Christian Garve's Vertraute Briefe an eine Freundin - 2

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heraufkam, einige finstere Wolken. Einige verdrießliche Geschäfte, und
noch mehr als das, die Unruhe eines Baues, der sie beynahe aus ihrem
Zimmer vertreibt, hatten diese Wolken zusammengezogen. Ich schreibe mir
heute die Ehre zu, sie zerstreut zu haben. Wenigstens habe ich meine
Mutter heiterer verlassen, als ich sie fand. --
Um also meinen Tag vollends bis zum Abend zu bringen, so müssen Sie
wissen, daß ich unmittelbar nach Tische eine kleine halbe Stunde den
Flügel spiele. In meiner Mutter Stube steht ein ziemlich guter mit zwey
Klavieren. Dann kommt der gesellschaftliche Kaffee. Sie können glauben,
daß ich den niemals ohne meine Mutter und Cousine trinke, ausgenommen,
wenn diese Frauenzimmerbesuch hat, den ich nicht kenne. Nichts ist
ungewisser und unsicherer als der übrige Rest des Nachmittags. Wir
fahren zuweilen in Gesellschaft einiger Freunde spazieren. Ein ander
Mal gehe ich ganz allein mit einem einzigen Bekannten. Ich besuche dann
und wann die hiesigen öffentlichen Bibliotheken; ich mache zuweilen
Staats-Visiten, die mich ennuyiren; und dann endlich bleibe ich einmal
zu Hause, um recht viel oder gar nichts zu thun.
Der Abend ist dem Mittag vollkommen ähnlich. Ordentlicher Weise ist
mein Onkel bey uns, der der rechtschaffenste Mann, aber fast immer
kränklich und dann und wann ein wenig argwöhnisch ist. Leben Sie wohl.
Ich bin --
N. S.
Denken Sie einmal, liebste Freundin! gestern bekomme ich von Herrn
Weisen einen Brief, -- einen sehr gütigen, freundschaftlichen
Brief. Und dieses Vergnügen muß mir durch eine so traurige
Nachricht verbittert werden, als die von Meinhards Tode. Ja, dieser
rechtschaffene Mann, dieser große Gelehrte, dieser schöne und
empfindliche Geist, dieser mein Freund -- ist todt. ~Peace to his
gentle shade!~


Fünfter Brief.

B***, den 9. und 10. Juni.
Niemals ist ein Brief mit einem so schmerzhaften Verlangen erwartet
worden, als ich gestern den Ihrigen erwartete. Selbst in dem Schoße
meiner Familie, und an der Seite der vortrefflichsten Mutter, empfinde
ich dem ungeachtet, daß mir noch ein Freund und eine Freundin fehlt,
um diesem Glück seine Vollständigkeit zu geben. Ich fühle es, daß mir
Ihr Umgang nothwendig geworden ist; und ohne die Gütigkeit, mit welcher
Sie mir Ihren Briefwechsel versprachen, und ohne die Beständigkeit,
mit welcher Sie dieses Versprechen ausführen, würde ich meine
hiesigen Freunde mit dem beständigen Anblick einer gewissen Unruhe
beleidigt haben, die sie vielleicht auf die Rechnung eines Mangels von
Zärtlichkeit geschrieben hätten. Aber jetzt setzt mich Ihre Gütigkeit
in den Stand, zwey der angenehmsten Beschäftigungen mit einander zu
verbinden, die Unterhaltung mit meiner Mutter und das Andenken an Sie.
Meine Mutter kannte Sie schon als eine sehr gütige Freundin von ihrem
Sohne, ehe ich noch Leipzig verließ. Aber nun kennt sie Sie als eine
vortreffliche Frau, als eine zärtliche Freundin, mit einem Worte, als
eine Person von einem solchen Geiste und einem solchen Herzen, als die
Liebe und die Freundschaft nöthig hat, wenn sie beschlossen hat, einen
glücklichen Ehemann und einen kleinen Kreis glücklicher Freunde zu
machen.
