Empfindungen, Unschuld und Tugend im Herzen;
das waren die Vorzüge, die jeder an ihr kannte, und jeder, der für
Vollkommenheiten von dieser Art Augen hat, hochschätzte. Aber sie war
für mich noch mehr. Sie war die einzige Freundin, der Trost und die
Stütze meiner Mutter, das Band unserer Familie, die Hoffnung und die
Belohnung eines Freundes, den ich verehre, und der in ihr sein Glück
würde gefunden haben. Denken Sie, was ich dabey fühlen muß, wenn man
mir noch die letzten Beweise ihrer Gewogenheit gegen mich erzählt,
ihren Wunsch, mich wieder zu sehen, ihre Freude bey der Hoffnung von
meiner nahen Zurückkunft. Ist denn alles, was gut und vortrefflich ist,
nur bestimmt, zu leiden und zu sterben?
Schon fange ich an, für Sie selbst zu fürchten. Eine so gute,
rechtschaffene Frau, eine so zärtliche Freundin, eine so verständige
Mutter, ist vielleicht nur ein Darlehn, kein Geschenk, das der Himmel
der Erde macht. Werden Sie ja wieder gesund, oder Sie machen mich ganz
melancholisch. Ich bin es ohnedieß schon halb; meine Mutter kränklich,
von Schmerz und Kummer verzehrt; mein Onkel seiner geliebtesten Tochter
beraubt; meine übrigen Freunde theils zerstreut, theils unglücklich:
ist das nicht mehr als genug, selbst ein hartes Herz zu beunruhigen? --
Sie sehen, ich habe Ihre Briefe erhalten. Einen durch Hrn. M.., den
andern gestern mit der Post. Sie sind die angenehmste unter meinen
Ergötzungen gewesen. Was meynen Sie wohl? Herr M.. gab mir ihn erst
in Stauchitz. Bis dahin sagte er nicht ein Wort, daß er einen Brief
von irgend einem Menschen hätte. Glauben Sie nicht, daß mich diese
fehlgeschlagene Hoffnung, einen Brief von Ihnen zu bekommen, den Weg
über sehr unruhig machte? Und doch fürchtete ich mich zu fragen, weil
ich den Zweifel für besser hielt, als einer unangenehmen Sache gewiß zu
seyn. Endlich wagte ich es, ihn ganz leise zu fragen, ob er von Niemand
Briefe hätte. Ja, sagte der Mensch ganz gelassen, ich habe einen von
***. Was ist doch der Mann für eine Schlafmütze, dachte ich. Geschwind,
geschwind her mit dem Briefe! Aber was ist denn das für eine Dame, die
an Sie so zeitig schreibt? -- Eine gute Frau, eine recht sehr gute
Frau! Aber geben Sie mir den Brief her. Nun denken Sie sich das übrige.
--
Den Augenblick kommt man, und sagt, daß die Post abgeht, und ich meine
Briefe würde hier behalten müssen. Ums Himmelswillen, mein lieber
Post-Sekretär, wenn ich Euch jemals eine solche Freundin, wie ich habe,
wünschen soll, so bestellt diesen Brief an die meinige!


Vierter Brief.

B***, den 8. Juni.
Ungeachtet ich anfangs über die neue Einrichtung, die es Ihnen mit
meinem Posttage vorzunehmen beliebte, ein bischen murrete, so muß
ich Ihnen doch jetzt sagen, daß Sie es recht gut gemacht haben. Sie
kennen die Theorie des Vergnügens. Sie wissen, wie notwendig es sey,
seine Vergnügungen zu sparen, um sie recht zu genießen. Durch Ihre
gegenwärtige Einrichtung haben Sie zwischen dem Vergnügen, von Ihnen
Briefe zu bekommen, und dem beynahe eben so großen, Briefe an Sie zu
schreiben, fast gleiche Zwischenräume gesetzt, da sie sich vorher
unmittelbar auf einander drängten. Auf diese Art wird mir die Zeit von
einem Freytage zum andern kürzer, und zwischen beyden Unterredungen,
die ich mit Ihnen die Woche halte, bey deren einer ich Sprecher, und
bey der andern Hörer bin, ist doch auch Raum genug, um das Verlangen
nach einer neuen wieder recht lebhaft zu machen.