Was meynen Sie wohl? Ich zeige meiner Mutter alle Ihre Briefe. Sie
liest sie beynahe mit eben dem Feuer, mit welchem ich sie lese. Bey
gewissen Stellen füllen sich ihre Augen mit Thränen der Zärtlichkeit
und der Freude. So stark wirken diese gleichgestimmten Herzen auf
einander, selbst in der weitesten Entfernung. Glauben Sie wohl, daß
ich es hätte aushalten können, ein ganzes halbes Jahr zuzubringen,
ohne Jemand zu haben, mit dem ich mich von Ihnen unterreden könnte,
und in dessen Schoß ich zuweilen mein volles Herz ausleerte, wenn
Ihre Gütigkeit und die Sehnsucht nach Ihrem Umgange dasselbe mit
zu unruhigen und stürmischen Wünschen anfüllte? Und könnte wohl
diese Person Jemand anders als meine Mutter seyn? Sie, die an den
kleinsten Vergnügen ihres Sohnes Theil nimmt, sollte sie nicht in der
Glückseligkeit, die ihm der Himmel geschenkt hat, eine Freundin und
einen Freund zu besitzen, einen Theil derjenigen wieder finden, die sie
durch den Tod einer Tochter, die zugleich Freundin war, verloren hat?
Ja, gütigste Freundin, schon theilt meine Mutter alle die Empfindungen
mit mir, die mir die Bekanntschaft mit einer so edlen und zugleich
zärtlichen Seele eingeflößt hat, und die ich, wenn es möglich ist,
durch die Abwesenheit noch gestärkt und vermehrt finde. Unsere
Unterredungen beleben sich am meisten, wenn sie Sie zum Gegenstand
haben; und ohne daß wir es gewahr werden, kommen sie durch die
wunderbarsten Irrgänge immer wieder auf diese Lieblingsmaterie zurück.
So viel Gewalt hat das Herz über unsere Denkungskraft, daß die
leichtesten und schwächsten Verbindungen schon genug sind, Ideen in
die Seele wieder zurück zu bringen, die durch ein starkes Interesse an
uns gebunden sind. Lassen Sie sich dieses von +Home+ viel besser und
gründlicher sagen. Ich mag nicht philosophiren, ich will Ihnen bloß
sagen, was ich empfinde. --
Aber gütigste Freundin, wie haben Sie es übers Herz bringen können,
mir mit einem so versteckten, aber für mich doch sehr fühlbaren
Vorwurf wehe zu thun? -- Oder trauten Sie es der Feinheit meines
Gefühls nicht zu, daß ich den kleinen Ansatz von Empfindlichkeit
gewahr werden würde, der Ihnen die Worte eingab: „Ich suchte in der
Folge Ihres Briefes Trost, aber ich fand keinen. Sie, der Sie mit mir
einerley Gefühl haben, Sie empfinden den Unterschied wohl, der zwischen
der Verstorbenen und mir ist!“ Und noch dazu eine so ceremoniöse
Vorsichtigkeit, Ihren Namen nicht zuerst zu schreiben! Ein kleiner,
ganz kleiner Rest von Weiblichkeit! würde Onkel Selby sagen. Wie?
glauben Sie wohl, daß ich meine Cousine liebte, und die Eigenschaften
nicht von ganzem Herzen hochschätzte, die sie liebenswürdig machten?
daß ich ihren Verlust beweinen, und mich nicht zugleich über den Besitz
von Freunden erfreuen sollte, in denen ich ihren Geist und ihr Herz
wieder finde? Oder können Sie so ungerecht gegen sich selbst seyn,
diese größten Geschenke des Himmels in sich zu verkennen, und sich
unter Ihren eigenen Werth herabzusetzen? Liebste, gütigste Freundin,
lassen Sie sich niemals durch einen gewissen Unmuth die Erhabenheit der
Seele schwächen, die ohne Stolz, dennoch ihre eigene Vollkommenheit
fühlt, und indem sie die Stufe erkennt, auf welche die Güte des
Schöpfers sie gesetzt hat, dadurch nur noch mehr Muth bekommt, höhere
zu erreichen. --
Aber lieber will ich glauben, daß Sie nur darum diese Stelle in Ihren
Brief gesetzt haben, um mir die Gelegenheit, die ich so sehr wünsche,
zu geben, es Ihnen noch einmal zu sagen, wie hoch ich meine Freundin
schätze, und wie theuer sie meinem Herzen ist. Ich kann dieses, zu
meinem eigenen Vergnügen nicht oft genug wiederholen. Denn welche
Glückseligkeit ist der gleich, seinem Freunde zu sagen, daß man ihn
liebt, wenn es nicht die Glückseligkeit ist, zu hören, daß man von ihm
geliebt wird? Wenn ich also von meiner Cousine rede, so glauben Sie
nur, daß keine Ideen verwandter sind und einander leichter erwecken,
als der Gedanke an ein Gut, das man verloren, und der an ein anderes,
das uns der Himmel noch läßt; und daß der Abgang von so theueren
Freunden das Herz nur noch zärtlicher gegen diejenigen macht, die uns
noch übrig sind.
Ich glaube, ich habe Ihnen schon in Leipzig gesagt, daß ein Freund von
mir und von unserm Hause, ein junger angehender Dichter, der jetzt
in Halle studirt, ein Gedicht auf meine Muhme gemacht hat. Ich habe
es hier erst zu sehen bekommen. Weil viel gute Stellen darin sind,
obgleich manche gegen die übrigen matt, andere in der Verbindung,
in der sie stehen, nicht richtig und zusammen hängend genug, und
noch andere zu überhäuft und nur durch die Rechte der Poesie zu
entschuldigen sind, so will ich es Ihnen abschreiben. Aber schöner,
als das ganze Gedicht, ist meinem Urtheile nach ein Motto aus dem
Petrarch, welches er demselben vorgesetzt hat. Wo ich nicht irre, so
ist es eine der schönsten Stellen im ganzen Petrarch. Es ist aber zur
Anwendung auf die Person, die der Gegenstand dieses Gedichts ist,
nicht schicklich und angemessen genug, und überhaupt kann es nur im
Munde eines Liebhabers und eines solchen Liebhabers als Petrarch,
sein rechtes Verhältniß bekommen. Ich will es wagen, die Stelle zu
übersetzen, ob ich Sie gleich zu eben der Zeit bedauren werde, daß Sie
nicht das Original lesen können.
„Wer alles sehen will, was nur die Natur und der Himmel unter den
Menschen vermag, der komme, diese zu sehen. Aber er komme bald.
Denn der Tod raubt zuerst die besten, und läßt die schlechtern
stehen. Dieses in dem Reiche der Götter schon lang erwartete schöne
und sterbliche Geschöpf geht nur vorüber, und bleibt nicht. Wenn er
noch zu rechter Zeit kommt, so wird er jede Tugend, jede Schönheit,
jede erhabene Eigenschaft in einem Körper mit wunderbarer Mischung
vereinigt sehen. Aber wenn er zu lange zaudert, so wird er nur
kommen, um beständig zu weinen“[A].
Ist diese Apostrophe nicht das rührendste Gemählde eines von Schmerz
ganz durchdrungenen Herzens? Aber nun zum Gedicht selbst. Sie sollen
nur die besten Strophen davon bekommen.
Also blühte rühmlich Doris Leben --
Rühmlich mußte sie es wieder geben;
Und das grosse Beyspiel im Erblassen
Noch der Erde zum Vermächtniß lassen;
Da ihr lieblich Auge brechen sollte,
Stürmend Feuer durch die Adern rollte,
Freunde sprachlos matte Hände rangen,
Und die Engel froh die Flügel schwangen,
Schaute sie des Todes letzten Schlägen
Voll Geduld und Majestät entgegen,
Ruhig, da die Trennung jetzt begonnte,
Weil sie nur die Hülle wechseln konnte.
Keusche Jungfraun, eilt ihr Grab zu ehren.
Pflanzt Zypressen, oft benetzt mit Zähren,
Und gelobet auf dem Staub der Schönen
Euren Wandel einst wie sie zu krönen.
Aus den Zweigen soll ein Hayn entsprießen,
Junge, leicht verführte Töchter müssen
Ihn besuchen, die Geschichte hören,
Und erröthend sittsam wiederkehren.
Jährlich sollen freundschaftliche Reyhen,
Wo sie schlummert, zarte Lilien streuen,
Und das Opfer mit gedämpften Saiten
Und wehmüthigem Gesang begleiten.
Nie, Geliebte, nie wirst du vergessen!
Deinen Nachruhm wird kein Ruhm ermessen.
Laß noch Einen für die Tugend brennen,
So wird er auch dich mit Ehrfurcht nennen.