Wissen Sie, was mir das ärgste bey dieser Art von Umgang zu seyn
scheint? Dieses, daß ein Brief, den man (wenn unsere Freunde sehr gütig
sind) acht Tage erwartet hat, in eben so viel Minuten zu Ende gelesen
ist, und nach Verlauf dieser glücklichen acht Minuten, in denen man den
Brief lieset, schon wieder die neuen acht Tage angehen, in denen man
auf den folgenden wartet. Bey alle dem bin ich doch noch immer sehr
glücklich, daß Sie so gütig sind, und meinem Vergnügen alle Wochen
einen Theil Ihrer Zeit schenken. Ihre Briefe geben mir wieder in meinen
Augen einen gewissen Werth. Und dieses ist sehr nöthig, da ich mir hier
zuweilen in gewissen Gesellschaften recht einfältig vorkomme.
Ich habe mir vorgenommen, Ihnen heute viel von mir selbst
vorzuschwatzen. Nicht eben, daß ich mich für einen sehr guten
Gegenstand des Gesprächs hielte; aber ich habe heute nun einmal keinen
bessern, oder wenn ich ihn hätte, so wäre ich nicht dazu aufgelegt, ihn
zu nutzen. Ich muß mich also schon mit mir selbst begnügen. Ueberdieß
sind Sie selbst daran schuld, daß Sie mir die Eitelkeit in den Kopf
gesetzt haben, als wenn alles, was mich anginge, sehr wichtige Sachen
für Sie seyn müßten. Diese Einbildung mache ich mir also zum Vortheile
meiner Trägheit zu Nutze, und mache getrost meine Briefe zu einem
guten, ehrlichen Zeitungsblatte von mir selbst. Heute sollen Sie also
erfahren, wie ich meinen Tag hier gewöhnlicher Weise zubringe; obgleich
der Ausnahmen beynahe so viel sind, als der Fälle, die unter die Regel
gehören.
So wissen Sie denn, daß ich nicht bloß gewöhnlich, sondern beständig
sehr spät aufstehe. Dieses +spät+ aber müssen Sie weder früher noch
später annehmen, als acht Uhr des Morgens nach B***scher Uhr. Ich habe
schon lange die Ursachen dieser Begebenheit, die mit meinen Entwürfen
und Vorsätzen so wenig übereinstimmt, aufgesucht; ich bin aber noch
nicht weiter als bis auf die Dunkelheit der Alkove gekommen, in der
ich liege, und die der Sonne vor Mittag den Besuch nicht erlaubt.
Dieses ist ein sehr gutes Mittel die fernere Untersuchung wenigstens
aufzuschieben, die sich vermuthlich damit endigen würde, daß ich ein
wenig faul wäre.
Der erste Gedanke, wenn ich erwache, ist, nach einem kurzen Dank
für das Geschenk eines neuen Tages, der Gedanke an meine Freunde.
Wie glücklich, denke ich alsdann, bin ich, daß ich wieder in einer
Welt erwache, in der so manches edle, vortreffliche Herz an meinem
Leben und an meiner Wohlfahrt Theil nimmt! Ich überzähle alsdann
mit aller der Begierde, mit der ein reicher Geitziger am frühen
Morgen seine Summen wieder überzählt, die Anzahl dieser Freunde. Ich
bin nicht mißvergnügt, daß ich sie so klein finde. +Das Herz liebt
desto stärker, je mehr es konzentrirt ist.+ Dieser stille Genuß der
Glückseligkeit, Freunde zu haben, bereitet mich zu einer andern vor;
-- zu der, ihnen Gutes zu wünschen. Wie rührt und wie erhebt mich in
diesem Augenblicke ein Gedanke an den Herrn und den Vater, den ich mit
allen meinen Freunden gemein habe. Er ist bey ihnen, so wie bey mir
gegenwärtig; er regiert ihr Leben, so wie das meinige; er sorgt für
ihre Glückseligkeit mit alle dem Eifer, mit dem ich dafür sorgen würde,
wenn ich die Macht dazu hätte. Durch diese Erinnerung scheinen sich mir
die weitesten Entfernungen zu verengern. Ich vereinige mich mit meinen
Freunden. Bürger einer und derselben großen Republik, in einerley
gemeinschaftlichen Plan von allgemeiner Glückseligkeit verflochten,
von einerley Gesetzen regiert und von gleichen Hoffnungen belebt, sind
unsere Geister unter einem beständigen, gemeinschaftlichen Einfluß eben
derselben Güte! --
Ich muß mich mit Gewalt von diesen Betrachtungen losreissen. Das
Vergnügen macht geschwätzig. Und doch sind Worte so wenig fähig,
Vergnügungen von der Art zu beschreiben, daß man nothwendig entweder
einem Herzen, das sie niemals empfunden hat, verdrießlich, oder einem
solchen, das sie kennt, matt und kraftlos vorkommen muß. Auf diese
geheimen Ergötzungen folgt eine andere, an der meine liebe Mutter, und
meine Cousine, die beständig bey ihr ist, Theil nimmt. Wir trinken
gemeinschaftlich auf einem kleinen Altan, den wir haben, und der mit
Grünem besetzt ist, Thee. Sie wissen schon, was ich Ihnen sonst von dem
Vergnügen der Theestunde vorgeschwatzt habe; und in der That bleibt es
noch immer eine der schönsten Stunden des ganzen Tages. Sie können es
auch daraus schließen, daß wir sie fast niemals vor zehn Uhr endigen.