Und sollt’ einst auf der undankbar’n Erden
Sie verkannt, gehaßt von allen werden;
Darf sie nur, um alle zu entzücken,
Sich mit deinem süßen Reitze schmücken.
Dürfte ich wohl so eigennützig seyn, und mit diesem kleinen Geschenke
wuchern? Meine Freunde kennen Sie noch nicht als eine eben so
empfindungsvolle Dichterin, als Sie eine gefühlvolle Ehegattin und
Freundin sind. Einige von den kleinen Stücken, die Sie mir einmal
vorlasen, und unter diesen auch das Hochzeit-Gedicht, das Sie für
einen Ihrer Bekannten gemacht haben, würden mich in den Stand
setzen, dieses Vergnügen meiner Mutter zu machen. Ich würde sogar
durch die Mittheilung derselben ein gewisses Ansehen bekommen. Ich
würde Macht haben, Gefälligkeiten auszutheilen; und ich würde gewiß
meine Geheimnisse nicht so wohlfeil verkaufen. Sie sehen schon, daß
ich unbescheiden genug bin, auch wohl gar eine kleine Mühe Ihnen
aufzulegen. --
Wenn ich nur dafür im Stande wäre, Ihr Tagebuch, das mich so sehr
unterhält und mich auf einige Augenblicke wieder zu Ihnen zurück
bringt, mit einem eben so angenehmen zu vergelten. -- Aber meine
Geschichte (ich nehme die Unterhaltung mit meiner Mutter aus, und
die wissen Sie schon größten Theils) ist so einförmig, oft für den
Helden derselben so langweilig, und fast immer für die Leser so wenig
unterrichtend, daß ich alle Mal abgeschreckt werde, so oft ich daran
denke, meine Briefe mit meinen Begebenheiten, anstatt mit meinen
Empfindungen anzufüllen. Sie sollen unterdessen alle meine Freunde,
die ich hier hochschätze, kennen lernen. So bald nur der Cirkel von
Besuchen, in dem ich mich jetzt herumgedreht habe, durch seyn wird,
so werde ich es mir zu einer fest gesetzten Beschäftigung machen, Sie
ganz in unsere Familie und in unsere Bekanntschaften einzuführen, und
mich auch zuweilen für die Langeweile, die mir einige davon machen, zu
rächen.
Meine Reise ist, wie Sie wissen, glücklich, aber dem ungeachtet
ziemlich unangenehm gewesen. Meine Gesellschafter waren entweder
Misanthropen oder Schläfer. Ich dankte unterdessen beyden für die
Muse, die sie mir gaben, an meine Freunde zu denken. Oft in der Mitte
der Nacht, wenn alles um mich schlief, schweifte meine durch die
Stille noch mehr aufgeweckte Seele zu allen Wohnungen meiner Freunde
umher, und segnete ihren sanften und ruhigen Schlaf. Bald flog ich
unsern langsam kriechenden Pferden zuvor, warf mich in Gedanken zu den
Füßen des Bettes meiner Mutter, küßte sanft ihre Hand um sie nicht zu
wecken, und flehte den Beystand der sie bewachenden Engel an, sie mir
zu beschützen. Bald überraschte ich Sie, weit glücklicher als mein
Freund Reiz, in Ihrem Schlafzimmer, und gebot Ihrem Schutzgeist, Ihnen
mitten im Schlafe die angenehmsten, fröhlichsten und schönsten Bilder
vorzustellen, und Ihre Seele, selbst ohne ihr Wissen, noch vollkommener
zu machen. -- Alsdann -- Ich freue mich, theuerste Freundin, daß unsere
Freundschaft von der Beschaffenheit ist, daß meine Seele von dem
Andenken an Sie, unmittelbar zu dem Gedanken an Gott, unsern großen und
gemeinschaftlichen Freund, übergehen kann, zu dessen Verehrung solche
Seelen, wie die Ihrige, geschaffen worden. Meine Seele steigt durch
diese Stufen auf eine leichtere Art bis zu ihm hinauf.
Aber ich muß, ich muß schließen u. s. w.

Fußnote:
[A] Für Freunde des Originals folgt hier das ganze Sonnet:
~Chi vuol veder quantunque può natura,
E’l Ciel tra noi, venga a mirar costei,
Ch’è sola un Sol, non pur agli occhi miei,
Ma al mondo cieco, che virtù non cura;~
~E venga tosto, perchè morte fura
Prima i migliori, e lascia stare i rei;
Questa aspettata regno degli Dei
Cosa bella mortal passa, e non dura.~
~Vedrà s’arriva a tempo, ogni virtute,
Ogni bellezza, ogni real costume
Giunti in un corpo con mirabil tempre.
Allor dirà, che mie rime son mute.
L’ingegno offeso dal soverchio lume;
Ma se più tarda, avrà da pianger sempre.~


Sechster Brief.

B***, den -- Juli.
1767.
Wissen Sie auch wohl, daß ich Ihre Frage, ob wir noch einerley
Empfindungen mit einander hätten, für einen Vorwurf würde angesehen,
und daß mich dieser Vorwurf würde gekränkt haben, wenn ich nicht selbst
in den Beyspielen, die Sie dafür anführen, eine nette Bestätigung
dieser Gleichheit Ihrer Gesinnungen mit den meinigen, auf die ich so
stolz bin, gefunden hätte. Ich kann mir also unmöglich helfen. Ich muß
erst diese beyden Punkte erörtern, ehe ich ein Wort weiter schreiben
kann, gesetzt auch, daß Ihnen indeß der Brief vor Langerweile aus der
Hand fallen sollte.
Zuerst also meine Unzufriedenheit bey meiner Ankunft in B****. Sollte
ich Ihnen erst nöthig haben, die Quellen davon zu entdecken? Sie
sagen, ich hatte Freunde verlassen, die mich liebten, und ich kam zu
andern, die ich auch liebte. Haben Sie niemals diese angenehme Mischung
von Schmerz und Vergnügen, von Verlangen und von Befriedigung, von
Sehnsucht nach abwesenden Gütern, und von Genuß der gegenwärtigen
empfunden? Haben sich niemals mit den Thränen, die Sie über den Anblick
neuer Freunde vergossen, diejenigen vermischt, die Ihnen das Andenken
an die, von denen Sie sich losgerissen hatten, ablockte? Sie, die Sie
die menschliche Seele so gut kennen, da Sie Ihre eigene mit so vieler
Sorgfalt studirt haben, wissen Sie nicht, wie geschickt eine gewisse
Art von Freude ist, die traurigen Empfindungen, die eine Zeit lang in
der Seele geschlafen haben, wieder zu erwecken, und mit ihnen vermischt
einen gewissen Zustand der Ermattung hervorzubringen, wo die Seele, zu
denken und zu handeln unfähig, unter der Menge von dunkeln Ideen, die
sich in ihr zusammen drängen, erliegt. So empfand meine gute Mutter den
Verlust ihrer Tochter niemals mehr, als da sie ihren Sohn wieder sah,
und ich fühlte in den ersten Umarmungen meiner Mutter am meisten, wie
viel ich an Freunden verloren hatte, die in diesem Augenblicke mit mir
die Glückseligkeit einer wieder vereinigten Familie würden getheilt
haben.
Dieses waren die Regungen der ersten Augenblicke. Ihnen folgten andere
eben so traurige, aber weniger angenehme. Glauben Sie ja nicht, daß
die guten Leute immer glücklich sind. Wenn sie es wären, so bin ich
stolz genug zu sagen: unser Haus würde mehr als einen Glücklichen
einschließen. Aber wie weit, wie weit ist es davon entfernt, daß dieses
ganz wahr seyn sollte? Meine Mutter, durch die natürliche Zärtlichkeit
ihres Körpers, und durch die große Empfindlichkeit ihrer Seele, einer
Menge von Uebeln bloß gestellt, mit denen die Natur härtere und
fühllosere Menschen verschont hat; durch eine beynahe fortgehende Reihe
von Unglücksfällen in einer beständigen Uebung dieser Empfindlichkeit
unterhalten; durch eine sehr schwere und sorgenvolle Nahrung, die
sie seit dem Tode ihres Mannes ohne Gehülfen und Rathgeber besorgt,
abgemattet und entkräftet, von Krankheit und der Annäherung des Alters
bis zu dem äußersten Grade der Zärtlichkeit in ihren Nerven gebracht;
und in diesem Zeitpunkte ihrer besten Stütze beraubt, und fast mitten
unter ihrer Familie einsam und verlassen, -- sagen Sie mir, geliebte
Freundin, was würden Sie in meinen Umständen fühlen, wenn Sie, so wie
ich, sich außer Stande sähen, dieser Mutter zu helfen; wenn Sie ihr
sogar in der Zukunft keine Aussicht, wenigstens keine nahe Aussicht
anweisen könnten, durch die Sie ihre gegenwärtigen Umstände erträglich
machten? Sagen Sie mir, liebe Freundin, wo ist die Stelle, die für
mich zubereitet ist, und von der ich hoffen könnte, meiner Mutter die
ihrem gütigen Herzen so theuere Glückseligkeit zu verschaffen, in der
Gesellschaft ihres Sohnes ihre letzten Tage in Ruhe und Zufriedenheit
zuzubringen? Ich selbst in die Welt nur noch so hingeworfen, in die
Welt, die, dem Himmel sey es gedankt, nicht ganz leer von Freunden
für mich, aber vielleicht leer von Beförderern und dem, was man
darin Patronen nennt, ist; ich selbst noch von einem Orte zum andern
herumirrend, zwar nicht ganz ohne Endzweck, aber doch noch ohne große
Mittel, diesen Endzweck auszuführen; was kann ich für meine Mutter
thun, da ich für mich selbst nichts zu thun vermag?