Ich habe mich hier zum Lekteur meiner ganzen Familie aufgeworfen, und
man hört mich noch so ziemlich gern. Ich lese also diesem Amte zu
Folge auch manchmal beym Thee ein Stück vor. Das gewöhnlichste aber
ist, daß wir bloß sprechen; sehr oft von Leipzig, noch weit öfter
von Ihnen; das können Sie denken. Um zehn Uhr gehe ich herunter, und
diese beyden Stunden bis zu Mittage lasse ich mir ungern rauben. Mein
Geist wird ohne eine tägliche Nahrung trocken und leer. Er ist keine
immerbrennende Flamme, die durch ihre eigene Kraft in die Höhe steigt.
Er ist wie das in Stein eingeschlossene Feuer, das nur von Zeit zu Zeit
Funken giebt, und auch diese müssen erst heraus geschlagen werden. Ich
lese also in diesen zwey Stunden, oder ich schreibe. Das was ich lese,
und was ich davon denke, das sollen Sie alles nach und nach erfahren. --
Aber diese zwey kostbaren Stunden sind eben jetzt vorbey; ich habe
sie dazu angewendet, an Sie zu schreiben; und das ist gewiß der
beste Gebrauch, den ich die ganze Woche davon mache. Dem ungeachtet
verzweifle ich noch nicht, ehe man mich zu Tische ruft, zu Ende zu
kommen. Das nächste also, was jetzt folgt, ist, daß ich esse. Die
Gesellschaft eben dieselbe, die es beym Thee war. Die Gerichte sehr
mäßig, aber sehr wohlschmeckend. Und hier kann ich nicht unterlassen,
eine kleine Lobrede für die Schlesischen Köche und Köchinnen
einzuschalten. Wenn ein Land durch gute Suppen, durch sehr fettes
und derbes Rindfleisch, durch vortreffliches und wohlzugerichtetes
Kräuterwerk glücklich würde, so wäre in der Welt nichts ungerechter,
als die Klagen, von denen meine Ohren hier gar nicht ausruhen. Denn
alles das und noch weit mehr, als ein solcher Idiot in der jetzigen
Favorit-Wissenschaft der Welt, wie ich bin, sagen kann, das besitzt
Schlesien. O warum kann ich nicht hier Ihren Geschmack aufbieten, mir
Recht zu sprechen! Warum kann ich Sie nicht einmal mit dem Manne, ohne
welchen alle mögliche Schlesische Gerichte umsonst vor Ihnen stünden,
an unserm Tische sitzen sehen! --
Wenigstens will ich den Einfall in meinen Gedanken verfolgen. Ich werde
den Augenblick gerufen. Wie wäre es, wenn Sie, ohne ein Wort zu sagen,
nach B***lau gekommen wären, wenn Sie mich heute überraschen wollten,
wenn ich Sie oben schon an unserm Tische sitzen und auf mich schmälen
sähe, daß ich Sie so lange habe warten lassen. Ich gehe, ich gehe, --
um meinen Traum zu vernichten. --
Ich komme eben von Tische wieder, und ich habe nur noch einen
Augenblick Zeit bis zur Post. Auf meiner Mutter Stirne saßen, wie ich
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