Glauben Sie wohl, daß es mir unter diesen Umständen leicht wird, daran
zu denken, daß ich meine Mutter verlassen soll; sie so verlassen, ohne
ihr vorher zu sagen, nach was für einem Plane ich arbeiten werde, um
ihre Glückseligkeit mit der Erreichung meiner Wünsche zu vereinigen?
Und doch kann ich nicht anders; ich muß sie verlassen. Alles, sie
selbst ausgenommen, macht, daß ich diesen Augenblick beynahe wünsche.
Die Beförderung, die mir meine Vaterstadt darbieten kann, ist, wie Sie
wissen, nur von einer einzigen Art. Glauben Sie nicht, daß mich der
Name und die gewöhnliche Verachtung eines Schulmannes abhalten würde,
in einen Stand zu treten, der, wenn er recht verwaltet wird, ehrwürdig
ist, und den die Vortheile und die Erleichterung, die ich meiner Mutter
dadurch verschaffe, mir auch sogar liebenswürdig machen würden. Aber
die Verrichtungen, die hier zuerst denen auferlegt sind, die in diesen
Stand treten, die Unwissenheit, und noch mehr der elende Geschmack,
der unter den meisten der hiesigen Schullehrer herrscht, und durch
sie ohne Zweifel die Studirenden ansteckt; der durchgängige Mangel an
guter Lebensart bey dieser ganzen Zunft Leuten, unter denen ich doch
genöthigt würde zu leben; der Mangel an Ermunterung und Hülfsmitteln
zur Vermehrung der Wissenschaften, die ich mehr schätze als alles;
endlich, was darf ich es erst sagen, die Entfernung von Freunden, die
mir theuer sind, um so viel theurer, weil ich sie nicht bloß der Natur
und Familienverbindungen zu danken habe; -- alles dieses, und was weiß
ich noch, was für hundert dunkel damit vermischte Vorstellungen mehr,
machen mir es ganz unmöglich, daran zu denken.
Nun gut also. Ich gehe von B****. Aber wohin? Nach L***zig? Ja
freilich ist dieß der Ort, der mich unter allen am meisten an sich
zieht. Aber was hälfe es, wenn ich vor mir selbst es verbärge. Es
ist nicht Hoffnung der Beförderung, sondern das Vergnügen, meine
Freunde wieder zu sehen, welches mir diese Stadt vor allen andern so
angenehm macht. Sie wissen selbst, und wenn Sie es nicht wissen, so
lassen Sie sich es den braven und rechtschaffenen Ebert sagen, was für
Geduld und Aufopferungen dazu gehören, sein Glück bey der Leipziger
Akademie zu erwarten. Und während der Zeit, daß ich diese vielleicht
fehl schlagende Probe machte, würde meine arme Mutter von Alter und
Sorgen verzehrt, von ihren noch übrigen Freunden vollends entblößt,
und stürbe, ehe sie die so lange gehoffte und so theuer errungene Ruhe
ihres Alters gekostet hätte. Lassen Sie mich also auf eine andere
Universität gehen, wo die Beförderung leichter und geschwinder ist.
Setzen Sie den besten möglichen Fall. Machen Sie mich in einigen Jahren
zum Professor in Halle, oder in irgend einem andern solchen Winkel der
Erde. Jetzt soll ich meine Mutter in ihrem Alter aus ihrem natürlichen
Boden in ein ganz fremdes Land verpflanzen, sie aus einer belebten und
volkreichen Stadt in einen todten und finstern Flecken führen, sie aus
dem Cirkel ihrer Freunde und ihrer Bekanntschaften, die sie von langer
Zeit her kennen, die sie alle hochschätzen, unter ganz fremde und für
sie noch gar nicht eingenommene Menschen bringen, -- oder mir mit einem
so groben Stolze schmeicheln, daß ich allein aller deren Stelle würde
ersetzen können. -- Ist dieses vielleicht nicht ein eben so schwerer
und trauriger Schritt für beyde? -- Und doch bey dem allen, was bleibt
mir übrig?
Sie sehen, liebe Freundin, wenn Sie diese Ueberlegungen machen, Sie
werden meine Unruhe nicht schelten, so gütig Sie mich auch von Ihrer
Gewogenheit versichert haben, und so gewiß ich von der Liebe der
Meinigen bin. -- Aber das ist noch lange nicht alles. Ich behalte mir
dieß auf einen andern Brief vor. Ich kann nicht anders; ich muß Sie mit
meinen eigenen Angelegenheiten unterhalten. Der Wohlstand würde dieß
bey Personen, die weniger meine Freunde wären, verbieten. Aber es ist
gar zu eine große und eine zu unentbehrliche Glückseligkeit, zuweilen
sein volles Herz in den Schoß eines Freundes ausschütten zu können.
Ich habe Ihnen schon oft gesagt, Sie und Ihr liebster Gemahl machen
in meiner Einbildungskraft nur Eine Person aus. Sie sind in meinen
Gedanken eben so unzertrennlich, als Sie es durch Ihre Liebe sind.
Alles also, was ich Ihnen schreibe, ist zugleich für ihn geschrieben.
Sein kurzer Brief ist mir dem ungeachtet so angenehm gewesen, als der
längste Brief hundert anderer mir nicht seyn würde.....
Ich sehe, ich stehe in Gefahr, meinen Brief eben so lang und so voll
von Digressionen zu machen, als es des Tristram Shandy Roman ist. Also
nur noch ein Wort von Klopstock und seinen Briefen, und dann nehme
ich bis auf künftigen Freytag von Ihnen Abschied. (Können Sie wohl
errathen, was ich da erwarte?) --
Ich wundere mich gar nicht darüber, daß Ihnen des Mannes, und mir der
Frau ihre Briefe zärtlicher vorkommen. Das macht, würde Onkel Tobias
sagen, Sie sind eine Frau, und ich ein junger Mensch. Ich habe des
Klopstocks Briefe flüchtig gelesen, der Frau ihre recht aufmerksam. Sie
haben vielleicht das Gegentheil gethan. Mit einem gleichen Grade der
Aufmerksamkeit würden wir bey beyden vielleicht gleich viel empfunden
haben. Ich wenigstens, durch die Verschiedenheit Ihres Gefühls
aufmerksam gemacht, habe sie noch einmal gelesen, und schon habe ich
des Klopstock Briefe viel zärtlicher gefunden. Aber, daß es ihre
weniger sind, das wollte ich doch noch nicht gerne für wahr halten.
Wie gern fieng’ ich noch die eilfte Seite an, um Stellen zu meiner
Vertheidigung anzuführen! Aber es hilft nichts. Es ist jetzt ein Uhr,
Dienstags in der Nacht. Möchten doch die gütigen Engel Ihre und Ihres
Geliebten Ruhe beschirmen u. s. w.


Siebenter Brief.

B***, den -- Juli
1767.
Wahrheiten, die uns sehr am Herzen liegen, können niemals zu oft
bewiesen werden. So ein sophistisches Ding ist dieses Herz, daß es sich
der Ueberzeugung von eben der Sache am meisten widersetzt, von der es
am meisten gewiß zu seyn wünscht. Ich, zum Beyspiel, bedarf keiner
neuen Proben mehr, um zu wissen, daß Sie meine Freundin sind. Und doch,
mit welchem Vergnügen habe ich diejenigen aufgenommen, die Sie mir
in Ihren letzten Briefen gegeben haben, gerade so, als wenn dieß die
ersten gewesen wären. Sie wissen, wie schwer sich Empfindungen durch
Beschreibungen deutlich machen lassen. Man kann nichts weiter thun,
als diejenigen, welche ähnliche gehabt haben, an ihr eigenes Gefühl
erinnern.
So stellen Sie sich also Ihren lieben Mann, meinen Freund, an dem
Abende eines sehr geschäftigen Tages vor. Er tritt zuerst mit einer
etwas tiefsinnigen und zerstreuten Miene in ihr Zimmer. Seine von
fremden Bildern ganz angefüllte Seele empfängt schon die geheimen
Einflüsse Ihrer Gegenwart, ohne sie noch zu fühlen; selbst die ersten
Liebkosungen verschwenden Sie an den Undankbaren vergeblich. Endlich
thut Ihr Anblick und Ihre Zärtlichkeit ihre gehörige Wirkung; und jetzt
schweben nur noch die Sorgen der Geschäfte auf der Oberfläche der
Seele, wie die Nebel an einem heitern Frühlingsmorgen auf dem Gipfel
der äußersten Berge. So gewinnt der Ehemann einen Schritt nach dem
andern über den Geschäftsmann -- bis er zuletzt nur ganz allein übrig
bleibt. Was Ihnen in diesem Augenblicke ein stillschweigender Kuß ist,
den er Ihnen aus vollem Herzen giebt, ein Druck seiner Hand, bey dem er
sie zugleich seine Wilhelmine nennt, sehen Sie, das waren für mich Ihre
Briefe. Versicherungen von Sachen, die wir lange wissen, die wir aber
gern vergessen, an denen wir sogar zweifeln, aus bloßem Muthwillen, um
sie uns noch einmal versichern zu lassen!
Ich glaube, Sie müssen es schon bemerkt haben, daß es eins von meinen
Steckenpferden ist, (hieraus können Sie schließen, daß ich den
Tristram Shandy lese) über alles, was in und mich herum vorgeht, zu
philosophiren, jede Begebenheit, wenn sie auch die natürlichste und
gewöhnlichste von der Welt ist, zu erklären und aus Gründen zu zeigen,
wie sie möglich gewesen ist. Wenn ich mich nicht irre, so war ich eben
im Begriffe, einen guten Ritt darauf zu thun. Denn, anstatt Ihnen mit
drey Worten zu sagen, liebe Freundin, Ihre Briefe waren mir herzlich
lieb, und dann gleich zur Beantwortung ihres Inhalts fortzugehen;
verwende ich eine und eine halbe Seite, um es zu beweisen, daß es
möglich gewesen ist, daß ich mich über Ihre Briefe habe freuen können.
Und doch, welcher Beweis wäre stärker gewesen, als die Aufmerksamkeit,
mit welcher ich alle Ihre gütigen Vorschläge erwogen habe.
Nach dem Wunsche, bey Ihnen zu seyn, ist keiner stärker als der, daß
Sie es zuweilen wünschen möchten, daß ich bey Ihnen wäre. Denken
Sie also, was es seyn muß, wenn Sie noch mehr thun, und nicht bloß
wünschen, sondern schon Anstalten machen, mich bey sich zu behalten.
Wenn es mir jemals schwer angekommen ist, Schwierigkeiten gegen den
Rath meiner Freunde zu machen, so ist es gegen einen solchen, der
die größten Wünsche meines Herzens vereiniget. Der Entwurf, den Sie
mir machen, der freylich der natürlichste und ohne Zweifel auch der
sicherste ist, ist dem ungeachtet viel zu weit aussehend, als daß
ich damit meine Mutter beruhigen könnte, die bey Ihrem Alter und
bey Ihrer Schwäche eine Glückseligkeit, auf die sie so viele Jahre
warten muß, für gar keine hält. Und wie kann sie hoffen, diesen
Zeitpunkt zu erleben, wenn die Zeit, die dazwischen ist, mit Sorgen
und Mißvergnügen angefüllt seyn sollte. Gesetzt aber, ich hätte das
Ziel erreicht, und meine Mutter wäre noch im Stande, eine so große
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